von Jan Beaufort

Abstract: Dass die frühmittelalterliche Fantomzeit das Werk von Komputisten – eher als von Historikern oder Astronomen – war, wurde schon gelegentlich vermutet. Andreas Birken hält Dionysius Exiguus gar für eine Erfindung durch den byzantinischen Kaiser Konstantin VII. und dessen Gelehrtenschar. Wenn diese Vermutung aber zutrifft, ist damit auch etwas über das Motiv der Zeitfälschung ausgesagt, denn Komputistik heißt Osterfestberechnung. Im vorliegenden Beitrag wird die These vertreten, dass es Konstantin in der Tat um eine umfassende, reichseinheitliche Regelung des Osterfestdatums ging. Dieses wäre künftig nur noch mittels der dionysischen 532-jährigen Periode, des so genannten großen Osterzyklus, zu berechnen. Sämtliche flankierende Fälschungen, insbesondere die Synkellos-Theophanes-Chronik, hatten das Ziel, dieses Anliegen im Rahmen und auf der Grundlage eines „Weltgeschichte und Himmelsgeschehen umgreifenden Systems” und eines „einmaligen einheitlichen Weltbildes” (so der Theologe August Strobel) durchzusetzen.

Die FZT stellt die abenteuerliche These auf, dass circa 300 Jahre des so genannten dunklen Frühmittelalters nicht real abgelaufen, sondern als fiktive Jahrhunderte mit erdichteten Personen und Ereignissen in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Wer eine solche These vertritt, muss sich Gedanken über den oder die Urheber einer derartigen Aktion machen.

Bekanntlich hat Heribert Illig schon bald nach der Formulierung des fztheoretischen Verdachts die Vermutung geäußert, der byzantinische Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos könne hinter dem Ganzen stecken. [Illig (1991b)] Konstantin verfügte nicht nur über die Möglichkeit zu einer entsprechenden Aktion, sondern über ihn wird auch berichtet, dass er eine große Gelehrtenschar mit einer enzyklopädischen Zusammenfassung des damaligen historischen Wissens beauftragt hat. Im Laufe der Zeit wurden von FZTheoretikern viele Indizien gesammelt, die Illigs Vermutung stützen – darunter insbesondere der offenkundige, im Rahmen traditioneller Mediävistik nicht mehr zu erklärende Widerspruch zwischen Theophanes Confessor / Continuatus einerseits und der kaiserlichen Geheimschrift De administrando imperio andererseits. Weißgerber zum Islam-Kapitel aus De administrando imperio: „Dieser Text liest sich so, als ob Illig ihn geschrieben hätte!“ [Weißgerber (2003), 62-65. Siehe auch Friedrich (2006), 420-422. Zu den Widersprüchen bei Theophanes selbst siehe Illig (2007), 164-168]

Motivsuche

Indes blieb die Suche nach einem Motiv vergleichsweise erfolglos, weil kein Motiv (ohne weiteres) so stark zu sein schien, dass es nicht nur eine Geschichtsfälschung, sondern darüber hinaus eine Zeitfälschung hätte veranlassen können. „Bloße“ Geschichtsfälschungen aus politischen, religiösen oder ideologischen Motiven sind uns nur allzu bekannt, sie sind gewissermaßen nichts Besonderes, überall wo totalitäre Regime diese Möglichkeit haben, fälschen sie Geschichte zur Selbstverherrlichung und zur Auslöschung der Erinnerung an ihre Opfer. Auch künstliche Zeit- und Geschichtsverlängerungen sind uns durchaus vertraut, etwa wenn Ägyptologen ihre Pyramiden Tausende von Jahren älter machen als sie in Wirklichkeit sind, wenn europäische Städte ihre Gründung möglichst weit zurück ins Mittelalter datieren, wenn Geologen und Astronomen katastrophische Ereignisse in ferne Vergangenheiten schieben oder wenn Anthropologen das Alter ihrer Skelettfunde dramatisch übertreiben. (Für letzteren Vorgang hat sich bekanntlich das Verb „protschern“ eingebürgert – nach dem überführten Frankfurter Anthropologen Prof. Dr. Dr. Protsch „von Zieten“, der menschliche Skelettreste aus dem hohlen Bauch C-14-datiert und so um mehrere zehntausend Jahre veraltet hat. [Wikipedia (2007)])

