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FAQ

30 Fragen zur Fantomzeittheorie

von Jan Beaufort (Würzburg)

[aktualisierte Fassung vom 26.01.2009]

 

Inhalt

1. Was will die Chronologie?

2. Was leistet ein Kalender?

3. Was ist eine Jahrrechnung?

4. Was sind relative und absolute Chronologien?

5. Was sind BP-Datierungen?

6. Welche chronologiekritischen Ansätze gibt es?

7. Wer ist Heribert Illig?

8. Wer war Immanuel Velikovsky?

9. Was will die Fantomzeittheorie (FZT)?

10. Wie kommt Illig zu seiner sowohl für Laien als auch für Fachleute befremdlichen These einer frühmittelalterlichen Fantomzeit (FZ)?

11. Warum setzt Illig die Länge der mittelalterlichen FZ in einer ersten Annäherung auf circa 300 Jahre an?

12. Warum grenzt Illig die FZ in einem zweiten Schritt auf die Jahre zwischen 614 und 911 n. Chr. ein?

13. Lässt sich Karl der Große denn so einfach aus der Geschichte streichen?

14. Sind künstliche Chronologieverlängerungen ein dem Historiker völlig unbekanntes Phänomen?

15. Behauptet die FZT, dass die künstliche Chronologieverlängerung des Mittelalters das Produkt einer weltweiten Verschwörung sei?

16. Wie kam denn gemäß der FZT die künstliche Chronologieverlängerung des Mittelalters in die Welt?

17. Ist die Annahme, Konstantin VII. Porphyrogennetos sei der Urheber einer künstlichen Chronologieverlängerung, begründet?

18. Ist es vorstellbar, dass eine gefälschte mittelalterliche Chronik am Ursprung eines unerkannten Kalenderfehlers steht, der heute in allen Geschichtsbüchern und Kalendern der Welt enthalten ist?

19. Beweist nicht die Geschichtsschreibung der arabischen Welt den Irrtum der FZT?

20. Beginnt die islamische Zeitrechnung denn nicht im Jahre 622 n. Chr. mit der Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina?

21. Aber selbst wenn wir einmal versuchsweise annehmen, dass eine Zeitfälschung im von Illig vermuteten Umfang möglich war, was könnte denn das Motiv gewesen sein?

22. Aber auch wenn es im islamischen Bereich gute Gründe für eine Zeitfälschung gegeben haben mag, die Frage bleibt: Welches Motiv hatte der Ersterfinder der FZ?

23. Wurde unsere christliche Zeitrechnung denn nicht im 6. Jh. von Dionysius Exiguus begründet?

24. Wie steht es mit dem Rest der Welt? Es gibt doch nicht überall dunkle Jahrhunderte?

25. Lässt sich die FZT nicht mit Hilfe von computergestützten astronomischen Retrokalkulationen widerlegen?

26. Beweisen nicht naturwissenschaftliche Datierungsverfahren wie C14 und Dendrochronologie den Widersinn der FZT?

27. Müsste die gewaltige, von der FZT postulierte Zeitfälschung nicht überall Spuren hinterlassen haben?

28. Gibt es denn wirklich nirgendwo Spuren mehr von der “größten Zeitfälschung der Geschichte” (Illig)? Das wäre doch kaum vorstellbar?

29. Soll denn nie jemand den Betrug gemerkt haben? Durch die FZ wurden doch Genealogien oder gar Biographien von Einzelpersonen auseinander gerissen – das muss doch irgendjemandem aufgefallen sein?

30. Letzte Frage: Wurde denn im Mittelalter wirklich soviel gefälscht, oder behaupten das nur die Vertreter der FZT? Und ist es eigentlich nicht fast ausgeschlossen, dass sämtliche Schriften der Karolingerzeit gefälscht wurden?

Literatur

1. Was will die Chronologie?

Die Chronologie ist eine Wissenschaft, die untersucht, wie die Völker dieser Erde die Zeit einteilen und messen bzw. eingeteilt und gemessen haben. Weiter untersucht sie, wie diese Einteilung zu jeweils unterschiedlichen Zwecken am sinnvollsten vorzunehmen ist. [Ideler I 5 f.]

Die mathematisch-astronomischen Grundlagen der Zeitrechung sind Gegenstand der Astronomischen Chronologie. Ihre Anwendung durch den Menschen in verschiedenen Kulturen und geschichtlichen Perioden untersucht die Historische Chronologie. Die Historische Chronologie ist eine historische Hilfswissenschaft. [von Brandt 30]

Die Chronologie unterscheidet drei Zeitordnungen:

Kosmische Bewegungen und Rhythmen bilden eine natürliche Zeitstruktur, die zur Grundlage für zwei künstliche Ordnungen wird. Wir könnten diese künstlichen Ordnungen beide als “kalendarische” oder “Kalenderordnungen” bezeichnen. Kalender im eigentlichen Sinn ist aber die Ordnung des Jahres, die periodisch wiederkehrt und deshalb eine zyklische ist. Die zweite, lineare Ordnung wird Jahrrechnung oder Ära genannt.

2. Was leistet ein Kalender?

Das Wort “Kalender” kommt vom lateinischen calendarium und bezeichnete ursprünglich ein römisches Zinsbuch, das sich nach den Monatsanfängen (calendis) richtete. Ein Kalender konstruiert auf der Grundlage der kosmischen Ordnung eine künstliche zyklische Zeitstruktur. Diese setzt zwar an natürlichen Gegebenheiten wie Tag, Mondmonat und Sonnenjahr an, bringt sie aber in eine Ordnung, die von der natürlichen Ordnung häufig abweicht oder in ihr zumindest keine Entsprechung mehr hat. Durch diese Abweichung wird sie aber für gesellschaftliche und insbesondere auch religiöse Zwecke gerade erst brauchbar.

So zählt das künstliche Jahr mal 365, mal 366 Tage – obwohl sich die Länge des astronomischen Sonnenjahres nicht verändert. Unser künstlicher Monat hat sich vom natürlichen Mondzyklus gelöst und ist im Durchschnitt um etwa einen Tag länger als die Dauer eines Mondumlaufs. Die 7-Tage-Woche entspricht annähernd – aber eben nur annähernd – dem Viertelteil eines Mondumlaufs. Der Tag gliedert sich in die künstlichen Einheiten Stunde, Minute und Sekunde, die man in der Natur vergeblich sucht.

Zum Kalender in diesem engeren Sinn einer zyklischen Ordnung ist noch zu sagen, dass er die Grundlage des religiösen Festkalenders bildet. Weihnachts- und Osterzyklus richten sich nach Prinzipien des Sonnen- bzw. des mit ihm verrechneten Mondkalenders. Es war die allmähliche Verschiebung des kalendarischen Osterfestdatums zum Sommer hin, die letztlich zur gregorianischen Kalenderreform führte. [siehe zur Kalenderreform Frage 11]

3. Was ist eine Jahrrechnung?

Vom Kalender als zyklischer Struktur lässt sich die Jahrrechnung als lineares Ordnungsprinzip abheben. Eine Jahrrechnung (auch Ära, Zeitrechnung, Chronologie) ist eine lineare Ordnung, die von einem bestimmten, willkürlich als Anfang gesetzten Zeitpunkt an die Jahre vorwärts oder rückwärts zählt. In unserer christlichen Jahrrechnung wird als jener Nullpunkt die Geburt Christi angenommen. Das Jahr Null selbst fehlt dabei, weil die Zahl Null der Antike noch nicht bekannt war. Auf das Jahr 1 vor Christus folgt also unmittelbar das Jahr 1 nach Christus.

Man könnte zunächst meinen, die Jahreszählung bilde eigentlich gar keine künstliche Ordnung, denn sie zähle ja nur die Erdumläufe um die Sonne. Die Sonnenumdrehung der Erde ist ein natürlicher Vorgang, folglich auch die Anzahl dieser Umdrehungen. Wenn wir Jahre zählen, würden wir also nichts anderes tun, als wenn wir etwa die Jahrringe eines gefällten Baumes zählen: Wir hielten einen in der Natur vorgefundenen Sachverhalt fest. Nur: so einfach liegen die Dinge nicht. Wir finden zum Beispiel bei den alten Ägyptern einen Kalender, der für das Sonnenjahr genau 365 Tage (ohne Schaltjahr) ansetzt. Weil dieses Jahr um einen Vierteltag zu kurz ist, verschiebt sich das ägyptische Jahr allmählich gegenüber dem astronomischen Sonnenjahr. Noch stärkere Verschiebungen ergeben sich bei der islamischen Jahrrechnung, weil der islamische Kalender das Sonnenjahr nicht kennt. Das islamische Jahr hat die Länge von genau 12 Mondmonaten und ist damit ca. 11 Tage kürzer als unser Sonnenjahr. [siehe zur islamischen Zeitrechung auch Frage 4, 20, 28 und 29]

Diese Beispiele zeigen, dass eine Jahrrechung nicht ohne weiteres astronomische Vorgänge ordnet, sondern zuallererst Kalenderjahre. Sie setzt folglich den Kalender – jene künstliche zyklische Ordnung – voraus und ist selbst eine künstliche Ordnung, ein Konstrukt. Dieser Umstand erhellt auch daraus, dass die Einführung einer Jahrrechnung gewöhnlich nicht zu astronomischen Zwecken geschah. Jahrrechnungen wurden eingeführt, um historisch bedeutsame Ereignisse erinnern und zuordnen zu können. Mit deren Zusammenfassung zu einer chronologisch geordneten Geschichte wurden häufig politische oder religiöse Zwecke verfolgt.

Die Chronologiekritik, um die es im Folgenden gehen wird, ist vor allem eine Kritik der verschiedenen Jahrrechnungen – die christliche eingeschlossen.

4. Was sind relative und absolute Chronologien?

Die wohl älteste und verbreitetste Form, wichtige Ereignisse im Kollektivgedächtnis zu fixieren, ist die Zuordnung zu Herrscherjahren. “Im 5. Jahr des Pharaos Amenophis”, “im 10. Jahr des Großkönigs Xerxes”, “im achtzehnten Jahr des Jerobeam” (2 Chr. 13, 1) heißt es etwa in den Quellen. In Lukas 3, 1-2 lesen wir: “In dem fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, da Pontius Pilatus Landpfleger in Judäa war und Herodes Vierfürst in Galiläa und sein Bruder Philippus Vierfürst in Ituräa und in der Landschaft Trachonitis und Lysanias Vierfürst zu Abilene, da Hannas und Kaiphas Hohepriester waren, da geschah der Befehl Gottes an Johannes, des Zacharias Sohn, in der Wüste.”

