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Danzig und die rätselhafte frühmittelalterliche Chronologielücke des Weichseldeltas

von Gunnar Heinsohn (aus Zeitensprünge 3/2001)

I. Welthistorische Bedeutung der Weichselmündung

Was die Schelde- und später die Rheinmündung für den Überseeverkehr Westeuropas war und ungebrochen ist, das war – ohne es heute noch zu sein – die Weichselmündung für Osteuropa. Um 1650 ist der Weichselmündungshafen Danzig mit ca. 77.000 Menschen (Schätzungen reichen bis 100.000) – vor Wien, Augsburg, Köln und Hamburg – die volkreichste Stadt mit einer deutschen Einwohnerschaft. So ist es kein Zufall, dass St. Marien – eine der dreizehn gotischen Kirchen Danzigs – im 15. Jh. zur weltweit größten Hallenkathedrale aus Backstein ausgebaut wird (105,5 m lang und im Querschiff 60 m breit). In ihr finden 25.000 Personen Platz.

Die Weichselmetropole gelangt zu dieser Vorrangstellung als Haupthafen des polnisch-litauischen Imperiums, dem die Hansestadt von 1454 bis 1772/93 aus eigenem Willen politisch angehört und für das es bis zu 80 Prozent des Außenhandels abwickelt. Ihre Glanzzeit beginnt im Jahre 1453 mit dem Fall Konstantinopels an die Türken. Er führt zur Sperrung des Bosporus und bringt einen Bedeutungsverlust der Schwarzmeerhäfen. Getreide aus den südöstlichen Kornkammern Europas wird nun noch mehr als zuvor weichselabwärts transportiert und muss qua Stapelprivileg (ius emporium) vor dem Export nach Skandinavien, England und die Niederlande durch die Danziger Speicher. Mit einem maximalen Umschlag von 116.000 Last (über 230.000 Tonnen) im Jahre 1618 wird die Stadt zum wichtigsten europäischen Umschlagsplatz für Brotgetreide. Sie blüht dabei so mächtig auf, dass sie den Polenkönig Stephan Batory (1575-1586), der ihre Privilegien einschränken will, in einem wechselvollen Krieg (April bis Dezember 1577) zur Einhaltung des status quo zwingen kann. Zwischen 1626 und 1629 wird selbst Nordeuropas gefürchtetster Herrscher, Gustav Adolf II. von Schweden (1611-1632), nicht minder erfolgreich abgewehrt.

Danzig
Die Weichselmündung zur Mitte des 16. Jhs. mit den zu Polen gehörenden deutschsprachigen Hansestädten Thorn, Elbing und Danzig [aus Sebastian Münster, Cosmographia Universalis, Basel 1544; nach Siegler 1991, 98 f.]

Mit Elbing und – in Grenzen auch noch – Thorn leistet Danzig im 16. Jh. für den Osten, was Antwerpen (mit 125.000 Einwohnern um 1550), Brügge und Gent (zur Zeit Karls V. mit womöglich 170.000 Einwohnern neben Paris Europas größte Stadt) im Westen erbringen. Nach dem Massenmord – „Spaanse Furie“ – an 7.000 Bürgern Antwerpens unter Herzog Alba im Jahre 1576 und der anschließenden Emigration der aktivsten Kräfte Flanderns in die nördlichen Niederlande sinkt der Scheldehafen bis auf 37.000 Einwohner im Jahre 1790 ab. Gent und Brügge (der größte Hafen des Mittelalters) verwundern übrigens dadurch, dass sie bereits im 7. Jh. erwähnt werden, aber erst ab dem späten 10. Jh. mit ihrer urbanen Blüte beginnen.

Im 17. Jh. wird das protestantische Amsterdam (105.000 Einwohner um 1680) sehr viel reicher als Danzig. Gleichwohl bleibt der Weichselhafen die privilegierteste und zugleich steuerstärkste Stadt des sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckenden Großreiches: „Diamant in der [polnischen] Krone“ und „Venedig des Nordens“, heißt sie bei den Zeitgenossen. Schon im 18. Jh. jedoch rutscht Danzig – mit nur noch 46.000 Einwohnern gegen 1750 – international in die Zweitrangigkeit ab. Russisches und nordamerikanisches Getreide verdrängt das polnische von den westlichen Märkten. Ab Mai 1793 ist Danzig nur noch eine von vielen Hafenstädten des preußischen Königreiches, dessen Truppen eine mehrmonatige Belagerung zum Erfolge führen können.

II. Archäologie der Weichselmündung

Der deutsche Forschungsstand bis 1945

Es sind aber nicht so sehr landwirtschaftliche Produkte, sondern ganz eindeutig Erzeugnisse der Bernsteingewinnung, die seit dem Altertum von Fernhändlern aus dem Gebiet der Weichselmündung geholt werden und dabei bis nach Griechenland und – später – auch nach Rom gelangen. Auch heute ist das polnische Gdansk der weltweit wichtigste Produzent von Bernsteinschmuck. Nicht zuletzt aus diesem Grunde lassen sich lange vor dem Aufstieg der slawischen Stadt Gyddanyzc [dazu Heinsohn 2001] gegen 960 – und ihrer endgültigen Eroberung durch den Deutschen Ritterorden im Jahre 1308 – für das Danziger Gebiet archäologische Funde nachweisen. Bereits seit der Jüngeren Bronzezeit, die für diese Region auf -1000 angesetzt wird, hat die Weichsel als Verbindung von der Ostsee über Krakau nach Ungarn gedient. Es ist dieselbe Route, die ab dem 13. Jh. als via regia bezeichnet wird. Zusätzlich verläuft über Land von Danzig über Schlesien (Glatz), Linz und Hallstatt ein etruskischer Handelsweg, dessen nördlicher Teil im 12. Jh. via mercatorum heißt. Auch die Landroute von Stettin an der pommerschen Küste über Stolp und Köslin bis hinauf nach Ostpreußen kreuzt die Weichselmündung bei Danzig.