Das Besondere an der mittelalterlichen FZ ist nun aber, dass Konstantin VII. gemäß FZT eine gerade erst vergangene Zeit erfunden hat, während sämtliche obige Beispiele für Zeitensprünge weit zurück liegende Epochen betreffen. Die konstantinische Aktion ist also einzigartig, und wir können m. A. n. nicht behaupten, den Vorgang der Zeiterfindung in diesem speziellen Fall schon ausreichend verstanden zu haben. Was muss passiert sein, damit ein Mensch auf die Idee einer solchen Aktion kommt? Welche intellektuellen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um diesen gedanklichen Schritt tun zu können? Historiker, Geologen, Astronomen oder Anthropologen schaffen, wie gesehen, bestenfalls weit zurückliegende Zeit. Zwar mögen Historiker und Astronomen an der Konstruktion einer mittelalterlichen FZ beteiligt gewesen sein (etwa arabische Astronomen an der Fälschung des Almagest, [Beaufort (2001) und (2003)]), aber sie waren kaum die Initiatoren. Wer also tut so etwas? Wer erfindet einen künstlichen Zeitraum von 300 Jahren und schiebt diesen zwischen sich und seine unmittelbare Vergangenheit?

Das allgemeine Empfinden bei den Vertretern der FZT ist wohl, dass nur religiöse bzw. theologische oder religionspolitische Motive als ernstzunehmende Gründe in Frage kommen. So vermutet Illig für den europäischen Westen, dass Otto III. als Endzeitkaiser und Servus Jesu Christi in ein neues Millennium führen wollte. [Illig (1999), 185-216] Auch für Konstantin VII. hat Illig – unter anderem – ein religionspolitisches Motiv vorgeschlagen: die Eroberung Jerusalems und des Kreuzes Christi durch die Perser sollte in eine ferne Vergangenheit gedrängt werden. [Illig (1999), 173 f.] Für den arabischen Bereich habe ich andernorts eine ebenfalls religionspolitische Motivation behauptet: Es ging um die Integration der Shi’iten = Arianer (Shi’at ‘Ali = Partei des Arius) in die islamische Gemeinschaft. Die Shi’iten sollten als immer schon islamisch gewesene, treue Anhänger Mohammeds in die Geschichte eingehen. [Beaufort (2006), Frage 21] Weil Araber bzw. islamisierte Perser nicht nur starke religiöse Interessen hatten, sondern auch hervorragende Astronomen und große Märchenerzähler waren, schienen sie mir längere Zeit sogar die Urheber der FZ zu sein. Die heute vorliegende Fassung des Almagest halte ich nach wie vor für eine Fälschung aus dem arabisch-persischen Bereich. [vgl. Beaufort (2003), 515]

Und dennoch: Dieses Szenario muss noch unvollständig sein. Irgendetwas lässt uns dabei unbefriedigt zurück, das Ganze wirkt noch zu sehr gestückelt, zu zufällig, zu wenig zwingend. Illig muss das gespürt haben, als er für Konstantin VII. neben dem religiösen Motiv des zu verdrängenden Kreuzverlustes auch über ein dynastisches Motiv nachdachte: Der Kaisermörder Phokas sollte nicht länger als Vater Konstantins gelten. [Illig (1999), 164 f.] Und wirklich erscheint der Kreuzverlust für sich genommen als ein Ereignis, das schon durch „schlichte“ Geschichtsfälschung zusammen mit dem (tatsächlich erfolgten) Versand von Kreuzesreliquien in alle Welt aus dem kollektiven Gedächtnis hätte getilgt werden können. Nichts anderes gilt aber für die Phokas-Abstammung. Eine Zeitverlängerung ist in beiden Fällen wohl kaum ausreichend motiviert. Entsprechend habe ich diese Gründe einmal als „Motive fürs Mitmachen“ bezeichnet. [Beaufort (2006), Frage 21] Auch deshalb – wegen der Schwäche des byzantinischen Motivs im Vergleich zum westeuropäischen und arabischen – hielt ich die Araber für die Ersterfinder der mittelalterlichen FZ. Aber wie gesagt: Befriedigen konnte diese Lösung letztendlich nicht. Insbesondere war die Bedeutung Konstantinopels – nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches immerhin einzig verbliebener Erbe der griechisch-lateinischen Antike – viel zu groß, um es sich als bloßen Mitläufer einer persisch-arabischen Zeitfälschungsaktion vorstellen zu können. [vgl. auch schon Illig (1999), 158 f.]