Solche Berichte, wann und von wem auch immer geschrieben, ob real oder fiktiv, ermöglichen die zeitliche Einordnung der beschriebenen Ereignisse relativ zu einem oder mehreren Herrschern. Sie ermöglichen damit die Erstellung so genannter relativer Chronologien. Solche relative Herrscherchronologien lassen sich erweitern, indem wir etwa mit Hilfe von Königslisten oder anderen Dokumenten und Monumenten die Abfolge der einzelnen Herrscher rekonstruieren können.

Von einer absoluten Chronologie sprechen wir, wenn ein einziger Ausgangspunkt der Zählung durchgehend beibehalten wird. Unsere christliche Jahrrechnung ist eine solche absolute Chronologie. [siehe zur Einführung der christlichen Zeitrechung Frage 22 und 23] Ebenso die islamische Zeitrechnung, die ab dem Jahr der Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina zählt: Diese so genannte hidschra wird auf das Jahr 622 n. Chr. datiert. [siehe zur hidschra Frage 20]

Weitere bedeutende Beispiele sind die in der Antike häufig verwendete Seleukidenära ab dem Jahr 312 v. Chr. und die alte römische Jahrrechnung ab urbe condita, also ab der mythischen Gründung der Stadt Rom im Jahre 753 v. Chr. Dann die seit Diokletian geläufige Diokletiansära ab 284 n. Chr., die sich bei frühchristlichen Autoren findet und noch heute in der koptischen Kirche in Gebrauch ist. [siehe zur Diokletiansära Frage 23] Wichtig sind auch die vielen von jüdischen, frühchristlichen und byzantinischen Autoren verwendeten Weltären, die von einem angenommen Zeitpunkt der Schöpfung der Welt an rechnen. In einer der frühchristlichen Weltären – es gibt da mehrere, die hier gemeinte findet sich u. a. bei Eusebius und Orosius – wird die Geburt Christi auf das Jahr 5199 ab Schöpfung datiert. [Ideler II 430, WU 134 f.]

Eine alte, zu wissenschaftlichen Zwecken eingesetzte Zeitrechnung ist die in Claudius Ptolemäus’ Almagest verwendete Ära Nabonassar ab 747 v. Chr.

Neben diesen konventionellen absoluten Chronologien ist als neue, naturwissenschaftliche Datierungsmethode die sogenannte BP-Datierung zu erwähnen. Sie konstruiert eine absolute Chronologie, die vom Jahr 1950 an rückwärts zählt. [siehe zu dieser Datierungsmethode Frage 5]

Wenn es im Folgenden um mögliche Fehler der überlieferten Zeitrechnung geht, ist es nicht zuletzt das komplizierte Zusammenspiel dieser relativen und absoluten Chronologien, das in den Blickpunkt geraten wird.

5. Was sind BP-Datierungen?

BP bedeutet before present. Es handelt sich hier um eine Datierungsmethode, die im Rahmen naturwissenschaftlicher Datierungsverfahren (wie C14 und Dendrochronologie [siehe Frage 26]) verwendet wird. Die BP-Skala rechnet vom Jahr 1950 an rückwärts. So entspricht etwa das Jahr 1500 n. Chr. dem Jahr 450 BP.

Die Vorteile der BP-Datierung für die Wissenschaft liegen auf der Hand. Naturwissenschaftliche Datierungsmethoden wie etwa das Radiokarbonverfahren ergeben zunächst nur BP-Daten. Das Gleiche gilt für retrokalkulierte astronomische Ereignisse. Ihre Zuordnung zu AD-Datierungen ist wissenschaftlich gesehen ein weiterer, eigens zu legitimierender Schritt.

In Abweichung von der traditionellen Zuordnung von BP- und AD-Datierungen impliziert die von Heribert Illig entwickelte Fantomzeittheorie [siehe Frage 7 und 9 ff.] die Gleichsetzung 614 AD = 911 AD = 1039 BP. Folglich gilt weiter 613 AD = 1040 BP, 590 AD (Sonnenfinsternis des Gregor von Tours [siehe Frage 12]) = 1063 BP, 1 AD = 1652 BP, 1 v. Chr. (= Geburtsjahr Christi) = 1653 BP.

6. Welche chronologiekritischen Ansätze gibt es?

Es gibt mehrere chronologiekritische Ansätze, was den Eindruck erweckt, dass hier eine gewisse Beliebigkeit vorherrscht. Diese Beliebigkeit mag ein Grund dafür sein, dass Historiker sich nur ungern mit der neueren Chronologiekritik auseinandersetzen. Sie vergessen dabei, dass der Einwand der Beliebigkeit auch gegen konventionelle Chronologien geltend gemacht werden kann. [siehe Frage 14] Sowohl bei traditionellen als auch bei alternativen Ansätzen verlaufen die Grenzen zwischen Wissenschaft und Glauben oft fließend.

Hier können nur die wichtigsten kritischen Rekonstruktionsversuche kurz angesprochen werden. Folgende Ansätze lassen sich unterscheiden:

7. Wer ist Heribert Illig?

Heribert Illig, geb. 1947, ist promovierter Germanist, Systemanalytiker und Privatgelehrter. Er leitet den Mantis Verlag und ist Herausgeber der Zeitschrift Zeitensprünge (1989 bis 1994 Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart). Verlag und Zeitschrift widmen sich der unter Frage 6 behandelten chronologiekritischen Forschung. Sie konzentrieren sich dabei auf den dort unter Punkt (c) aufgeführten Ansatz von Heinsohn und Illig und auf Illigs Fantomzeittheorie. Ziel dieser Chronologiekritik ist die Freilegung bzw. Rekonstruktion einer hinter überlieferter Geschichte vermuteten verdrängten anderen Geschichte. Die Zeitschrift Zeitensprünge (im Folgenden ZS) ist zugleich das Publikationsorgan einer Gruppe von Wissenschaftlern aus allen Fachrichtungen, die sich mit Chronologiefragen befassen. Zusammen mit Gunnar Heinsohn (Bremen) ist Illig Wortführer dieser Gruppe. Sie steht in einer Tradition, die auf das Wirken Immanuel Velikovskys zurückgeht. [siehe Frage 8]

8. Wer war Immanuel Velikovsky?

Velikovsky (1895-1979) war Arzt und Psychoanalytiker, Schüler von Wilhelm Stekel. Bücher sind u. a. Welten im Zusammenstoß, Erde im Aufruhr, Ödipus und Echnaton und Die Seevölker. Velikovsky ist vor allem durch zwei Thesen bekannt geworden:

Amerikanische und englische Velikovsky-Anhänger sowie das Post-Akademische Forum (PAF) des Velikovsky-Übersetzers Christoph Marx [siehe Frage 6 (g)] befassen sich insbesondere mit Velikovskys Katastrophentheorie. Die Gruppe um Heinsohn und Illig konzentriert sich – heute weitgehend unabhängig von Velikovsky – auf die Chronologieproblematik.

9. Was will die Fantomzeittheorie (FZT)?

Der FZT liegt die These des Heribert Illig zugrunde, nach der das sogenannte dunkle Frühmittelalter ein nur in den Geschichtsbüchern geführter Zeitabschnitt sei, dem keine reale Zeit entspreche. Ereignisse, Personen, gesellschaftliche Entwicklungen, Schriftquellen, Bauten und sonstige materielle Überreste, die dieser Zeit zugeschrieben werden, seien erst nachträglich in sie hineindatiert worden. Die Fantomzeitthese wurde erstmals 1991 in der Zeitschrift Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart formuliert. [Albrecht/Otte] Illig grenzt die Fantomzeit (der Ausdruck stammt von Hans-Ulrich Niemitz) per Arbeitshypothese auf die Jahre zwischen 614 und 911 n. Chr. ein.

Die FZT unternimmt den Versuch, die von der Fantomzeitthese implizierte künstliche Chronologieverlängerung zu erklären und die Vorgänge, die zur Chronologieverlängerung geführt haben, zu rekonstruieren.

10. Wie kommt Illig zu seiner sowohl für Laien als auch für Fachleute befremdlichen These einer frühmittelalterlichen Fantomzeit (FZ)?

Illig war durch seine Beschäftigung mit Velikovsky für Chronologieprobleme sensibilisiert worden. Die Vermutung, auch im dunklen Frühmittelalter könne sich ein Chronologiefehler verstecken, lag vor diesem Hintergrund beinahe auf der Hand. Zwei Beobachtungen verhalfen der FZT zum Durchbruch:

Für das Problem der antizipatorischen Fälschungen hat der traditionelle Historiker keine Lösung. Denn hier bleibt nur die Erklärung, dass in der Mittelaltergeschichte etwas grundlegend durcheinander geraten ist. Zwar hatte der Fälschungskongress der MGH (in sechs Bänden gut dokumentiert [FM]) das massenhafte mittelalterliche Fälschen ins Blickfeld gerückt. [siehe Frage 27 und 30] Die Annahme, auch die Chronologie sei gefälscht worden, war im Grunde nur der nächste Schritt. Dennoch war er – bedingt durch tief eingewurzelte Denkgewohnheiten? – traditionellen Historikern nicht möglich. Der entscheidende Schritt über das konventionelle Mittelalterbild hinaus blieb dem Velikovskyaner Illig vorbehalten.

11. Warum setzt Illig die Länge der mittelalterlichen FZ in einer ersten Annäherung auf circa 300 Jahre an?

Die tieferliegenden Gründe hierfür entnimmt Illig der Geschichtsschreibung, Archäologie und Architekturgeschichte des Frühmittelalters. [siehe Frage 10, 12, 13, 16, 17, 21, 23, 24, 28 und 30]

Eine wichtige Bestätigung für die vorläufig angenommene Länge von ca. 300 Jahren fand Illig, als er die Voraussetzungen der gregorianischen Kalenderreform überprüfte. Der julianische Kalender war bekanntlich zu langsam, die Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche verschob sich im Kalender regelmäßig rückwärts, im 16. Jh. ereignete sie sich um den 10. März herum.