Danzig
Die Weichselmündung mit wichtigen, noch in deutscher Zeit untersuchten Ausgrabungsplätzen [Geisler 1918, 15]

Zwei chronologische Rätsel gibt die archäologische Sequenz der Weichselmündung auf, für die eine Lösung auch nach viele Jahrzehnte währenden Debatten nicht gefunden werden konnte:

(i) Das erste Rätsel resultiert aus der herrschenden Datierung der frühmykenischen Schachtgräber in die Zeit von -1580 bis -1480. In diesen Grablegen ist Bernstein gefunden worden, dessen Herkunft in die Weichselmündung verlegt wird. Dortselbst jedoch beginnt die allerfrüheste Besiedlung mit steinzeitlichen Pfahlbauten erst gegen -1130. Überdies ist für diese frühe Zeit ein Bernsteinexport archäologisch noch nicht belegbar. Erst seit der Hallstattzeit Danzigs (ab -7. Jh.) liegen Funde vor, die auf Fernverbindungen verweisen. Die stratigraphisch und technologisch begründete Annahme, dass die frühmykenischen Schachtgräber nicht in das -16./-15. Jh., sondern in das -8./7. Jh. gehören [Heinsohn/Illig 1999, 244 ff., 350 ff.], erfährt durch den archäologischen Befund aus der Weichselmündung also eine weitere Bestätigung. Das Problem einer anscheinend viel zu späten Entwicklung der Bernsteinverarbeitung in der Weichselmündung hat eine berühmte Parallele in der angeblich viel zu späten Entwicklung der Kobaltgewinnung im erzgebirgischen Schneeberg Auch dort gibt es erst nach -1000 eine Siedlungsgeschichte, aber das Kobalt der Gegend wird angeblich bereits im -3. Jtsd. in Mesopotamien und dann im -2. Jtsd. auch in den frühmykenischen Gräbern sowie in Ägypten verwendet. All diese Mysterien ließen sich durch die stratigraphisch begründete Herunterdatierung der entsprechenden Kulturstufen aufklären [ebd., 276 ff.].

(ii) Nicht weniger verblüffend als die fehlende Synchronisierung zwischen der Bernsteinherkunft (-1. Jtsd.) und der Bernsteinankunft (bereits -2. Jtsd.) verblüffen zwei je etwa 150 Jahre währende Siedlungslücken im frühen Mittelalter des Weichseldeltas:

„So ist für fast ganz Westpreußen eine lange Zeit ohne Spuren des Daseins seiner Bewohner verlaufen, und auch für St. Albrecht [Vorort Danzigs] ist für die Zeit von der letzen oströmischen Münze (610-641) bis zur ersten kufischen (zirka 800) nichts auf uns gekommen, was von der Bevölkerung jener Zeiten spräche. Selbst die Latrinen fehlen. Etwas weiter zurück [750] reichen in Oliva gefundene kufische Münzen, noch etwas weiter, bis 724, solche, die etwa 30 km östlich von Danzig bei Steegen auf der Binnennehrung bereits 1722 aus dem Meeressande ausgegraben wurden“ [Simson 1913, I, 9].

Die kufischen Münzen können über die mysteriöse Lücke von gut 150 bis 200 Jahren kaum hinwegtrösten, da sie ohne jeden Siedlungs-, Gräber- oder auch nur Latrinenkontext bleiben. Es gibt keinerlei Spuren von denen, die diese Münzen zwischen 724 und 800 gebracht oder von denen, die sie angenommen haben könnten. Es ist nämlich „sehr fraglich, ob es eine solche [Danziger Siedlung] vor der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gegeben hat“ [Simson I, 10].
Noch erstaunlicher wirkt, dass kufische Münzen nach einer zweiten Lücke von weiteren eineinhalb Jahrhunderten (800 bis 960 oder später) noch einmal auftauchen. Diese nach 960 datierten kufischen Münzen haben nun nicht nur einen Siedlungskontext, sondern sie liegen auch mit ottonischen, englischen, böhmischen, ungarischen, flandrischen, norwegischen und dänischen Münzen zusammen. Deren Datierung erfolgt unabhängig von den Volatilitäten der islamischen Münzchronologie [Simson I, 15]. Beispielsweise gibt es eine Münze der angelsächsischen Königs Ethelred (978-1016). Während also sämtliche Münzen aus den Danzig näher benachbarten Gebieten frühestens in das 10. Jh. datiert werden können, sollen allein die fernen kufischen aus früherer Zeit stammen. Persische Münzen hingegen gibt es erst ab dem 11. Jh. (als Gesamtüberblick zum Münzbefund vgl. Zbierski [1978, 208]). Aufschlussreich sind auch die oströmischen Funde. Sie hören mit byzantinischen Münzen im frühen 7. Jh. auf und setzen nach einer Lücke von über drei Jahrhunderten mit byzantinischem Seidenbrokat [Zbierski 1978, 208] im frühen 11. Jh. wieder ein.

Es ist übrigens auch erst die Zeit nach 960, für die es arabische Berichte über Danzig gibt, so dass auch von daher ein Fragezeichen hinter die drei monetären chronologischen Ausreißer gesetzt werden muss. Ibrahim ibn Jakub, ein spanisch-jüdischer Reisender, kommt im Jahre 973 an den Hof Ottos des Großen (936-73). Er liefert eine arabischsprachige Beschreibung über die slawischen Gebiete einschließlich derjenigen der Weichselgegend. Für diese erwähnt er eine wohlgestaltete Stadt am Meere ohne König: „Die Lage der Stadt passt in jeder Hinsicht trefflich für Danzig“ [Simson 1913, I, 11]. Wir werden auf den archäologischen Befund für diese früheste urbs im nächsten (III.) Kapitel zurückkommen.