Die These nun, die ich im vorliegenden Artikel vertreten möchte, lautet, dass sich der Erfinder der mittelalterlichen FZ sehr gründlich mit Komputistik befasst haben muss. Nur ein Komputist kann auf die Idee kommen, den historischen Zeitrahmen und damit Geschichte überhaupt beliebig zu konstruieren. Ein Komputist jongliert mit kalendarischen Zusammenhängen, mit Daten, Zyklen und Zahlen. Je besser er sich damit auskennt, desto leichter fällt ihm dieses Spiel und desto größer wird die Gefahr, dass er sich als Herr über die Zeit zu fühlen beginnt. Die Grenzen zwischen der aus rein wissenschaftlichem Interesse betriebenen Kalenderwissenschaft und der zur Konstruktion eines ideologischen Geschichtsbildes missbrauchten Komputistik sind fließend. Allerdings müssen besondere Bedingungen erfüllt sein, damit die Grenze auch wirklich überschritten wird. Diese Bedingungen sind gemäß dem fztheoretischen Verdacht nach wie vor im religionspolitisch-theologischen Bereich zu suchen. Mir will nur scheinen, dass sie noch etwas anders aussehen müssen als bislang vermutet. Ich werde das im Folgenden näher ausführen. [Mit diesem Beitrag vertiefe ich eine Überlegung von Andreas Birken, der in Birken (2006) auf S. 753 über Konstantin VII. eher beiläufig bemerkt: „Wir dürfen unterstellen, dass der hochgebildete Mann und seine Helfer mit dem Problem der Osterrechnung vertraut war …“]

Komputistisches

Die Zeitmessung beruht auf natürlichen Rhythmen und Zyklen, deren wichtigste die Erdrotation, der Mondmonat und das Sonnenjahr sind. Es ist die Aufgabe der Chronologie, diese Rhythmen und Zyklen in einen sinnvollen Bezug zu einander und zum Lauf der Geschichte zu setzen. So entstehen insbesondere zwei künstliche Ordnungen, der Kalender und die Jahrrechnung. Der Kalender ist ein Zeitweiser durch das Jahr. Er hat zyklischen Charakter und wiederholt sich mehr oder weniger genau in Perioden unterschiedlicher Länge. Die Jahrrechnung ist eine lineare Zeitfolge, die sich grundsätzlich sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft unendlich fortsetzen lässt. [vgl. Beaufort (2006), Frage 1-4]

Der Komputistik geht es nun um den Kalender, also um den zyklischen, nicht um den linearen Aspekt der Zeitordnung. Zwar ist ihr besonderes Anliegen die Osterfestberechnung, weshalb sie sich hauptsächlich im jüdisch-christlichen Kulturbereich entwickelt hat. Aber mit diesem speziellen Ziel verbindet sich doch die weitere Absicht, die Zeit überhaupt zyklisch zu erfassen, das heißt Formeln zu finden, die Zeitzyklen aufeinander beziehen. Von der Astronomie unterscheidet sich die Komputistik dadurch, dass sie räumliche und kausale Bezüge nicht berücksichtigt und lediglich die Zeitverhältnisse erforscht. Durch diese Abstraktion von konkreten Zusammenhängen ist sie weniger genau als die Astronomie. Ihre kalendarischen Zyklen entfernen sich im Laufe der Zeit von den realen Verhältnissen. Das gilt für den Gregorianischen Kalender nicht weniger als für den Julianischen.

So ist ein wichtiger von Komputisten verwendeter Zyklus der so genannte Sonnenzirkel. Er erstreckt sich über 28 Jahre. Nach einer solchen Periode fallen die Wochentage wieder das ganze Jahr hindurch auf dieselben Kalenderdaten wie 28 Jahre zuvor. Das stimmt allerdings durchgängig nur unter Voraussetzung des Julianischen Kalenders, weil nur im JK jedes vierte Jahr ein Schaltjahr ist. Dann aber gilt auf jeden Fall, dass alle Jahre, die genau einen Sonnenzyklus oder genau mehrere Sonnenzyklen voneinander entfernt sind, das exakt gleiche Muster von Wochentagen und Kalendermonaten aufweisen. Beim eingefleischten Komputisten entsteht dadurch leicht der Eindruck, dass solche Jahre in einer besonderen Weise miteinander verbunden sind. Mit Hilfe des Sonnenzyklus kann der Komputist Voraussagen über künftige Jahre und retrognostische Aussagen über die Vergangenheit machen.