Gregors Reform bestand im wesentlichen in zwei Korrekturen. Zum einen beschleunigte sie den Kalender, indem sie Schaltjahre ausließ. Die Beschleunigung betrug ca. einen Tag in 130 Jahren – was zugleich anzeigt, um wie viel der alte Kalender zu langsam war. Zweitens ließ Gregor 10 Tage im Kalender überspringen, so dass auf den 4. Okt. 1582 gleich der 15. Oktober folgte. Damit fiel der astronomische Frühlingsanfang fortan wieder auf den 21. März. Der 21. März war das Datum, das traditionell als Datum des Frühlingsanfangs zur Berechnung des Festkalenders verwendet wurde.

Aus den beiden Korrekturen lässt sich – ceteris paribus – ableiten, wann erstmals der 21. März als kalendarischer Frühlingsanfang festgelegt wurde, denn es ist davon auszugehen, dass er ehemals mit dem Frühlingsäquinoktium zusammenfiel: Es muss ca. 1300 (= 10 mal 130) Jahre vor Gregors Reform gewesen sein.

Gregors Bulle Inter gravissimas bemerkt dazu, die Reform wolle den Zustand zur Zeit des Konzils von Nicaea (325 n. Chr.) wiederherstellen. Nun spricht in der Tat viel für die Annahme, dass zu Konzilszeiten der 21. März bereits kalendarischer Frühlingsanfang war. Nur weist nichts darauf hin, dass beim Konzil irgend jemand daran gedacht hätte, den kalendarischen Frühlingsanfang neu zu bestimmen.

Aus diesem und einigen weiteren Gründen (Augustus’ Sonnenuhr, römischer Frühlingsbeginn nach alexandrinischer Gewohnheit) geht Illig davon aus, dass der 21. März schon seit Einführung des julianischen Kalenders im Jahre 45 v. Chr. als kalendarischer Frühlingsanfang galt. Das aber bedeutet, dass die nachchristliche Zeitrechung ca. drei Jahrhunderte zu lange sein muss. [WU 13-64]

12. Warum grenzt Illig die FZ in einem zweiten Schritt auf die Jahre zwischen 614 und 911 n. Chr. ein?

Eine präzise Hypothese ist am leichtesten falsifizierbar und deshalb am aussagekräftigsten. Eine nur vage Schätzung der Länge der FZ oder das Vermeiden jeglicher Festlegung würde die Theorie verwässern; die Diskussion würde sich ins Unverbindliche verlieren. Die Festlegung auf 297 Jahre zwingt Befürworter und Gegner zur klaren Stellungnahme.

Geschichte ist entweder so oder anders verlaufen. Ist die Illig-Hypothese falsch, dann war die FZ entweder kürzer oder länger und muss die Hypothese entsprechend korrigiert werden. Daran ändert nichts, dass für unterschiedliche Regionen und unterschiedliche historische bzw. chronologische Traditionen möglicherweise unterschiedliche Beginn- und Endpunkte der FZ anzusetzen sind. Die Präzision der Illig-These zwingt in solchen Fällen dazu, die Unterschiede genau kenntlich zu machen.

Eine generelle Eingrenzung der FZ auf das 7. bis 9. Jh. gibt insbesondere der Bestand an Architektur vor. Justinianische und ottonische Bauten stehen noch heute und lassen sich nicht wegdiskutieren. In der Zwischenzeit wurde – von Indien bis Island – wenig gebaut. Dieses Wenige weist keine eigentümlichen Stilmerkmale auf und ist deshalb nicht zweifelsfrei datierbar. [siehe hierzu auch Frage 24]

Die “Feinjustierung” ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Das Jahr 614 hält Illig aus zwei Gründen für den Beginn der FZ. Erstens ist es das Jahr, in dem Byzanz Jerusalem und das Heilige Kreuz an die Perser verliert. Das erscheint realistisch, weil Persien unter Chosrau II. immer stärker geworden war. Die anschließenden plötzlichen, märchenhaften byzantinischen Erfolge mit Rückeroberung des Kreuzes (das 637 erneut verloren geht) muten unglaubwürdig an.

Zweitens hatte im Westen der Merowinger Chlothar II. im Jahre 613 gerade alle seinen Verwandten als einziger überlebt. Im nächsten Jahr muss er dann in Paris hinnehmen, dass ihm der Adel Rechte abtrotzt, wie sie aus dem 10. Jh. bekannt sind. Illig nimmt an, dass mit diesem Adelsaufstand im Westfrankenreich die Machtübernahme durch die karolingischen Hausmeier erfolgt, die dann ab 911 noch knapp 80 Jahre als Könige regieren werden. Konrad I. (911-918) mag im Ostfrankenreich der “letzte Merowinger” gewesen sein.

Für das Jahr 911 als Endpunkt der FZ spricht die vorerst weiterhin festzuhaltende Realität des 911 geschlossenen Vertrages zwischen dem Wikingerherrscher Rollo und Karl dem Einfältigen, durch den die Normandie als normannischer Besitz anerkannt wurde. Schließlich hätte jene Region ohne diese Anerkennung heute einen anderen Namen. Auch muss der Übergang der Herrschaft über das Ostfrankenreich auf die Sachsen reale Geschichte gewesen sein. Da dieser 918 auf zwar ungewöhnliche, aber durchaus nachvollziehbare Weise nach dem Tod Konrads I. erfolgte, ist der seit 911 regierende Konrad vermutlich eine reale Gestalt gewesen. [WU 77 ff.]

Die Länge von genau 297 Jahren findet ihre Bestätigung u. a. in einer von Gregor von Tours beobachteten Sonnenfinsternis, die keineswegs im angegebenen Jahr 590 n. Chr. = 1360 BP stattgefunden hat, wohl aber für das Jahr 1063 BP retrokalkuliert werden kann. [WU 144 ff.]

13. Lässt sich Karl der Große denn so einfach aus der Geschichte streichen?

Einfach geht das gewiss nicht. Es ranken sich um Karl jedoch sehr, sehr viele merkwürdige Geschichten, und es gibt eine Fülle von Problemen. Hier eine Auswahl:

Der Leser möge sich durch eigene Lektüre der Bücher Das erfundene Mittelalter und Wer hat an der Uhr gedreht? davon überzeugen, dass es sich bei obiger Aufzählung wirklich nur um eine kleine Auswahl aus einer beeindruckenden Menge von Schwierigkeiten und sonderbaren Erzählungen im Zusammenhang mit Kaiser Karl handelt.

14. Sind künstliche Chronologieverlängerungen ein dem Historiker völlig unbekanntes Phänomen?

Nein, künstliche Chronologieverlängerungen sind dem Historiker durchaus bekannt. Das beste Beispiel ist die vom Archäologen und Ägyptologen Flinders Petrie vorgenommene Chronologieverlängerung der Alten Geschichte. Sir Flinders Petrie, der als Vater der modernen Archäologie gilt, datierte die erste ägyptische Dynastie ins 6. Jt. v. Chr. Heutige Ägyptologen datieren sie – damit Eduard Meyer folgend – ca. 2.500 Jahre später: ein Zeitensprung von zweieinhalb Jahrtausenden. [Birken (2002) 222]

Ein aktuelles Beispiel für eine sich im konventionellen Rahmen bewegende Chronologiedebatte ist die Diskussion um die kurze, mittlere, lange und ultralange Chronologie der mittleren Bronzezeit, die zur Zeit von Orientalisten, Ägyptologen und Archäologen geführt wird. Hier handelt es sich um Zeitensprünge von insgesamt ca. 200 Jahren.

15. Behauptet die FZT, dass die künstliche Chronologieverlängerung des Mittelalters das Produkt einer weltweiten Verschwörung sei?

Nein, eine solche Behauptung unterstellen ihr nur ihre Gegner. Es handelt sich hier um eine Fehlinformation, die u. a. von Tilmann Chladek, Lektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), in vielen Newsgroup-Beiträgen verbreitet wurde. Sie klingt auch in der verzerrenden Darstellung von Illigs These auf Chladeks Homepage an. Für Illigs eigene Sichtweise siehe unten Frage 16 ff.

Auf Chladeks Seiten kommt übrigens der Kölner Archäologe Dr. Sven Schütte ausführlich zu Wort. Schütte macht dort seinem Ruf als unsachlicher Polemiker gegen Illig alle Ehre. Was der angesehene Experte für mittelalterliche Baukunst Günther Binding von Dr. Schüttes Datierungsmethoden hält, hat er in einem Rundfunkinterview einmal unmissverständlich klar gemacht. Das Interview ist nachzulesen in Illigs ZS-Beitrag Köln im Frühdatierungsfieber. Wie oft wird Sven Schütte noch zum Auslöser? [Illig (2008)]

16. Wie kam denn gemäß der FZT die künstliche Chronologieverlängerung des Mittelalters in die Welt?

Illigs vorläufige, in seinem Buch Wer hat an der Uhr gedreht? dargelegte Hypothese lautet, dass die FZ erstmals in zwei unter dem Namen des byzantinischen Chronisten Theophanes geführten Geschichtswerken auftaucht. Vom zweiten Teil dieser Theophanes-Chronik – dem sogenannten Theophanes Continuatus – ist einer der Autoren bekannt: Es ist der Rhomäerkaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos (906-959). Illig nimmt an, dass auch der erste Teil der Chronik, der traditionell einem sonst nicht bekannten Theophanes Confessor zugeschrieben wird, auf das Konto des Porphyrogenneten geht. Für fast drei Jahrhunderte byzantinischer Geschichte ist die Theophanes-Chronik unsere wichtigste, zum Teil sogar unsere einzige Quelle. [vgl. Runciman 294 f. Siehe auch Frage 17, 18, 22, 27, 28 und 29]

17. Ist die Annahme, Konstantin VII. Porphyrogennetos sei der Urheber einer künstlichen Chronologieverlängerung, begründet?

Historiker wissen, dass Konstantin VII. ein Fälscher war. [Norwich II 78] Ob ihm auch eine Zeitfälschung unterstellt werden kann, ist eine Frage, die von Historikern bislang nicht diskutiert wurde.