Im Jahre 997 schließlich erfolgt der Danzigbesuch des – aus Gnesen kommenden – Prager Missionsbischofs Adalbert (der „Heilige Aldalbert“), der anschließend bei der vergeblichen Pruzzenbekehrung umkommt. Die lateinische Lebensbeschreibung Adalberts durch den römischen Abt Canaparius nennt die „urbem Gyddanycz“ [Simson 1918, III, 1] als letzten sicheren Ort des frommen Mannes.

Die Unruhe über die fehlenden gut dreihundert Jahre zwischen dem 7. und 10. Jh. haben die deutschen Danzigforscher selbstredend immer verspürt. Ein letzter Versuch, sie mit harter Evidenz zu schließen, stützt sich auf in beträchtlicher Zahl ausgegrabene Bootsreste. Auch diese Funde sind in den notorischen Slawen-Germanen-Streit einbezogen worden. Wenn sie nicht ohnehin von Wikingern gebracht worden sind – für einige Funde ist das durch Beigaben unstrittig –, so sollen diese wenigstens die Herstellungstechnik an Slawen vermittelt haben, die dann eigene Boote produziert hätten. Es sieht in jedem Fall so aus, als ob einige der Boote noch in die früheste

„Zeit slawischer Oberherrschaft gehören sollten (erster Beginn im 7. Jahrhundert n. Chr. Geb.)“ [Lienau 1934, 46].

Da die Bootsfunde zahlreich sind, ist die Verführung groß, sie über den Zeitraum der leeren Jahrhunderte zu verteilen. Will man sie zwischen das 7. und 10. Jh. platzieren, landet man allerdings in einer Zeit, für die eine germanische Siedlung der Weichselmündung niemand mehr behauptet. Die Situation ist bis heute ohne Lösung geblieben, denn Boote mit eindeutiger Wikingerherkunft (aus Frauenburg und Baumgarth) können erst ab der Zeit „um 900 n. Chr. Geb.“ [Lienau 1934, 47] datiert werden. Es ist ja bereits an anderer Stelle beobachtet wurden, dass harte Wikingerfunde vor 911 kaum zu verifizieren sind [Illig 1999, 98]. Die Chronologielücke Danzigs zwischen dem 7. und 10. Jh. kann mithin auch durch Boote nicht geschlossen werden.

Für die momentan auf 800, 750 und 724 datierten kufischen Münzen wird von niemandem ein Bauten- und/oder Gräberkontext auch nur behauptet. Sie sind bisher über Interpretation von Beschriftung und Aussehen datiert worden und für eine neuerliche Analyse einstweilen beiseite zu stellen. Die polnischen Ausgräber haben für das 8. Jh., in das sie momentan gesetzt werden, nichts gefunden (siehe nächstes Kapitel). Die Bootsfunde erlauben zwar einen ersten Beginn dieser maritimen Technik noch im 7. Jh., aber ihre wikingische Blüte beginnt erst nach einer langen Lücke im frühen 10. Jh. bzw. nach 900. Bei Betrachtung der harten Bauten- und Gräberevidenz ergibt sich mithin für die deutschen Forschungen bis in die 1930er Jahre eine Danziger Siedlungslücke von 641-960. Das Jahr 641 ergibt sich dabei aus dem konventionellen Todesjahr Heraklius I. (610-641), dem in Danzig gefundene Münzen zugewiesen werden konnten. Selbstverständlich können die Münzen auch aus dem Beginn seiner Regierungszeit stammen. Das Datum 960 wiederum für das Aufblühen der slawischen Siedlung urbanen Charakters ist tentativ gewonnen, weil Ibn Jakub sie bereits im Jahre 973 als imponierende Siedlung beschreibt. Hier ist ein Herangehen näher an das Jahr 900 selbstredend ebenso möglich wie bei Heraklius’ Münzen an das Jahr 600.

Danzig
Fundgebiete für Boote in der Weichselmündung [Lienau 1934, 41]

Archäologische Abfolge des Weichseldeltas mit Fokus auf Danzig von der Spätbronzezeit bis zum 10. Jh. (deutsche Forschungen)
[Simson 1913, I; Bertram/LaBaume/Klöppel 1924; Keyser1972]

ab 10. Jh.
Slawensiedlung
Von neuem kufische Münzen neben ottonischen, englischen, dänischen etc. Jetzt Baureste, Gräber und seitdem nie mehr unterbrochene Siedlung. 973 von Ibn Jakub erwähnt und 997 vom Hl. Adalbert besucht. Neukontakt mit Byzanz (Seidenbrokat)

Rätselhafte Fundlücke ohne Siedlungsrest, ohne Gräber und ohne Bernstein vom frühen 7. bis zum 10. Jh.
Kufische Münzen ohne stratigraphische Verankerung und ohne irgendeinen Zusammenhang mit Siedlungsresten oder Gräbern werden auf 800, 750 (Oliva) und 723 (Meeresgrund) datiert.

bis frühes 7. Jh.
Spätantike
Byzantinische Münzen von Theodosius II. (408-456) bis Heraklius I. (610-641). Abwandernde Goten werden durch neue Ethnie (Slawen) ersetzt.