Ein anderer wichtiger Zyklus ist der Mondzirkel. Seine Entdeckung wird Meton (5. Jh. v. Chr.) zugeschrieben. Der Mondzirkel besteht aus 235 synodischen Monaten (synodischer Monat = Abstand zwischen zwei Neumonden). Der Mondzyklus ist deshalb wichtig, weil er fast genau so lange ist wie 19 Sonnenjahre: 19 Sonnenjahre sind nur 1½ Stunden länger. [vgl. etwa Frank (2006)] Alle 19 Jahre kehren die Mondphasen also zur ungefähr gleichen Zeit im Sonnenjahr wieder. Damit auch dieselben Wochen- und Monatstage getroffen werden, sind diese 19 Jahre mit 28, der Zahl des Sonnenzyklus, zu multiplizieren. Die sich ergebende Zahl 532 zeigt einen neuen Zyklus an, den so genannten großen Osterzyklus. Nach Ablauf einer solchen Periode wiederholen sich die Mondphasen zusammen mit den Wochentagen – und somit auch den Ostersonntagen – zu den gleichen Kalenderdaten. Der große Osterzyklus beherrscht die Komputistik der Nachfantomzeit, so dass es nahe liegt, seine Einsetzung mit der Erfindung der FZ in Verbindung zu bringen.

Ein Komputist, der die 532-jährige Periode kennt und eine neue Zeitrechnung einführen möchte, wird diese so wählen, dass die Epoche dieser Zeitrechnung sowohl mit einem ganz besonderen historischen Ereignis als auch mit einem aus astronomischer und kalendarischer Sicht ganz besonderen Jahr der Periode zusammenfällt. Das besondere Ereignis wird vorzugsweise große religiöse Bedeutung haben, also etwa das geglaubte Jahr der Weltschöpfung oder das Geburts- bzw. Todesjahr des Erlösers sein. Die besondere komputistische Bedeutung des Anfangsjahres wäre etwa dann gegeben, wenn nicht nur die Zeitrechnung, sondern auch die Mond- und Ostertafel mit dem betreffenden Jahr beginnen und wenn der Mond selbst in diesem Jahr in einem auffälligen Verhältnis zur Sonne stehen würde.

Dionysius Exiguus

Es ist nun nicht zu übersehen, dass sämtliche dieser Bedingungen im komputistischen System des Dionysius Exiguus erfüllt sind. Ulrich Voigt hat das in seinem ZS-Artikel Über die christliche Jahreszählung sehr schön ausgeführt: Mond- und Ostertafel sind bei DE so angelegt, dass beide im selben Jahr 532 n. Chr. und damit auch im Jahr „0“ beziehungsweise „1 v. Chr.“, dem Jahr der Inkarnation, beginnen; die Mondtafel setzt mit dem 5. April, d. h. mit einem „idealen 15. Nisan“ ein; das zweite Jahr der Mondtafel, also das Jahr 1 A. D. – der eigentliche Beginn der Zeitrechnung –, hat den Vollmond auf dem 25. März und gedenkt damit eines alten, bedeutungsvollen römisch-christlichen Datums. [Voigt (2005a)] Allerdings zahlt DE für dieses wunderbar in sich stimmige Gebäude einen hohen Preis. Denn durch den vorrangigen Bezug auf die Inkarnation Christi bricht DE mit einer alten, insbesondere vom Theologen August Strobel herausgearbeiteten komputistischen Tradition, der es an erster Stelle um Jesu Todesdatum gegangen war.