Bekannt ist, dass unter Konstantin eine interdisziplinär tätige Gelehrtenschar sämtliche Gebiete des Wissens überprüft und die Ergebnisse in eine groß angelegte Enzyklopädie zusammengefasst hat.

Weiter wissen Historiker, dass byzantinische Chronisten irgendwann – wann genau ist nicht bekannt – dazu übergegangen sind, historische Ereignisse nicht mehr nach Seleukidenära (Beginn 312 v. Chr.), sondern nach Weltära (ab Schöpfung der Welt) zu datieren. Illig nimmt an, dass dieser Übergang unter Kaiser Konstantin erfolgt ist und den Zweck hatte, die künstliche Chronologieverlängerung zu verschleiern.

Schließlich ist Historikern bekannt, dass – mit wenigen Ausnahmen – sämtliche antike griechische Majuskelhandschriften verschollen sind. Viele von ihnen sind irgendwann in Minuskel umgeschrieben oder exzerpiert und wahrscheinlich anschließend vernichtet worden. Byzantinisten vermuten, dass der Patriarch Photios im 9. Jh. mit dem Umschreiben und Exzerpieren begonnen hat. Sicher ist, dass diese Tätigkeit bis in Konstantins Zeit fortgesetzt wurde. [Erbse 243 f.] Illig nimmt an, dass Konstantin VII. für die ganze Aktion verantwortlich ist. [WU 165 ff.]

In diesem Umfeld schwer verständlicher und kaum geklärter Begebenheiten, die zumindest zum Teil unter Federführung eines fälschenden Kaisers stattfanden, lässt sich die Erstellung einer Chronik mit erfundener Zeit und erfundenen Ereignissen gut vorstellen. [siehe Frage 16, 22 und 29] Bewiesen ist nichts, aber der Verdacht ist begründet, und es macht Sinn, ihm weiter nachzugehen.

18. Ist es vorstellbar, dass eine gefälschte mittelalterliche Chronik am Ursprung eines unerkannten Kalenderfehlers steht, der heute in allen Geschichtsbüchern und Kalendern der Welt enthalten ist?

Diese Frage zielt auf eine Metaebene. Sie fragt nach der Geschichte der Geschichtsschreibung. Welche historischen Werke genossen zu welcher Zeit Autorität, an welchen Autoren und Autoritäten orientierten sich Historiker vergangener Zeiten, welche Geschichtsbilder und Geschichtserzählungen wurden an die jeweils nächste Generation weitergegeben? Große Bedeutung auf diesem Weg hatten etwa die Weltchronologien des Josephus Justus Scaliger und des Dionysius Petavius.

Byzantinisten wie Cyril Mango – Herausgeber einer englischen Übersetzung des Theophanes Confessor [Mango/Scott] – oder Hans-Georg Beck heben das hohe Ansehen hervor, das der Grieche Theophanes [siehe Frage 16] im lateinischen Westen genoss. Beck spricht in diesem Zusammenhang vom kanonischen Charakter der Theophanes-Chronik. [Beck 436]

Die Autorität des Theophanes im Westen ist gut nachvollziehbar. Im 10. Jh. galt Konstantinopel als das Zentrum der gebildeten Welt. Hier gab es eine kontinuierliche historische Tradition, die aus der griechisch-römischen Antike heraus direkt in das byzantinische Mittelalter führte. Der Westen hatte dagegen den politischen und kulturellen Zusammenbruch des Reiches unter den Hammerschlägen barbarischer, schriftloser Völker erlebt. [Fuhrmann (1994)]

Westliche Kultur war im 10. Jh. – nach dem unerklärt schnellen Untergang der sogenannten karolingischen Renaissance (die es freilich nach Illig nie, jedenfalls nicht im 9. Jh., gegeben hat) – vergleichsweise primitiv und nahm sich an Byzanz ein Vorbild. Die Ottonen unterhielten enge, gar verwandtschaftliche Beziehungen mit dem byzantinischen Kaiserhof. Zur Übersetzung byzantinischer Texte wurde ein künstliches, nirgendwo mehr lebendiges Kirchenlatein verwendet.

Die erste lateinische Übersetzung des Theophanes dürfte für alle späteren Historiker Maßstäbe gesetzt haben. Theophanes’ Kaiserliste und Chronologie, die Antike und Mittelalter bruchlos miteinander zu verknüpfen schienen, gaben das unhinterfragte Gerüst vor, das zur Konstruktion des europäischen Frühmittelalters zuerst im Westen und dann weltweit bis heute gültig geblieben ist. [siehe auch Frage 27 und 29]

19. Beweist nicht die Geschichtsschreibung der arabischen Welt den Irrtum der FZT?

Die Geschichte der arabischen Geschichtsschreibung und deren Beziehung zu Byzanz ist relativ undurchsichtig. Das Hauptwerk für die fraglichen Jahrhunderte zwischen 614 und 911 ist zweifellos at-Tabaris gewaltiges Opus Die Geschichte der Propheten und der Könige – eine Universalgeschichte, die von der Schöpfung der Welt bis ins Jahr 915 n. Chr. reicht.

At-Tabari, ein gebürtiger Perser, der arabisch schrieb, starb 923 und kannte offenbar schon die lange Chronologie. Aber sein Werk ist sehr uneinheitlich. Eine weitgehend geschlossen konzipierte Geschichte des Sassanidenreiches (bis ins 7. Jh.) wird gefolgt von einer Geschichte in Form einer mehr oder weniger chaotischen Sammlung von isnad-Erzählungen (“A erfuhr von B, dem C erzählte, dass er von D gehört hat usw.”). Ein isnad (Überlieferungskette) läuft nicht selten über sechs, sieben oder gar acht Glieder. Über ein und dasselbe Ereignis gibt es gewöhnlich mehrere solcher Erzählungen, die sich oft untereinander widersprechen. Nur manchmal entscheidet sich at-Tabari für eine der vielen Varianten als die richtige. [at-Tabari. Für Beispiele von isnad-Versionen siehe Frage 20]

Zur Beurteilung des at-Tabari-Werkes gibt es aus Sicht der FZT zwei Möglichkeiten. Für die erste Möglichkeit optiert Dr. Klaus Weißgerber in Weißgerber (2000), indem er das Sassanidenbuch at-Tabari selbst und das übrige Werk einer at-Tabari-Schule zuschreibt. Letztere hätte den auf Theophanes [siehe Frage 16] zurückgehenden Kalenderfehler mit eingearbeitet.

Die zweite Möglichkeit rechnet mit einer Entstehung des Kalenderfehlers im islamischen Bereich. Kein anderer als at-Tabari wäre der Urheber der Zeitfälschung. Sein mit dem Jahr 915 abschließendes Werk hat Konstantin VII. bekannt sein können, denn Mas’udi berichtet, dass eine Gesandtschaft des Konstantin 917 mit feierlichem Zeremoniell vom Kalifen al-Muqtadir in Bagdad empfangen wurde. [Hitti 302]

Weitere Forschung ist notwendig, um hier Klarheit zu bringen. Gründe und Anknüpfungspunkte für Kürzungen der arabischen Mittelaltergeschichte gibt es genug. Da gibt es etwa die märchenhaften Erzählungen über die frühe Abbasidendynastie in Bagdad. Oder die Merkwürdigkeit, dass die ägyptischen Fatimiden, die im 10. Jh. regieren, in Handwerk und Kunst direkt an die Sassaniden des 7. Jh. anknüpfen. [Hitti 631] Oder die Wahrscheinlichkeit, dass es persische Truppen waren, die im späten 6. oder frühen 7. = 10. Jh. Nordafrika und Spanien eroberten. Oder auch die Beobachtung, dass praktisch die Gesamtheit der maurischen Architektur in Spanien erst ab dem 10. Jh. entstanden ist. [WU 103-106. Siehe zur Chronologie der arabischen Welt Frage 20, 21, 27, 28 und 29]

20. Beginnt die islamische Zeitrechung denn nicht im Jahre 622 n. Chr. mit der Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina?

Die hidschra – die Flucht des Mohammed von Mekka nach Medina im Jahre 622 n. Chr. – gilt als Beginn der islamischen Zeitrechnung. Nach der FZT ist dieses Jahr identisch mit dem Jahr 919 n. Chr. Das ist aber eindeutig zu spät für das Auftreten Mohammeds und die Politisierung des Islam. Zum Beispiel hätte at-Tabari, der konventionell 923 n. Chr. starb, nicht mehr über den Tod des Propheten und die Verbreitung des Islam berichten können.

Manfred Zeller und Klaus Weißgerber haben in den ZS argumentiert, dass die hidschra möglicherweise um mehrere Jahrzehnte zurückzudatieren ist.

Weißgerber (2000) weist auf einen auch traditionellen Historikern bekannten, bislang unerklärten Widerspruch hin: Mohammed wurde im sogenannten Jahr des Elefanten geboren. In diesem Jahr zog der äthiopische Heerführer Abrahas, der in seiner Armee einen (nach einer anderen isnad-Erzählung: dreizehn) Elefanten mitführte, gegen Mekka. Heimgesucht von einer rätselhaften Seuche (nach einem anderen isnad: weil der Elefant nicht mehr weiter wollte) rückte die Armee wieder ab. [at-Tabari V 222-235. Zum Begriff “isnad” siehe Frage 19] Als Jahr des Elefanten gilt konventionell das Jahr 570 n. Chr. Problem: Abrahas war zu dieser Zeit schon seit mindestens zwölf Jahren tot. Weißgerber gibt gute Gründe dafür an, dass der Abrahas-Feldzug im Jahre 544 n. Chr. erfolgt sein muss. Deshalb hält er dieses Jahr für das Geburtsjahr Mohammeds.