+100 bis +600
Gotenzeit
Dichte Besiedlung von Goten und Gepiden. „Gohtiscandza“ aus Jordanes (+550)

ab Zeitenwende
Römischer Einfluss
Münzen von Germanicus (14-19) bis Probus (276-282). Ausbau der Bernsteinstraße (Moorbrücken). Aus Skandinavien kommende Goten ergänzen Ostgermanen.

ab -200
La Tène-Eisenzeit
Eisenverhüttung in Oliva. Brandgrubengräber, Schilde, Schwerter, Bronzeschmuck

ab -300
Hellenismus
Nachprägung einer Alexandermünze

ab -600
Hallstatt-Zeit
Steinkistengräber und Gesichtsurnen in mehr als 20 Fundstellen

ab -1000/900
Jüngere Bronzezeit
Frühgermanische Gräberfelder in Oliva, Brentau, Schönwärtling als Beginn einer 1500jährigen german. Siedlung bis ca. +600

ab -1130
Jüngere Steinzeit
Pfahlbauten im Weichseldelta

Bernstein von der Weichselmündung in frühmykenischen Schachtgräbern (1580–1480) ohne entsprechende Siedlungsreste in der Weichselmündung selbst

III. Stratigraphie Danzigs im frühen Mittelalter:
Die polnischen Grabungen

Die vorstehende archäologische Abfolge ist nicht an ein und derselben Stratigraphie gewonnen, sondern aus vielen verschiedenen Fundorten in und um Danzig rekonstruiert worden. Erst in polnischer Zeit sind im Bereich der heutigen Rechtstadt (Rathaus und Neptunbrunnen) und vorher schon der Altstadt systematische Ausgrabungen vorgenommen worden: „Während die deutsche Forschung die ihr erwünschte Aufklärung über die Verhältnisse in Danzig vor der Einwanderung der Deutschen nur durch wiederholte sorgfältige Deutung der schriftlichen Überlieferung, dagegen nicht durch Ausgrabungen gewinnen konnte, vermochte die polnische Forschung diese in großem Umfange durchzuführen. Die Zerstörung vieler Teile der sog. Altstadt […] ermöglichte es ihr, […] den Boden aufzudecken und die Spuren der pomoranischen Burg und der ihr zugehörigen Siedlungen aufzusuchen“ [Keyser 1963, 316].

Die polnischen Ausgräber haben direkt auf die mysteriösen Siedlungslücken im frühen Mittelalter gezielt. Sie wollten dabei nicht nur die leeren drei Jahrhunderte vom 7. bis zum 10. Jh. füllen, sondern auch die Identität der Neusiedler ermitteln, die nach Abzug von Goten und Gepiden im späten 6. und frühen 7. Jh. das Danziger Gebiet übernommen haben. Waren es Balten – vor allem Pruzzen, die Namensgeber Preußens – oder Slawen?

„Die Regierung stellte erhebliche Mittel für die kostspieligen Grabungen bereit; es geschah dies deshalb, weil nachgewiesen werden sollte, dass von Anfang an die engsten Beziehungen zwischen Danzig und dem polnischen Staat bestanden hätten“ [Keyser 1963, 317].

Die politischen Motive waren gewiss vorhanden. Sie sind nach dem Sturz des marxistisch-leninistischen Regimes auch unumwunden eingeräumt worden. Kein Geringerer als der Direktor des Danziger archäologischen Museums, Henryk Paner [1997], hat bereits vor einem halben Jahrzehnt der wissenschaftlichen Redlichkeit eine Lanze gebrochen. Vor allem bei den rechtstädtischen Ausgrabungen waren jedoch schon sehr früh Wissenschaftler und nicht so sehr Ideologen am Werke. Unter ihnen ragt Andrej Zbierski heraus. Er hat für seine Ermittlung der Stratigraphie Danzigs auch den Respekt der vertriebenen deutschen Gelehrten gewonnen:

„Zbierski hat […] einen umfassenden Überblick über die gesamten Ergebnisse der von ihm und anderen vor 1962 unternommenen Ausgrabungen geboten [Zbierski 1964, eine Art Frühfassung von Zbierski 1978, G.H.]. Jeder, der sich über die Frühgeschichte Danzigs unterrichten will, muß künftig dieses dankenswerte Werk benutzen“ [Keyser 1967, 688 f.].

Zbierski hat vor allem im östlichen Teil der Langgasse am und unter dem Rathaus sowie an der heutigen Lage des Neptunbrunnens vor dem Artushof gearbeitet. Etwas weniger intensiv sind die Untersuchungen bei der Nikolaikirche (Dominikanerkloster) ausgefallen. Aufgedeckt wurden bei diesen Grabungen Teile

„einer relativ starken Kulturschicht aus der 2. Hälfte des 9. oder dem Anfang des 10. Jahrhunderts. […] Aber auch diese Siedlung scheint noch nicht die älteste gewesen zu sein, konnte man doch im Erdwall Teile einer noch älteren Besiedlung, die auf das 7. Jahrhundert zu datieren seien, finden. Die Siedlung des 9./10. Jahrhunderts wurde dann abgelöst durch eine spätere des 10.-12. Jahrhunderts, deren Überreste u.a. eine fortgeschrittene Handwerkskunst zeigen, da die ausgegrabenen Scherben einer nur mit der Töpferscheibe gefertigten Keramik angehören. Auf jeden Fall war sie befestigt durch eine starke Umwallung in der damals im slawischen Raum typischen Holz-Erde-Konstruktion, stellte möglicherweise, da keine Spuren von Tierdung gefunden wurden, eine Siedlung des Hafen-Handelstyps dar in der Nähe des alten Laufs der Mottlau und dürfte dann über einen Markt verfügt haben. Ihre räumliche Ausdehnung und Einwohnerzahl wird auf höchstens drei ha mit maximal 2000 Bewohnern geschätzt“ [Lingenberg 1982, 268; Fettkursivdruck hier und im Weiteren G.H.].

Die polnischen Ausgrabungen haben zum ersten Mal für Danzig eine frühmittelalterliche Stratigraphie erbracht. Die Lücke von 300 Jahren war damit jedoch nicht – wie allenthalben erhofft – gefüllt, sondern im Gegenteil erhärtet worden. Für die Zeit nach dem frühen 7. Jh. gibt es weder etwas von Pruzzen noch von Slawen. Da ist einfach nichts, und das gilt auch für Münzen aus Kufa. Die Datierung der obersten Schicht als erster urbaner Stufe Danzigs in das späte 10. Jh. ergab sich aus den historischen Quellen (Canaparius, Ibn Jakub) wie auch daraus, dass daran anschließend die Siedlungsgeschichte bis heute komplett ist. Die Datierung der darunter liegenden Schicht in das 10. Jh. ist zwingend, wenn man den Anschluss an das späte 10. Jh. bzw. an das Jahr 960 der oberen Schicht nicht verlieren will.