Es lohnt sich, Strobel zu diesem historisch bedeutsamen komputistischen Wendepunkt zu hören. Mit folgenden Worten beschließt Strobel sein Buch Ursprung und Geschichte des frühchristlichen Osterkalenders [Strobel (1977), 456]:

„Darf von einem Sieg der alexandrinischen Osterkomputation gesprochen werden? Rein äußerlich gesehen setzte sich ohne Zweifel die alexandrinische 532jährige Periode im Westen sieghaft durch. Selbst die traditionsbewußte irische Kirche mußte sich – wenn auch spät – unterwerfen. Einer näheren Betrachtung kann aber nicht verborgen bleiben, daß dabei die frühere ausgezeichnete Datengrundlage, wie sie im Hinblick auf den Todestermin vorlag (4./7. April 30 n. Chr.), mehr und mehr durch das westliche (römische) Geminidatum (25. März 29 n. Chr.) verdrängt wurde, das wieder Anlaß gab zu einseitig bedeutsam gewordenen spekulativen Kalenderdaten über Zeugung und Geburt (am 25. März bzw. 25. Dezember). In gewisser Hinsicht mußte somit der zweifellos große geschichtliche Erfolg Alexandriens durch einen nicht geringen Verlust an wertvoller ältester Tradition bezahlt werden.“

Hier ist also von Sieg, Unterwerfung, Verdrängung, einseitig bedeutsam gewordenen spekulativen Kalenderdaten und nicht geringem Verlust an wertvoller Tradition die Rede. „Soviel zu Voigts ‘insgesamt stimmigem Geflecht’ christlicher Ostertafeln“, mag sich der aufmerksame ZS-Leser an dieser Stelle denken. [vgl. Voigt (2005a), 444] Freilich hat Strobel selbst zu jener Voigt’schen Überzeugung wesentlich beigetragen, indem er seiner Forschung ein harmonisiertes Bild des frühen Christentums zugrunde legt, das der lukanisch-justinianisch-dionysischen Geschichtsdogmatik verhaftet ist und diese immer schon als gültig voraussetzt. Derselbe Ulrich Voigt behauptet allerdings im selben Artikel ohne zu erröten, dass man die Ostertafeln „von ihrem Christusbezug gelöst hat“, um sie in den großen Osterzyklus einzufügen, der mit dem Jahr 0 beginnt! [ebd. 450] Ostertafeln, die von ihrem Christusbezug gelöst wurden! Und dann wiederum Voigt [ebd. 438]: „Wie könnte es denn auch geschehen sein, dass die Christenheit irgendwann in ihrer Osterberechnung den Faden verloren hätte“!

Aber lassen wir diese theologisch-komputistische Rhetorik und kehren zu Strobel zurück. Denn in der Fortsetzung des obigen, sein Buch abschließenden Zitates formuliert Strobel einprägsam und unmissverständlich das Motiv zur Reform des Dionysius Exiguus:

„Andererseits läßt sich nicht bestreiten, daß es durch die Kombination von Mond- und Sonnenzirkel in idealer Weise zur Aufnahme der je typischen Kalendergrundlage beider großer geschichtlicher Linien kam. Nur Kompromisse ermöglichten, wie so oft in der Geschichte, den ohne Zweifel beachtlichen Fortschritt eines einheitlichen ökumenischen Zusammengehens. Der Gewinn bestand vor allem in der weitgehenden Gleichstimmigkeit von liturgisch-kalendarischer Praxis und theologischem Grundzeugnis, insofern nun der Inkarnationstheologie der alten Kirche, der die Zukunft gehören sollte, sogar ein Weltgeschichte und Himmelsgeschehen umgreifendes System der zahlenmäßigen Erklärung an die Seite gestellt war. Damit hatte man die Grundlagen eines einmaligen einheitlichen Weltbildes geschaffen, dem für damaliges Denken große Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit innewohnten. Die alte griechische Vorstellung von der Harmonie des Kosmos war am Ende dem Christuszeugnis in idealer Weise dienstbar gemacht.“

Die gewaltige Bedeutung der dionysischen Reform für die Kirche der Folgezeit wird hier von Strobel so klar wie nur möglich zum Ausdruck gebracht. Es ging um die „Gleichstimmigkeit von liturgisch-kalendarischer Praxis und theologischem Grundzeugnis“. Die „Grundlagen eines einmaligen einheitlichen Weltbildes“ wurden geschaffen, und am Ende war die „alte griechische Vorstellung von der Harmonie des Kosmos dem Christuszeugnis in idealer Weise dienstbar gemacht“.