Manfred Zeller hatte schon aufgrund einer Analyse von Architektur und Münzen der Omajjaden diese Dynastie 78 Jahre früher als üblich datiert. Weitere Überlegungen brachten ihn dazu, auch die hidschra um 78 Jahre rückzudatieren. Damit fällt sie mit dem Jahr zusammen, das Weißgerber als das Jahr des Elefanten rekonstruiert hat (622 minus 78 ergibt 544 n. Chr.). [Zeller (1993a) und (1993b)]

In letzter Zeit lässt sich bei Vertretern der FZT eine Tendenz feststellen, die Historizität der Erzählungen über die Entstehung des Islam überhaupt in Frage zu stellen. Autoren wie Nevo/Koren, Ohlig/Popp und Muhammad Kalisch finden verstärkt Gehör. Sie wenden die historisch-kritischen Methoden, mit denen auch die Geschichte des Judentums und des Christentums erforscht werden, auf den Islam an. [Weißgerber (2007), Zeller (2008), Beaufort (2008)] Weißgerber steht weiterhin zu seiner These, dass das Jahr 544 als Jahr des Elefanten der Anfang einer neuen arabischen Zeitrechnung war. Die frühen Kalifen datierten ihre Münzen nach dieser Zeitrechnung und sind entsprechend einzuordnen. [ebd. 125]

21. Aber selbst wenn wir einmal versuchsweise annehmen, dass eine Zeitfälschung im von Illig vermuteten Umfang möglich war, was könnte denn das Motiv gewesen sein?

Die Frage nach dem Motiv ist noch nicht endgültig geklärt. Illig hat für den Westen und für Byzanz – wo er den Ursprung der Chronologieverlängerung vermutet [siehe Frage 16] – einige plausible Motive genannt. [siehe Frage 22] Illigs Vorschläge haben jedoch die Diskussion um das Motiv nicht beruhigen können. Auch gab es bislang keine Antwort auf die Frage, warum denn die arabische Welt den Zeitensprung übernommen hätte.

Schon Uwe Topper [siehe Frage 6] war aufgefallen, dass zwischen dem Jahr des Konzils von Nicaea (325 n. Chr.) und der hidschra (Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahre 622 n. Chr.) genau jene 297 Jahre liegen, auf die Illig die FZ eingrenzt. Dieser Zusammenhang könnte sachlich begründet sein, denn beim Konzil wurde der Ketzer Arius verurteilt, der – wie später Mohammed – lehrte, dass Jesus nicht Gott war. [Topper (1999)]

Toppers Lösung, die “Mohammedaner” kurzerhand mit den Arianern gleichzusetzen, ist aus mehreren Gründen problematisch. [vgl. Beaufort (2008)] Ein historischer Zusammenhang zwischen Arianismus und Islam ist aber so naheliegend (er würde u. a. die schnelle Islamisierung des vormals arianischen Nordafrika und Spanien verständlich machen), dass man sich fragen muss, weshalb er von Historikern nicht schon viel früher in Erwägung gezogen wurde.

Weitere Forschung in diese Richtung hätte zu klären, wie sich die arianische Vorgeschichte in der islamischen Tradition reflektiert. Ist der sich radikal an moralischen, inneren Werten orientierende Arianismus gleichzusetzen mit dem sich radikal an moralischen, inneren Werten orientierenden Schiismus? Diese erstaunlich frühe ketzerische Abspaltung von der sunnitischen Hauptströmung leitet sich von Mohammeds mythischem Schwiegersohn ‘Ali her und stellt diesen als Propheten über Mohammed. Bekannt ist, dass sich die Schi’a (= Partei, sc. des ‘Ali) bald selbst wieder spaltete, weil die Hauptrichtung einem historischen Kompromiss mit den Anhängern Mohammeds zugestimmt hatte, der von einer Minderheit abgelehnt wurde.

Die schiitischen Alawiten feiern noch heute Weihnachten und Ostern und halten den Koran für eine Fälschung. Von ‘Ali sind antitrinitarische Predigte überliefert, die auch von Arius hätten stammen können. Möglicherweise wurde die Geschichte der Anhänger des Arius = ‘Ali von der at-Tabari-Schule [siehe Frage 19] um 297 Jahre auseinander gerissen, um die Identität der Aliden mit den christlichen Arianern vergessen zu machen. Immerhin berichten auch Islamwissenschaftler über christliche Wurzeln des Islam und eine spätere Tendenz, diese zu verdrängen. [vgl. Lüling (1981) und (1993)]

Diese Überlegungen könnten zur Klärung des Motivs der Chronologieverlängerung im arabischen Bereich beitragen. [siehe zu diesem Thema auch Frage 28 sowie Müller und Beaufort (2008)] Dass sich im übrigen der Islam aus Zeitensprüngen nicht viel macht, beweist der Koran, der umstandslos Maria, die Mutter von Jesus, mit Mirjam, der Schwester des Moses und Aaron, gleichsetzt: ein Zeitensprung von ca. 12 Jahrhunderten.

22. Aber auch wenn es im islamischen Bereich gute Gründe für eine Zeitfälschung gegeben haben mag, die Frage bleibt: Welches Motiv hatte der Ersterfinder der FZ?

Hauptverdächtiger der Zeitfälschung bleibt nach wie vor Konstantin VII., der Gelehrte auf dem Kaiserthron des kultiviertesten Staates der damaligen Welt. Dass er wie kein anderer über die Mittel zu einer solchen Aktion verfügte, ist bekannt. [siehe Frage 17 und 27] Warum also erfand er drei Jahrhunderte Leerzeit und füllte sie mit fiktiver Geschichte?

Illig gibt zwei denkbare Hauptmotive an. Zum einen mag Konstantin persönliche bzw. dynastische Gründe gehabt haben, indem er mit Hilfe der verlängerten Chronologie seine mutmaßliche Abstammung vom Kaisermörder Phokas zu verheimlichen suchte. Zum anderen war es auf dem Weg der Geschichtserfindung möglich, den Verlust des Heiligen Kreuzes an die Perser [siehe Frage 12] durch Verschiebung in eine ferne Vergangenheit erfolgreich zu verdrängen. [WU 157-184]

Neben diesen von Illig genannten Motiven könnten weitere Gründe im Spiel gewesen sein. So wurde durch Konstantins Chronologiemanipulation die religiöse Reform des Kaisers Justinian (gest. 565) um drei Jahrhunderte zurückdatiert. Über diese allem Anschein nach tiefgreifende Reform gibt es kaum verlässliche Informationen, dafür aber viele offensichtlich verzerrende Darstellungen. Justinian hatte den orthodoxen Katholizismus zur einzigen Reichsreligion erhoben und unnachsichtig durchgesetzt. Dabei verbot er unter anderem die arianische Kirche [siehe Frage 21] und konfiszierte ihre Güter. Auf Justinian geht vermutlich die Neuerung zurück, die gemeinsame Mahlzeit der Urchristen durch die hinter einer Ikonostase aufgeführte Messe zu ersetzen. Möglicherweise verfolgte die konstantinische Geschichtsfälschung das Ziel, den Eindruck zu verstärken, den schon Justinian selbst zu erwecken versuchte: dass nämlich der Katholizismus die christliche Urreligion war. [siehe Beaufort (2004) und (2008) zu einer Hypothese über den wirklichen Umfang der justinianischen Reform]

Der neueste Erklärungsversuch geht aus von Andreas Birkens These, nach der Dionysius Exiguus [siehe Frage 23] dem Fälschungskomplex Synkellos-Theophanes-Konstantin VII. zuzuordnen ist. [Birken (2006)] Wenn die These zutrifft, lagen der Chronologiereform des Kaisers Konstantin komputistische Interessen zu Grunde. Dann aber drängt sich die Vermutung auf, dass es Konstantin um die reichseinheitliche Regelung der Osterfestberechnung und die Beilegung des antiken Osterstreits ging. [Beaufort (2007)]

Im Westen ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass der Kalendersprung nicht erkannt wurde. Illig nimmt an, dass es Otto III. und der von ihm ernannte Papst Sylvester II. (= der Gelehrte Gerbert von Aurillac) waren, die unsere christliche Zeitrechnung und zugleich damit die Chronologieverlängerung einführten. [WU 125-216]

Gerbert kannte Theophanes: Byzantinische Bildung wurde ihm über den Kaiserhof vermittelt. Außerdem hat er während eines Spanienaufenthalts islamische Gelehrsamkeit und wohl auch die islamische Zeitrechung kennen gelernt. [Lausser] Von zwei Seiten wurde die lange Chronologie also bestätigt. Da ein kontinuierliches historisches Bewusstsein im Westen fehlte [siehe Frage 18], blieb keine andere Wahl, als den historischen Fehler der anderen zu übernehmen.

Sollte dieses Szenario stimmen, erübrigt sich für den Westen die Suche nach einem Motiv. Sollte es aber nicht zutreffen und Otto und Gerbert bewusst manipuliert haben, dürfte neben dem auch im Westen anzunehmenden Interesse an einer Beilegung des Osterstreits das von Illig angegebene Motiv das plausibelste sein: Otto wollte als Endzeitkaiser und Servus Jesu Christi das Reich in ein neues Millennium führen (wie sein Siegel für das Jahr 1000 belegt). [WU 250 ff.]

23. Wurde unsere christliche Zeitrechnung denn nicht im 6. Jh. von Dionysius Exiguus begründet?

Jahrhundertelang galt der römische Mönch Dionysius Exiguus als der erste, der die christliche Zeitrechnung verwendete. [Ideler, Borst (1990), Maier] In seiner 525 n. Chr. vorgelegten Ostertafel zählte er die Jahre ab incarnatione Domini (was meistens als “nach Christi Geburt” verstanden wird). Damit nahm er ausdrücklich von der vormaligen christlichen Gewohnheit Abstand, die Jahre nach Diokletiansära [siehe Frage 4] zu zählen – hielt er doch Diokletian für einen Gottlosen (impius) und Christenverfolger. [Ideler II 376]

Arno Borst hat 1998 einen früheren Autor entdeckt. Es handelt sich um Furius Dionysius Philocalus, den Kalligraphen des Papstes Damasus I. Im Jahre 354 n. Chr. schrieb er den bedeutendsten christlichen Kalender der Spätantike. Die vorchristlichen Jahre zählte er darin ab urbe condita, die nachchristlichen ab Christi Geburt. [Borst (1998) 42, WU 16 f.]