Die Aussage „aus der 2. Hälfte des 9. oder dem Anfang des 10. Jahrhunderts“ in der Lingenbergschen Zusammenfassung der polnischen Forschungen für die Schicht direkt unter der ersten urbanen slawischen Schicht ist vorsichtig und nachvollziehbar gehalten. Man hätte sehr gerne bereits etwas im 9. Jh., um die 300-Jahreslücke wenigstens etwas verkürzen zu können. Man hat für die Zeit vor 960 aber nicht genug, um gleich 110 Jahre bis zurück auf 850 bestücken zu können. Gleichwohl wird aus dem 9. „oder“ 10. Jahrhundert bei anderen deutschen Autoren ein „9. bis 10. Jh. n. Chr.“ [etwa Siegler 1991].

Danzig
Die Danziger Rechtstadt um 1360 [Keyser 1972, Beilage]. Die stratigraphisch orientierten polnischen Ausgrabungen erfolgten bei St. Nikolai (Dominikanerkloster bzw. Nr. 4) vor 1962 und noch einmal 2000 bis 2001 sowie – vor 1962 – zwischen Rathaus und Artushof an der Langgasse (zwischen Nr. 1 und Nr. 6). X = Beobachtungsstandort des Autors

Stratigraphie Danzigs im frühen Mittelalter (Langgasse – Rathaus und Neptunsbrunnen gemäß Zbierski [1978, 80 ff.]
Ab 1222 erstes erhaltenes Privileg für lübische Kaufleute; 1308 Eroberung Danzigs durch den Deutschen Ritterorden; dann ethnisch deutsch bis 1945

Erste urbane slawische Siedlung ab 960
(siehe vorstehenden Rekonstruktionsversuch)
10.-13. Jh.

Zweites Slawisches Dorf („IX.-X. Jh.“) frühes 10. Jh.

Rätselhafte Lücke vom 7. bis 10. / “IX.-X.“ Jh.

Erstes slawisches Dorf mit „Burgenkeramik“ 7. Jh.

Abzug der germanischen Siedler im 5./6. Jh. (am Ort dieser Stratigraphie aber nicht präsent)

Die meisten Autoren präsentieren den realen Befund eines möglichen „oder“ als ein eindeutiges „und“. In den polnischen Arbeiten wird das fast durchweg als „IX-X. Jh.“ für das zweite slawische Dorf geschrieben [so auch Zbierski 1978, passim]. Danzig war dann eben

„bereits in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ein bekanntes Zentrum der Hochsee- und Binnenschiffahrt, von Fisch- und Bernsteinverarbeitung“ [Babnis et al. 1997, 19].

Auf diese Bernsteinaussage wird im nächsten (IV.) Kapitel zurückzukommen sein.

Danzig
Rekonstruktionsversuch für die erste urbane slawische Siedlungsstufe Danzigs aus dem späten 10. Jh. bzw ab 960 [Zeichnung von K. Nowalinska nach A. Zbierski aus Cieslak/Biernat 1995, 18].

Bei solchen Präsentationen des Grabungsbefundes ist keineswegs Fälschungsabsicht im Spiel. Die Gelehrten spüren wohl eher ein geradezu körperliches Bedürfnis nach chronologischer Kontinuität, und ihren Lesers geht es ja nicht anders. Gleichwohl wird mit der Aussage „IX.-X. Jh.“ eine für über 100 Jahre ausreichende Fundmenge für das zweite slawische Dorf direkt unterhalb der Frühstufe der slawischen Burg suggeriert. Haben die Ausgräber aber wirklich so viel?

Die Antwort fällt eindeutig negativ aus. Der Ausgräber hat nämlich die Zeit von 850 bis 960 nicht aus der Masse seiner Funde begründet. Nicht diese erzwingen den Eintrag von 110 Jahren in die Chronologie. Er versucht eine derartige Argumentation nicht einmal ansatzweise. Vielmehr zitiert er – und das auch nur in einer Fußnote – den DDR-Archäologen Joachim Herrmann. Der hatte dem polnischen Kollegen mündlich und persönlich mitgeteilt, dass die Keramik des zweiten slawischen Dorfes der Keramik bei Schiffsfunden ähnelt [Lienau 1934] und ins „IX.-X. Jh.“ datiert werden könne [Zbierski 1978, 80, FN 20]. Schon diese Aussage verbietet es keineswegs, die real gefundene Keramik an das Ende dieses Zeitraumes, also in das 10. Jh. – sagen wir zwischen 920 und 960 – zu datieren. Und irgendeine Fundmenge, die mehr Jahre erfordern würde, ist ja nicht aufgefunden worden. Entscheidender aber ist, dass die deutschen Ausgräber der Zwischenkriegszeit [Bertram et al. 1924] die besagte Keramik keineswegs in das „IX.-X.“, sondern in das „XI-XIII.“ Jh. datiert haben [Zbierski 1978, 80, FN 20]. Das ist nun von einem 9. Jh. sehr weit weg und wird uns im übernächsten (VI.) Kapitel über das Danziger Umland noch interessieren müssen.

Die Stratigraphie Danzigs im frühen Mittelalter unter dem Zentrum der Langgasse hört nun aber nicht beim frühen 10. („IX.-X.“) Jh. auf, sondern geht dann chronologisch rückwärts nach einen fundlosen Zeit von 300 Jahren direkt in das 7. Jh. des ersten slawischen Dorfes über. Die Reste dieses frühen slawischen Dorfes haben sich im Material für den Erdwall der späteren Siedlung gefunden. Sie bestätigen einmal mehr die so schmerzlich empfundene Chronologielücke von 300 Jahren. Aber diese Reste stehen rein technologisch auch für den unmittelbaren historischen Übergang vom 7. in das 10. Jh., weil es sich bei diesen Relikten um die sogenannte Burgenkeramik handelt. Die bereits beschriebene Tendenz [Zeller 1996], ein und dieselbe Keramik der Slawenburgen einmal in das 9./10. und ein andermal in das 6./7. Jh. zu datieren, zeigt ja das Ringen der Ausgräber mit einem Grabungsbefund, den sie über einen extremen Zeitraum strecken müssen, für den sie nichts können, sondern der ihnen von der Chronologie vorgegeben ist.