Philocalus fand offensichtlich keine Nachfolger. Auch Exiguus kann nicht eigentlich als ein solcher betrachtet werden, da er Philocalus nicht erwähnt und seine eigene Zeitrechnung als Neuschöpfung darstellt. Erstaunlich ist wohl, dass er die Jahre nach Christi Geburt genauso zählt wie Philocalus. Das ist deshalb erstaunlich, weil das Geburtsdatum Christi immer (und bis heute) umstritten war. Aufklärung bringt hier vermutlich der Umstand, dass die ältesten erhaltenen Exemplare des Philocalus-Kalenders aus dem 16. Jh. stammen – also dem Jahrhundert der gregorianischen Kalenderreform. [LexMA Art. Spätrömische Buchmalerei]

Ebensowenig wie Philocalus fand Exiguus Komputisten oder Chronisten, die es ihm gleichtun wollten. Von vereinzelten, unsicheren Ausnahmen abgesehen war der englische Benediktiner Beda Venerabilis (ca. 672 – 735 n. Chr.) der nächste, der nach Christi Geburt datierte. Beda ist unter anderem deshalb problematisch, weil er sich nur schwer von einem Historikern bekannten Pseudo-Beda abgrenzen lässt. Auffällig ist etwa, dass er als erster von Christi Geburt an rückwärts zählt, was frühestens um 1070 n. Chr. – also drei Jahrhunderte später – wieder von anderen Chronisten gemacht wird. [WU 123]

Seit Beda findet sich die dionysische Ära häufiger. Karl der Große war der erste Regent, der sich ihrer in Edikten und Diplomen bediente – allerdings nur gelegentlich. Vereinzelt verwendet sie auch Ludwig der Fromme. Seine Söhne Lothar, Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle datieren ihre zahlreich vorhandenen Akten hingegen lediglich nach Regierungsjahren und Indiktionen. Erst Karl der Dicke rechnet wieder nach Jahren Christi. Er tut dies so oft, dass ihn einige für den Urheber der Methode gehalten haben. [Ideler II 376 ff.]

Nach einer erneuten Unterbrechung wird dann im 10. Jh. der Gebrauch häufiger. Spätestens seit Ende des 10. Jh. ist er weit verbreitet. Allerdings ist er noch keineswegs allgemein bekannt und anerkannt. In zahlreichen Urkunden findet er sich gleichwertig neben anderen Datierungsweisen. Auch dauert es noch lange, bis Einigkeit über den Beginn der Ära herrscht. So war im 12. Jh. außer der Zählung secundum Dionysium eine Ära secundum Evangelium geläufig, die mal 22, mal 23 Jahre früher einsetzt. Päpste waren mit dem Gebrauch sehr zurückhaltend, erst Eugen IV. datiert im 15. Jh. seine Bullen dionysisch. [Ideler II 378 ff.]

Aus der Sicht der FZT ist der Umstand wichtig, dass der Ansatz des Dionysius Exiguus zunächst folgenlos blieb und in Vergessenheit geriet. Die weitere Entwicklung sieht gemäß Illig so aus, dass die Datierung nach Christi Geburt nicht erstmals wieder bei einem verdächtigen Beda und ebenso verdächtigen Karolingern, sondern frühestens im 10. Jh. in Gebrauch kam und durch Otto III. und Sylvester II. sanktioniert wurde. Angeblich ältere urkundliche Verwendungen der christlichen Ära seien auf – Mediävisten vertraute – Manipulation der Datumszeile zurückzuführen. [WU 205 ff.]

24. Wie steht es mit dem Rest der Welt? Es gibt doch nicht überall dunkle Jahrhunderte?

Archäologisch bzw. kunsthistorisch dunkle Jahrhunderte und/oder Lücken bzw. Verdoppelungen der Geschichtsschreibung des Frühmittelalters lassen sich nachweisen für u. a. Island, England, das Frankenreich, Spanien, Ungarn, Byzanz, Armenien, Georgien, Russland, Polen, Sizilien sowie für zahlreiche einzelne Städte. [Otte (2008a). Siehe exemplarisch für Bayern: Illig/Anwander] Jüdische Literatur schweigt für mehr als zwei Jahrhunderte. [Heinsohn (1991), WU 130]

Fehlende Bauten im Westen werden konventionell durch die Einfälle der Wikinger erklärt. Sie kamen jeden Frühling, plünderten und brandschatzten das Land und zogen im Herbst wieder ab. [Kinder/Hilgemann 131] Von diesen Wikinger-Raubzügen fehlt archäologisch jede Spur. [WU 97 ff.] Im Osten (Georgien und Armenien) wird das Fehlen von Kirchen für die fragliche Zeit mit regelmäßigen Sarazeneneinfällen begründet.

Einige bemerkenswerte doppelte Datierungen sind:

Die Geschichte Chinas ist von der künstlichen Chronologieverlängerung vermutlich nicht betroffen.

25. Lässt sich die FZT nicht mit Hilfe von computergestützten astronomischen Retrokalkulationen widerlegen?

Astronomen glauben mittlerweile nicht mehr, dass sich Illigs These durch Angaben über Sonnenfinsternisse in alten Quellen widerlegen lässt. Dazu der Astronom Prof. Dieter B. Herrmann: “Ein bis ins letzte unanfechtbarer Beweis gegen Illigs These kann allein anhand von historischen Sonnenfinsternissen wohl nicht geführt werden.” [Herrmann 213 f.]

Auch die Hoffnung, anhand der Sternlängen in Claudius Ptolemäus’ Almagest die seit Ptolemäus’ Zeit (2. Jh. n. Chr.) vergangenen Jahre zu berechnen, muss aufgegeben werden. Zwar wissen Astronomen, dass sich aufgrund der Präzession der Erdachse die ekliptikale Länge eines Sterns alle 72 Jahre um 1° ändert. Demnach müsste sich aus den Längenangaben im Sternkatalog des Almagest ableiten lassen, wie viel Zeit seit der Niederschrift des Werkes verstrichen ist. [vgl. Krojer 7-15. Mit dem vom wissenschaftlichen Standpunkt problematischen Krojer-Buch befassen sich Illig (2003), Beaufort (2003) und Heinsohn (2003)] Die Datierung dieser Niederschrift ist jedoch alles andere als sicher. Außerdem ist die Urfassung des Almagest sowohl im griechischen Original als auch in den Übersetzungen verschollen. Wie der Arabist Paul Kunitzsch mit Hilfe von Zitaten und Spuren bei anderen Autoren zeigen konnte, wich diese Urfassung vom heute vorliegenden Text – gerade auch im Bereich der Sternkoordinaten – erheblich ab. [vgl. Kunitzsch (1974), Kunitzsch (1975) und Beaufort (2001)]

Die aktuelle Diskussion konzentriert sich auf Angaben über Sonnen- und Mondfinsternisse in babylonischen Keilschrifttafeln. Viele dieser Angaben, die auf jahrhundertelange systematische Himmelsbeobachtung zurückgehen, sind sehr präzise. Zum Teil widersprechen sie der FZT. Es ist jedoch bisher nicht zweifelsfrei gelungen, die Tafeln unabhängig von astronomischen Retrokalkulationen zu datieren, so dass hier überall Zirkelschlüsse drohen. Auch können die Keilschriftdaten nur unter Voraussetzung der FZT problemlos mit der heute gemessenen allmählichen Verlangsamung der Erdrotation (Δ T) in Einklang gebracht werden. Die Befürworter einer langen Mittelalterchronologie müssen entweder annehmen, dass diese Verlangsamung seit den babylonischen Aufzeichnungen drei Jahrhunderte ausgesetzt hat, oder dass die Erdrotation mindestens einmal vergleichsweise stark beschleunigt wurde. [vgl. zu diesem Komplex van Gent (o. J.) und Stephenson (1997)]

26. Beweisen nicht naturwissenschaftliche Datierungsverfahren wie C14 und Dendrochronologie den Widersinn der FZT?

Radiokarbondatierung (C14) und Datierung mittels Dendrochronologie sind keine einfachen, unproblematischen Methoden. C14-Datierungen sind statistische Werte. Sie werden durch folgendes Verfahren gewonnen [nach Blöss/Niemitz]:

Verbleibende Probleme sind u. a.:

27. Müsste die gewaltige, von der FZT postulierte Zeitfälschung nicht überall Spuren hinterlassen haben?

Wenn wir davon ausgehen, dass die Fälschung der Mittelalterchronologie in der arabischen oder byzantinischen Welt entstanden ist und im lateinischen Westen weitgehend oder gänzlich unerkannt übernommen wurde, dann sind zumindest im Westen keine anderen Spuren von Fälschungsaktivitäten zu erwarten als solche, die ohnehin bekannt sind.

Dass insbesondere Benediktinerskriptorien Fälscherwerkstätten waren, weiß der Historiker. Ebenso kennt er richtige Fälschungszentren wie die Klöster Reichenau, St. Gallen, Fulda oder St. Denis. Das Fälschen bestand hauptsächlich im Rückdatieren von Schriften und Urkunden (allerdings auch von Kunstgegenständen, Bauten und Reliquien). Hinzu kamen erfundene Geschichten und biographische Erzählungen. [siehe FM und VL] Theologische Auseinandersetzungen wurden mit Hilfe rückdatierter, pseudepigraphierter Schriften ausgetragen: Das brachte im Falle der Zustimmung aus Rom Autorität (vgl. Dionysius Pseudo-Areopagita) und schützte bei Ablehnung durch den Papst vor Verketzerung der eigenen Person. [LexMA Art. Pseudepigraphie]

Der Zusammenhang aller dieser erfundenen Datierungen und Geschichten mag zum Teil organisiert gewesen sein (die Benediktinerkongregationen unterstanden Rom). Zum Teil mag er seinen Ursprung aber auch darin haben, dass sich jeder auf das bereits Vorhandene sinnvoll beziehen musste, um ernstgenommen zu werden.

Bei alledem ist zu bedenken, dass lange Zeit praktisch nur Mönche lesen und schreiben konnten, dass nahezu ausschließlich lateinisch geschrieben und gelesen wurde und dass nur in Klöstern Bibliotheken vorhanden waren. Es gab also einen äußerst selektiven Zugang zur literarischen Bildung. Auch fehlte jegliche Korrekturmöglichkeit von außerhalb. Die Umstände zur relativ beliebigen Konstruktion von Geschichten und Geschichte waren im Mittelalter geradezu ideal. [siehe zu diesem Thema auch Frage 30]

In Byzanz mag die Schriftenproduktion strenger herrschaftlich kontrolliert gewesen sein als im Westen. Der byzantinische Caesaropapismus machte den Kaiser zum Oberhaupt sowohl der Kirche als auch des Staates. Dass unter Konstantin VII., dem Fälscher auf dem Kaiserthron, systematisch und gut organisiert Geschichte geschrieben wurde, ist Historikern bekannt. [siehe Frage 17]

In der arabischen Welt schließlich wäre die vergleichsweise größte Diversität der Geschichtsschreibung zu erwarten. Denn der arabische Einflussbereich umfasste nach der Eroberung Nordafrikas und Spaniens mit vor allem Persien, Syrien und Ägypten mehrere traditionelle und voneinander durchweg unabhängige Bildungszentren.