Danzig
Wohnhaus aus dem bulgarischen Krivina mit einer typisch spätantiken Tiefparterreanlage des 7. Jhs., aber mit einer Datierung in das 10. Jh. [Herrmann 1986b, 45].

Die Ausgrabungen bei Sankt Nikolai (Kirche des abgerissenen Dominikanerklosters) haben die frühmittelalterliche Chronologielücke Danzigs bestätigt. In den Arbeiten vor 1962 fand man kontextfremde Keramik aus dem 5. zusammen mit solcher aus dem 10. Jh., während für die Zeit dazwischen nichts vorzuweisen war [Zbierski 1978, 94]. Bei St. Nikolai sind die Grabungen im Jahre 2000 wieder aufgenommen worden und der Bericht über die erste Saison liegt vor. Man hatte erst einmal nur bis in das 11. Jh. zurückgegraben [Golembnik 2001]. Die bei Abfassung des Manuskripts noch andauernde zweite Saison ist auch in der Hoffnung begonnen worden, endlich etwas für die dunklen Jahrhunderte zu finden. Man weiß mittlerweile, dass man damit gescheitert ist. Vor dem 10. Jh. war nichts vorhanden. Es bleibt bei der Danziger Lücke zwischen byzantinischer Spätantike des 6./7. Jh. – mit slawischer Burgenkeramik hier und dort – und dem 10. Jh. mit seiner unbestrittenen slawischen Besiedlung.

Der Danziger Nikolaibefund erinnert frappant an die Musterstratigraphie eines anderen, aber weit entfernten slawischen Territoriums. Es geht um die bulgarische Siedlung Krivina [dazu bereits Weissgerber 2001, 92 f.]. Sie wird in typischer Manier der Chronologienöte als altbulgarische Siedlung des „7. bis 10. Jh.“ [Herrmann 1986b, 45] bezeichnet. In der über Münzen datierten Ortsstufe aus dem 10. Jh. verblüfft

„das Fortleben antiker Bautraditionen. Im Untergeschoß lagen Küche, Wirtschafts- und Wohnraum, oben Wohnraum und Speicher. […] Die Siedlung war in den Ruinen des antiken Kastells Iatrus angelegt worden“ [Herrmann 1986b, 45].

Byzantinische Münzen aus dem 10. Jh. haben – wenn man so will – das Obergeschoss der Häuser in das 10. Jh. verbracht, während das Tiefparterre durch die Basis des spätantiken Kastells aus dem 7. Jh. 300 Jahre früher datiert werden musste bzw. auf rätselhafte Weise eine angeblich drei Jahrhunderte verschüttete Bautradition von neuem aufgegriffen hat. Auch die landwirtschaftlichen eisernen Geräte aus Krivinas 10. Jh. wurden auf „antiker Grundlage“, also nach 300 Jahre älteren Modellen entwickelt [Herrmann 1986a, 31, Abb. 17], ohne dass irgendwelche Zwischenstufen ermittelt werden konnten.

IV. „Leitfossil“ Bernstein und die chronologische Lücke

Die polnischen Ausgräber haben sich über die fehlenden Funde für 300 Danziger Jahre ebenso wenig beruhigen können wie ihre deutschen Vorgänger. Sie haben deshalb an einem Leitgut geprüft, ob nicht wenigstens mit diesem die drei Jahrhunderte irgendwie gefüllt werden können. Sie haben also noch einmal alle Bernsteinfunde gesichtet. Aber auch für dieses wichtigste Haupthandelsgut des slawischen Danzig musste eingeräumt werden, dass es vom „7. Jh. bis zum 10. Jh.“ schlichtweg fehlt [Luka 1978, 56].

Niemand kann für diese verblüffende Unterbrechung der Bernsteinbearbeitung auch nur die Andeutung einer Erklärung geben. Sie wird sehr schön deutlich im Bernsteinchronologiesaal im 1. Stock des archäologischen Museums zu Danzig (Muzeum Archeologiczne w Gdansku). Nach einer Vitrine mit aufwendigen Bernsteinrundperlen – und raffinierten Metallfibeln – aus der Zeit von 375 bis 570 folgt im Fach für die Zeit von 570 bis 980 lediglich eine Kollektion unbearbeiteter Brocken nebst zwei Rundperlen, wobei diese Bernsteinfunde aus Zoppot durchaus an das Ende der 410-jährigen Zeitspanne, also in das 10. Jh. gehören können. Sie werden ja ungemein vage in das „VIII./IX.-X. Jh.“ platziert. In der Vitrine für die Zeit von 980-1300 sind dann wieder Bernsteinbearbeitungen in vielen Formen, Größenordnungen und Bearbeitungstechniken zu bewundern.

Der Saal mit den Vitrinen der generellen Technologieentwicklung liegt im 2. Stock des Danziger archäologischen Museums und deckt die Zeit vom 6. bis zum 13. Jh. ab. Es beginnt in der ersten Vitrine mit prächtigen Waffen und Gerätschaften aus Bronze und Eisen des „VI.-VII. Jh.“ Im mittleren Fach der zweiten Vitrine geht es von byzantinischen Münzen des „VI.-VII. Jh.“ dann aber direkt und unvermittelt über auf Funde des „X. Jh.“. Das frühe Mittelalter ist so vollkommen abwesend, dass man ihm gar nicht erst ein eigenes Vitrinenfach gewidmet hat. Die Werkzeuge und Waffen aus Bronze und Eisen in der nächsten Vitrine für die Zeit ab dem frühen 11. Jh. sehen dann erstaunlicherweise wieder ganz ähnlich aus wie die aus dem 6./7. Jh., so dass von der Technologieevolution her alles für einen Übergang aus dem 7. direkt in das 11. Jh. spricht.

Danziger Archäologen haben übrigens auch im Sudan gegraben. Im Eingangsbereich des archäologischen Museums (Hochparterre) ist ein besonderer Saal den dabei gemachten Funden gewidmet. Man hat sich vor allem auf die Chronologie des nubischen Frühchristentums konzentriert. Exemplarisch werden Funde aus der Stadt Faras gezeigt. Diese weisen allerdings eine schmerzliche und bisher nicht erklärte Lücke auf. Nach Friesen und Öllampen, die in das „VI.-VIII. Jh.“ datiert werden, reißt eine Lücke von 300 Jahren auf. Erst im „XI./XII. Jh.“ geht es dann mit Wandmalereien und Öllampen weiter. Auch in der libanesischen Musterstratigraphie Byblos [Heinsohn 1998] sowie in der Synagogenchronologie Israels/Palästinas ist ja für dieselbe Periode eine fundleere Zeit zu beklagen [Heinsohn 1999; 2000]. Die Annahme englischer Forscher, dass die Fundarmut des frühmittelalterlichen Europa durch Einschläge von Meteoritenschwärmen herbeigeführt worden sei, der komplette frühmittelalterliche Zeitraum der herrschenden Lehre mit Funden beispielsweise aus dem Nahen Osten jedoch problemlos gefüllt und somit bewiesen werden könne, bestätigt sich für das – von Danzigern ergrabene – Nubien bisher nicht.

V. Liefern Dörfer aus dem Umfeld Danzigs Funde für die drei Jahrhunderte, die in der Stadt selbst leer bleiben?

Spricht man mit den jungen Spezialisten vor Ort, hört man sehr schnell, dass nicht nur in, sondern auch um Danzig herum archäologische Funde, die zweifelsfrei zwischen die Spätantike des frühen 7. Jh. und das frühe 10. Jh. datiert werden können, schwer nachweisbar sind. Was bisher für diese Zeit in die Bücher geschrieben worden ist, sei veralteten Methoden geschuldet. Das müsse auf den Prüfstand und neu zugeordnet werden. Ungeachtet dieser Warnungen soll hier referiert werden, was man aus dem Danziger Umland einmal in die fragliche Zeit datiert hat. Schließlich stehen diese Befunde auf Papier, mit dem bedeutungsvoll gegen die Chronologiekritiker gewedelt werden dürfte – zumindest von Leuten, die sich nicht vor Ort kundig machen.

Von allen Plätzen aus Danzigs Umland mit einer momentanen Datierung in die dunklen Jahrhunderte ist ein mit Palisaden befestigter Hügel bei Zoppot der am besten rekonstruierte. Ein Modell wird im archäologischen Museum gezeigt. Die Datierung lautet auf „VIII.-IX. Jh. (?)“ [Luka 1978, 43]. Mit dem Fragezeichen wird selbst für diese Siedlung eingeräumt, dass die Datierung unsicher ist. Das liegt auch daran, dass ganz ähnliche Hügelumwallungen – etwa in Podjazdy – in das „XI.-XIII. Jh.“ datiert werden [Tuszynska 1997, 13]. Für Zoppot selbst wiederum bliebe unerfindlich, warum der ideal gelegene Hügel gerade ab dem 10. Jh., als die Weichselmündung um das nun urbane Danzig aufblüht, nicht mehr genutzt worden sein soll.

Es werden aber weitere befestigte Plätze momentan noch in die dunkle Zeit datiert. Aufgrund von Keramikfunden, die durch die ursprünglichen deutschen Ausgräber in das 11.-13. Jh., durch den DDR-Archäologen Herrmann dann jedoch ins „IX.-X. Jh.“ datiert wurden, werden folgende Hügelplätze stereotyp in das „IX.-X. Jh.“ datiert: Gruczno, Janiszewy, Krepa Kaszubska, Lubiszewo, Luzino, Orunia, Otomin, Podzamcze und Skarszewy. Für all diese Orte gilt, dass sie selbst bei der momentanen Datierung in das 9. oder das 10. Jh. gehören können. Mit dem zweiten Datum landen sie in einem unbestrittenen Chronologiebereich. Einen wirklich harten Beweis für das 9. Jh. hingegen liefern sie gerade nicht.

Für die Hügelbefestigung in Bedargowo wird nicht „IX.-X.“, sondern „VIII./IX.-1. Hälfte X. Jh.“ angegeben [Luka 1978, 40]. Die bewusste Vagheit dieser Aussage soll kenntlich machen, dass man unsicher darüber ist, ob hier wirklich mehr gesagt werden kann als das übliche „IX.-X. Jh.“ der DDR-Archäologie (also das 11.-13. Jh. der deutschen Ausgräber aus der Zwischenkriegszeit).

Schließlich werden unbefestigte Ortschaften angeführt, die jetzt noch in die dunklen Jahrhunderte platziert werden [Luka 1978, 40-43]:

Ciechocino („VIII.-XII. Jh.“) Gniew („VIII.-IX. Jh.“)
Juszkowo („VIII.-X. Jh.“) Kopalino („VIII.-IX. Jh.“),
Legowo („VIII.-XI. Jh.“), Malary („VIII.-XI. Jh.“),
Oliwa („VII.-IX. Jh.“), Pieleszewo („VIII.-IX. Jh.“),
Skowawarcz („VIII.-XII. Jh.“), Stary Wiec („VIII.-XII. Jh.“),
Swiety Wojciech („VIII.-X. Jh.“), Zabornia („VIII.-X. Jh.“).