Nimmt man allerdings mit Illig an, dass dieses Reich jahrzehntelang von den persischen Sassaniden beherrscht wurde, dann wird auch für den islamischen Raum eine Zentralisierung der Geschichtsschreibung vorstellbar. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass es der Perser at-Tabari war, der die für islamische Historiker bestimmend gewordene Frühmittelaltergeschichte geschrieben hat.

28. Gibt es denn wirklich nirgendwo Spuren mehr von der “größten Zeitfälschung der Geschichte” (Illig)? Das wäre doch kaum vorstellbar?

Wie gesagt: Es stimmt nicht, dass es keine Spuren gibt. Für den Westen wissen Historiker, dass im Mittelalter massenhaft und nicht selten im Zusammenhang gefälscht wurde. Dafür gibt es nicht wegzudiskutierende Belege. Die Zeitfälschung bringt hier nicht wirklich etwas Neues. Wo nur wenige des Lesens und Schreibens mächtig waren und die Schriftenproduktion von König, Kaiser oder Papst kontrolliert werden konnte, war auch das Geschichtsbild manipulierbar.

Indizien speziell für eine Zeitfälschung werden seit Jahren von ZS-Autoren zusammengetragen. Nur ein Bruchteil von ihnen konnte in dieser Einführung angesprochen werden. [siehe Frage 10, 11, 12, 13, 16, 17, 19, 20, 21, 23, 24, 25 und 26]

Die schönste und vielleicht hintergründigste Spur wurde von Uwe Topper entdeckt. Wo es nur offizielle und keine freie oppositionelle Geschichtsschreibung gibt, taucht historische Wahrheit in den Bereich des inoffiziell Überlieferten, der mündlichen Tradition, der Sagen und Mythen, der Religion ab. Topper stieß auf jene Legende, die als eine der wenigen sowohl in der islamischen als auch in der christlichen Welt erzählt wurde bzw. wird: auf die Siebenschläferlegende. [Topper (1994)]

Der 27. Juni ist Siebenschläfertag. Am Siebenschläfertag gedenkt die Christenheit der Heiligen Siebenschläfer von Ephesos. Diese sieben Jünglinge versteckten sich vor einer Christenverfolgung unter Kaiser Decius in einer Höhle, wo sie einschliefen und erst Jahrhunderte später erwachten. Die Siebenschläfer wurden nicht nur in Byzanz, sondern auch im christlichen Westen und im islamischen Osten verehrt. Sie schliefen je nach Überlieferung zwischen 190 und 372 Jahren. Nach der 18. Sure des Koran (“Allah weiß am besten, wie lange sie verweilten”) schliefen sie 309 Mondjahre = 300 Sonnenjahre. [siehe Frage 3]

Die Siebenschläferlegende ist im 6. Jh. entstanden, vermutlich erstmals im syrischen Sprachbereich. Auffällig ist, dass die Siebenschläfer in der islamischen Welt eine viel stärkere Verehrung genossen bzw. genießen als in Byzanz und im Westen. Noch heute gibt es vielerorts Siebenschläferhöhlen, die als Wallfahrtsstätten jährlich mit großen Besucherzahlen rechnen können. Die Siebenschläfersure des Koran dient zur Vorbereitung auf den Freitagsritus und wird mehrmals im Jahr rezitiert. [Kandler]

Hauptsächlich zwei Versionen der Siebenschläferlegende sind im islamischen Raum verbreitet. Die erste ist die Variante des bei at-Tabari zitierten Ibn-Ishaq. Nach dieser Version waren die Siebenschläfer Christen. Sie deckt sich weitgehend mit der christlichen Legende. Nach der zweiten Version des ‘Ali, des Schwiegersohns des Mohammed, waren die Siebenschläfer Muslime.

Die schiitischen Ismaeliten (die sogenannte Siebenerschi’a) glauben, dass die Siebenschläfer die von ‘Ali abstammenden, als einzig legitime Nachfolger des Propheten anerkannten Imame (religiöse Führer) sind. Sie hielten sich während einer 309 Mondjahre dauernden “Zeit der Ungerechtigkeit” in der Höhle versteckt. Im Jahre 309 der hidschra (= 922 n. Chr.) begann die Zeit der Fatimiden, die sich von ‘Alis Frau Fatima herleiten und die Verkündigungen der Siebenschläfer erfüllen sollten. Nach der sogenannten Zwölferschi’a sind die 309 Jahre die Regierungszeit des künftigen Mahdi, des als Messias wiederkehrenden letzten Imams. [Kandler 53. Siehe zum Schiismus auch Frage 21]

29. Soll denn nie jemand den Betrug gemerkt haben? Durch die FZ wurden doch Genealogien oder gar Biographien von Einzelpersonen auseinander gerissen – das muss doch irgendjemandem aufgefallen sein?

Die richtige Frage ist, wem was aufgefallen sein könnte. Wer las at-Tabari [siehe Frage 19], wer las Theophanes [siehe Frage 16]? Selbst bei den kultiviertesten Völkern des Mittelalters wie den Rhomäern, Persern, Syrern oder Ägyptern war das Lesen und Schreiben Privileg einer dünnen Oberschicht. Bei fehlender allgemeiner Schulbildung war der Analphabetismus das Normale. Soweit außerhalb der Gelehrtenkaste gelesen und geschrieben wurde, handelte es sich um das Aufstellen und Prüfen von Verträgen und geschah zu rein praktischen – wirtschaftlichen oder politischen – Zwecken.

Besaßen also nur wenige die literarische Bildung, um at-Tabari oder Theophanes lesen zu können, so bestand das nächste Problem darin, an die Texte heranzukommen. Wie viele at-Tabari- und Theophanes-Handschriften gab es denn? Wo wurden sie aufbewahrt, wer hatte Zugang zu ihnen? Wie auch immer diese Fragen genau zu beantworten sind, klar dürfte sein, dass hier eine weitere Auslese stattfand.

Dazu kommt als dritte Hürde die eingeschränkte Kontrollmöglichkeit. Wie wäre denn zu überprüfen gewesen, ob at-Tabari oder Theophanes Recht hatten? Der Wahrheitsgehalt von historischen Werken lässt sich – wenn überhaupt – anhand von anderen historischen Werken oder durch Vergleich mit materiellen Überresten feststellen. Wer aber war im 10. Jh. dazu in der Lage? Andere historische Werke über die FZ gab es (noch) nicht. Und wer interessierte sich im Mittelalter schon für irgendwelche materielle Reste vergangener Zeiten?

Nicht einfach war es zweifellos auch, über größere geographische Distanzen sowie über nationale bzw. sprachliche Grenzen hinweg die Angaben der Chronisten kritisch zu prüfen. Wer wusste in Konstantinopel etwas darüber, was in Bagdad oder auf der arabischen Halbinsel los war? Oder was wusste der Perser über Vorgänge in Ägypten oder Spanien?

Zu bedenken ist schließlich, dass gerade die entscheidenden Werke des at-Tabari und des Theophanes den Bezugspunkt der Chronologie ändern (at-Tabari führt die hidschra-Zählung ein, Theophanes eine neue Schöpfungsära), während allem Anschein nach auch Juden und westliche Christen im 10. Jh. ihre Zeitrechnung umstellen. [siehe Frage 4, 17, 19, 20, 23] Diese Manipulationen dürften es dem Nicht-Eingeweihten noch einmal beträchtlich erschwert haben, die Chronologieverlängerung zu erkennen. [WU 121 ff.]

Wenn trotz aller dieser Hindernisse dann doch der eine oder andere gelehrte Kopf Verdacht geschöpft hat: Welches Interesse hätte er daran haben können, seinem Verdacht auf den Grund zu gehen? Wie ernst wird er die erfundene Geschichte genommen haben? Wird er sich wirklich gleich – gar voller Wut über soviel betrügerische Unverfrorenheit – zu einem großen historischen Gegenentwurf aufgeschwungen haben?

Am ehesten wäre vorstellbar, dass einer oder mehrere der Gelehrten, die sich aktiv am Fälschen beteiligten – sei es aus dem Kreis um Konstantin VII., sei es aus einer vermuteten at-Tabari-Schule –, den Betrug nicht länger mitmachen wollte. Aber auch dieses Gedankenspiel erscheint unrealistisch. Hätten Deserteure und Verräter überlebt? Wenn ja, hätten sie dann die Möglichkeit gehabt, sich unabhängig schriftlich zu äußern? Und zu guter letzt: Wäre ihnen geglaubt worden?

Aus alledem folgt, dass es schon für Zeitgenossen nicht gerade einfach war, der künstlichen Chronologieverlängerung auf die Spur zu kommen oder gar sie aufzudecken. Umso schwieriger wurde es für spätere Generationen. Dass es heute vielleicht gelingen könnte, sie in ihrem ganzen Ausmaß zu rekonstruieren, dürfte den beispiellos verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten der Informationsgesellschaft zu verdanken sein. Der heutige Chronologiekritiker ist kein einsamer Forscher mehr, sondern hat die Möglichkeit, seine Erkenntnisse mit anderen zu teilen bzw. zu diskutieren. Das verschafft der Kritik den erforderlichen langen Atem, um gegen die allgegenwärtige Skepsis durchzuhalten. Ob das am Ende reichen wird, wird die Zukunft lehren.

30. Letzte Frage: Wurde denn im Mittelalter wirklich soviel gefälscht, oder behaupten das nur die Vertreter der FZT? Und ist es eigentlich nicht fast ausgeschlossen, dass sämtliche Schriften der Karolingerzeit gefälscht wurden?

Das Thema Fälschungen ist ein gefährliches und unerfreuliches. Historiker fassen es mit Samthandschuhen an. Sie halten sich häufig bedeckt, vermeiden es, Ross und Reiter zu nennen und verstecken sich hinter Ironie und Selbstironie – damit andeutend, dass sie mehr wissen als sie sagen. Die FZT hingegen macht es nötig, das Thema offen anzusprechen und durchzudiskutieren. Dieser Umstand mag mit eine Erklärung dafür sein, dass sich Historiker nur ungern mit ihr befassen.

Dabei bietet gerade die FZT die Möglichkeit, mit dem mittelalterlichen Fälschungsproblem in ganz neuer Weise umzugehen und tiefsitzende Denkzwänge aufzulockern. Denn anders als alle frühere Kritik des mittelalterlichen Fälschens versteht sich die FZT nicht als Religions-, Konfessions-, Kirchen- oder Ordenskritik. Moral- und Legitimationsfragen interessieren sie bestenfalls am Rande. Sie hat – wie oben gezeigt [siehe Frage 6, 7, 8 und 10] – ihre Wurzeln ganz woanders und kann deshalb unbefangen an das Thema herangehen. Unter dieser Voraussetzung stehen die folgenden Ausführungen.

Dass im Mittelalter außergewöhnlich viel gefälscht wurde, ist unter Historikern nicht umstritten. Im Kapitel Fälschungen über Fälschungen seiner Einladung ins Mittelalter schreibt Horst Fuhrmann: “Die Zahl der Fälschungen und der Umgang mit ihnen übersteigt in vielen Fällen unsere Vorstellung.” [Fuhrmann (1987) 195]

Gefälscht wurde alles, was sich fälschen ließ: Urkunden, Siegel, Münzen, Briefe, Briefsammlungen, Vitae, Genealogien, Gesta, Chroniken, Annalen, Güterverzeichnisse, Bibliothekskataloge, Martyrologien, Nekrologien usw. Hinzu kommen als Nebenformen oder Unterarten des Fälschens das Pseudepigraphieren, das Erfinden von Personen und Geschichten und das Rückdatieren von Schriften, Kunstwerken, Bauten, Reliquien sowie von allen denkbaren Stiftungen und Gründungen. [FM und VL]

Der Sinn dieser Tätigkeit war hauptsächlich das Untermauern von Geltungsansprüchen jedweder Art. Diese beschränkten sich nicht auf materielle (Besitz-)Ansprüche, sondern schlossen sämtliche Rechts- und Machtansprüche mit ein. Außerdem wurden theologische und philosophische Streitigkeiten mit gefälschten, pseudepigraphierten und rückdatierten Schriften ausgetragen. [FM und VL] Über das unmittelbar praktische Motiv hinaus mögen dabei andere Faktoren (etwa die Lust am Fantasieren und Fabulieren) mit im Spiel gewesen sein.

Im Vordergrund des Forschungsinteresses steht seit langem das Fälschen von Urkunden. Dieses war der Hauptgrund für das Entstehen einer eigenen Urkundenwissenschaft (Diplomatik) im 17. Jh. [von Brandt 98] Als Begründer der Diplomatik gilt der Benediktiner Jean Mabillon (1632-1707), der mit seinem sechsbändigen Werk De re diplomatica jesuitischen Fälschungsvorwürfen begegnete. Der Jesuit Jean Hardouin (1646-1729) reagierte auf dieses Unternehmen mit dem versuchten Nachweis, dass sämtliche mittelalterliche Urkunden benediktinische Fälschungen waren. [Lelarge]

Die Diplomatik folgte bislang Mabillon und nicht Hardouin. Allerdings kann ein Ahasver von Brandt im Einklang mit Horst Fuhrmann schreiben: “Die Fälschung von Urkunden ist im Mittelalter, namentlich in der Zeit etwa vom 10. bis zum 13. Jahrhundert, in einer Massenhaftigkeit betrieben worden, von der sich der Laie kaum eine Vorstellung machen kann.” [von Brandt 98]

Es blieb freilich nicht beim Urkundenfälschen. Denn das Urkundenfälschen zog weitere Fälschungen nach sich, mussten doch z. B. Itinerare von Königen und Kaisern angepasst werden, um zu erklären, wie diese – manchmal am selben Tag – quer durch Europa Urkunden ausstellen konnten. Auf diesem Weg entstand das Bild von den ununterbrochen reisenden Kaisern.

Dass im Mittelalter nicht nur massenhaft Urkunden gefälscht, sondern auch massenhaft pseudepigraphiert wurde, zeigt das Beispiel des Pseudo-Augustin. Bis zum Jahr 1986 hatte die Forschung bereits Dutzende fälschlicherweise Augustinus zugeschriebene Werke entlarvt. Mehrere tausend Abschriften dieses Pseudo-Augustin (hinter dem sich verschiedene, dem Mediävisten zum Teil bekannte Autoren verbergen) sind heute noch vorhanden. Die falschen Werke des Augustinus wurden im Mittelalter im Durchschnitt häufiger kopiert als die vorerst weiterhin für authentisch gehaltenen Schriften des Kirchenvaters. [Dekkers]

Es ist anzunehmen, dass das Fälschen und Pseudepigraphieren von höchster kirchlicher Stelle nicht nur geduldet, sondern auch gefördert wurde. So geht Horst Fuhrmann davon aus, dass der Münchener Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger (1799-1890) Recht hatte mit seiner These, der Romprimat habe sich mit Hilfe von Fälschungen durchgesetzt. [Fuhrmann (1986) 88; siehe Frage 10] Dieser Umstand könnte das ungeheure Ausmaß des im Hochmittelalter betriebenen Fälschens zumindest halbwegs erklären. [siehe zu diesem Thema auch Frage 27]

Der ganze Umfang des mittelalterlichen Fälschens, Erfindens, Pseudepigraphierens und Rückdatierens lässt sich noch immer nicht genau abschätzen. Eine systematische Studie mit verlässlichem Überblick gibt es bislang nicht. Ein Hauptgrund für dieses einstweilige Unterbleiben ist wohl, dass verbesserte Methoden und zunehmendes Wissen laufend mehr Fälschungen an den Tag bringen. [Dekkers 363]

Vor diesem Hintergrund ist nun die Frage zu beantworten, ob es vorstellbar ist, dass die ganze Geschichte der Karolingerzeit erfunden oder erfälscht werden konnte. Der Münsteraner Ordinarius Gerd Althoff umschreibt die Aufgabe so: “Nicht Karl den Großen allein, wie Illig weitgehend suggeriert, musste man erfinden, sondern eine in sich stimmige Hochkultur mit allen ihren Facetten.” [Althoff 483]

Nun steht es schon mit dem Protagonisten der Althoffschen Hochkultur nicht zum besten, wenn’s um Stimmigkeit geht. [siehe Frage 13] Vergleichbares ließe sich unschwer für den Rest jener Hochkultur zeigen. [DeM und WU] Das wenige gleichwohl Zusammenpassende lässt sich andererseits gut erklären. [siehe Frage 27]

Auf die Frage, wie viele Urkunden denn von der Zeitfälschung betroffen wären, gibt Althoff die bemerkenswerte Antwort: “Tausende (oder Hunderttausende)”. Da mit dieser verwirrenden Antwort nicht viel anzufangen ist, soll hier die Schätzung von Arno Borst als Leitfaden dienen: Borst setzt die Zahl der karolingerzeitlichen Handschriften mit 7000 an. [Borst (1998) 15]

7000 ist nicht viel, wie allein schon die Tausende von Abschriften deutlich machen, die fälschlicherweise unter Augustinus’ Namen in Umlauf waren. [siehe oben] Zwar geht es hier um einen vorkarolingischen Autor, aber die vielen Abschriften vermitteln einen Eindruck von der Produktivität der Pseudepigraphen und Kopisten. Bedenkt man weiter, dass zu den 7000 Handschriften etwa jene 270 Karlsurkunden zählen, von denen bereits über 100 als Fälschung entlarvt wurden, sowie die 70 langobardischen Königsurkunden, die zu 80% erwiesenermaßen, aber vermutlich alle gefälscht sind, beginnt sich die Zahl 7000 zu relativieren.

Denn mit zu den Karolingerhandschriften gehört nicht zuletzt das Konvolut der Pseudo-Isidorischen Fälschungen mit ca. 10.000 Seiten. Oder die Historia Caroli Magni et Rotholandi des Pseudo-Turpin. Oder der Skt. Gallener Klosterplan, der wegen weitgehend fehlender Karolingerbauten die typisch karolingische Architektur repräsentieren muss, obwohl seine ausgeschiedene Vierung und sein gebundenes Maßsystem erst in der Romanik verwirklicht werden sollten. Oder endlich all jene Schriften, die – wie vermutlich Beda [WU 122-127] oder Eriugena [DeM 367] – zwar nach der FZ entstanden sind, aber nachträglich in sie rückdatiert wurden und somit nicht als Fälschungen im engeren Sinn gelten können.

Schließlich ist zu bedenken, dass Diplomatiker auch solche Urkunden für echt halten, von denen lediglich Jahrhunderte später entstandene, bislang nicht sicher als Fälschung nachgewiesene Abschriften erhalten sind. Dabei lassen sie die Frage unbeantwortet, warum diese Abschriften soviel später überhaupt angefertigt wurden.

Selbstverständlich wäre zu diesem Thema noch sehr viel mehr zu sagen. [siehe FM und VL] So wäre auf die vermutlich hochmittelalterliche Entstehung der karolingischen Minuskel einzugehen. Oder auf die Ununterscheidbarkeit von karolingischer und ottonischer Buchmalerei. Ferner etwa auf die auffällige Bücherarmut frühhochmittelalterlicher Klosterbibliotheken – wenn man den Bibliothekskatalogen Glauben schenken darf. Das alles kann hier nur angedeutet werden. Der Leser sei für weitere Hinweise auf Illigs Bücher und auf die ZS verwiesen.

Insgesamt bleibt der Eindruck, dass die Fälschung von 7000 karolingerzeitlichen Handschriften durchaus im Bereich des Möglichen lag. Sicher ist hier noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Zu klären wäre etwa (soweit machbar), wer wann wo was gefälscht hat – genauso wie das in vielen Fällen für Pseudo-Augustin bereits getan wurde. Festhalten lässt sich aber auf jeden Fall schon jetzt, dass die von der FZT vorausgesetzte Fälschungstätigkeit und -masse nicht erheblich über das hinausgeht, was Historikern längst bekannt ist.

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