Für sämtliche Orte gilt, dass in ihnen nur Oberflächenuntersuchungen vorgenommen wurden. Dass Siedlungsschichten für 200-500 Jahre auch stratigraphisch eingelöst werden können, behauptet also niemand. Als besonders rätselhaft gilt, dass die Mehrheit dieser Dörfer gerade dann verschwinden soll, als die Städte der Weichselmündung im 11./12.-14. Jh. mächtig aufblühen und mit landwirtschaftlichen Produkten versorgt werden müssen. Es entstehen ja nicht plötzlich andere Dörfer, aus denen die hungrigen Städter versorgt werden können.

An sechzehn Plätzen des Danziger Umlandes sind immerhin Sondagen vorgenommen worden, also mehr als das bloße Oberflächenbesammeln oder eine hastige Rettungsaktion vor dem Bulldozzer. Und von diesen sechzehn Untersuchungen einer etwas größeren Genauigkeit werden lediglich drei unzweideutig in die dunkle Zeit gesetzt. Angaben der Art „IX.-X. Jh.“ bleiben dabei außer Betracht, da sie sich ja auch für das herrschende Verständnis auf das 10. Jh. beziehen können und von den früheren Danziger Ausgräbern sogar als 11.-13. Jh. geführt wurden.

Zu den drei verbleibenden Sondagen gehört die bereits erwähnte Hügelumwallung bei Zoppot. Mit seiner Fragezeichendatierung „VIII.-IX. Jh. (?)“ [Luka 1978, 43] ist der Ort auch bisher schon so schwimmend eingeordnet, dass niemand eine Beweisführung auf ihn stützen möchte. Für Pelplin-Maciejewo wird das „VII.-VIII. Jh.“ [ebd., 42] genannt. Dabei ist das frühe 7. Jh. der byzantinischen Zeit unstrittig und liegt vor der von Illig vorgeschlagenen Chronologiekürzung. Dass die Funde dann so massiv wären, dass sie auch ein „VIII. Jh.“ noch benötigen, wird nicht zu belegen versucht.

Am Ende bleibt lediglich die Sondage von Sobieczyce, das ins „VIII.-X. Jh.“ [Luka 1978, 43] verbracht wird. Auch diese Aussage fällt vage aus. Dass die Funde zahlreich genug wären, um mehr als das 10. Jh. zu benötigen, wird nicht gesagt. Überdies stellt sich für dieses Dorf wieder die Frage, warum es im 11. Jh. nicht mehr existent sein soll, als der Bedarf der Städte anzuziehen beginnt. Die Datierung „VIII.-X. Jh.“ enthält das stereotype „IX-X.“ der DDR-Keramikdatierer, mit dem das 11.-13. Jh. der früheren Ausgräber ersetzt wurde. Es ist aber die ursprüngliche Zeitangabe des 11.-13. Jh., mit der man sich die wenigsten Widersprüche einhandelt. Sie macht Sinn, weil sie zum Aufstreben der Städte passt, das genau in diesen Zeitraum gehört.

Wer eine Beweisführung für die Existenz der in Frage gestellten drei Jahrhunderte auf das Danziger Umland stützen will, stößt schon jetzt auf deutliche Zweifel der Forscher vor Ort. Vor allem jedoch kann er ohne positiven stratigraphischen Befund aus dem Umland den unstrittigen stratigraphischen Lückenbefund in Danzig selbst nicht aushebeln. Wer dennoch mit dem Umland arbeiten will, wird Waffengleichheit akzeptieren müssen. Die Ausgräber hätten also zu prüfen, ob sie alle ergrabenen Siedlungsschichten auch dann noch bequem unterbringen können, wenn sie mit einer Chronologie auskommen müssen, die dreihundert Jahre kürzer ist. Man würde ihnen zwischen 300 und 1200 nicht 900, sondern nur noch 600 Jahre zur Verfügung stellen. Erst wenn in diese 600 Jahre nicht hereinpasst, was man für den Zeitraum zwischen dem konventionellen Jahr 300 und dem konventionellen Jahr 1200 ergraben hat, kommen die Chronologiekürzer in Schwierigkeiten. Und diese Funde müssen wirklich ergraben werden. Sie können nicht durch moderne astronomische Berechnungen oder Schätzungen über denkbare vergangene Himmelsereignisse ersetzt werden.

VI. Fazit

Es sieht aus dem Blickwinkel der deutschen und mehr noch der stratigraphisch orientierten polnischen Forschungsarbeit für das frühslawische Danzig so aus, als ob drei frühmittelalterliche Jahrhunderte zwischen dem 7. und 10. Jh. nicht existiert haben. Wie für den gesamtslawischen Raum Texte aus dieser Zeit gänzlich fehlen [Heinsohn/Sidorczak 2001], so sind jetzt für die zentrale Siedlung an der Ostssee selbst Materialien dauerhafterer Art unauffindbar geblieben. Der Versuch, diese Chronologielücke mit Funden aus umliegenden Dörfern zu schließen, erscheint verständlich, scheitert aber am Fehlen stratigraphisch untermauerter Sequenzen. Die Aufforderungen der jüngeren polnischen Fachleute vor Ort, die Datierungen aus der Nachkriegszeit mit Vorsicht zu behandeln, weisen in dieselbe Richtung. Sicher ist man sich dort nur für die Zeit bis zum Ende der Spätantike und dann wieder ab dem 10. Jh., während alles andere auf den Prüfstand gehöre. Von daher kann mit dem harten stratigraphischen Befund des Weichseldeltas der Illigsche Vorschlag einer Kürzung des frühen Mittelalters um drei Jahrhunderte [Illig 1998; 1999] nicht abgewiesen werden.

P.S. Für Beschaffung und Auswertung der polnischsprachigen Literatur sowie den Zugang zu Museen und Ausgrabungsplätzen danke ich Joanna-Maria Sidorczak.

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