Die Leistung des Dionysius Exiguus sollte bis zur Gregorianischen Kalenderreform und darüber hinaus Bestand haben. Gerade die historische Tragweite des Projektes wirft allerdings die Frage auf, ob eine Reform dieses Ausmaßes wirklich einem sonst unbekannten und isoliert vor sich hin schreibenden römischen Mönch Dionysius Exiguus zuzutrauen ist. Haben wir es beim Exiguus nicht vielmehr mit einem Pseudonym zu tun, hinter dem sich eine große und gewichtige staatskirchliche Aktion verbirgt? Wenn die Schule der theologischen Radikalkritik von Bruno Bauer bis Hermann Detering Recht hat, steht das Pseudonym „Paulus“ (= „der Kleine“) für das Bestreben, die gnostisch-markionitische Tradition in den Katholizismus zu integrieren. [Detering (2007)] Könnte nicht ganz ähnlich „Exiguus“ (= „der Kleine“) stellvertretend für den Versuch stehen, die Ostertraditionen im byzantinisch-römisch-katholischen Reich zu vereinheitlichen? Und wenn das zutrifft: sollten wir dann nicht nach einem bedeutenden und mächtigen Urheber jener Aktion suchen, für die DE letztendlich nur ein Platzhalter war?

Es war Andreas Birken, der in unserem Kreis als Erster die Meinung geäußert hat, DE müsse dem Komplex „Konstantin VII.“ angehören. [Birken (2006), 753 f. Im Folgenden weiche ich nur in den Details der Rekonstruktion von Birken ab] Birken wurde zu seinem Urteil (wie ich inzwischen auch) von Ulrich Voigt gedrängt, der klar macht, dass DE mitsamt Ravenna-Stein [Lewin (2005)] nicht vorfzlich sein kann, wenn die FZT stimmen soll. [Voigt (2005a)] Illig scheint Birken zu folgen und lässt ihm ausdrücklich die Ehre der Erstformulierung jener These. [Illig (2007), 164 f.] Wenn die Birken-These stimmt, ist DE in unmittelbarem Zusammenhang mit der konstantinischen Verlängerung der Zeitachse zu sehen. Dann aber ist zu fragen, ob mit dem oben von Strobel angegebenen Motiv für die dionysische Reform nicht auch das Motiv für die Erfindung der mittelalterlichen FZ gefunden worden ist. Diese Frage wird hier bejaht und die Antwort im Folgenden kurz erläutert.

„Ein mehr als sonderbares Zusammentreffen“

Versetzen wir uns einmal in die theologisch-komputistische Situation, der sich Konstantin VII. Porphyrogennetos gemäß FZT gegenüber sah. Wir befinden uns in „unserem“ traditionellen zehnten nachchristlichen Jahrhundert, das heißt zugleich im 10. Jahrhundert BP. [zur BP-Rechnung siehe Beaufort (2006), Frage 5] Ein Jahrhundert früher regierte Kaiser Justinian, der seine ganze Macht auf das Ziel konzentriert hatte, den Katholizismus als einzige Reichsreligion durchzusetzen. In Justinians katholischem Bild von der Geschichte des Christentums lebte er selbst in deren 6. Jh., also im 6. Jh. nach Christus und nach Augustus. Folglich lebte Konstantin VII. – fztheoretisch gesehen – im 7. Jh. nach Christus/Augustus. Die astronomischen Verhältnisse „unseres“ traditionellen Jahres 532 n. Chr., des Kopfjahres der dionysischen Reform, also des Jahres 1418 BP, stellten sich für den Porphyrogenneten deshalb als die des Jahres 235 nach Christus dar. (Letztere Zahl gilt, wenn wir von einer 297-jährigen FZ ausgehen. Bei größerem oder kleinerem L ändert sich die Zahl entsprechend. Wichtig ist nur, dass es sich um das Jahr 1418 BP handelt.) Dieses Jahr 235 n. Chr. (fzt) = 532 n. Chr. (trad.) = 1418 BP war komputistisch gesehen ein besonderes Jahr, wie Voigts Tabelle auf S. 434 seines ZS-Artikels deutlich macht. [Voigt (2005a)] Voigts Kommentar dazu [ebd. 453]:

„Die Ostertafel des Dionysius Exiguus verzeichnet als Ostermond zu seinem Kopfjahr 532 A. D. den 5. april [Voigt schreibt die Monate des Julianischen Kalenders mit kleinem Anfangsbuchstaben, jb], ebenso der Kalenderstein zu Ravenna. Die astronomische Rückrechnung für das Jahr 532 n. Chr. ergibt den kalendarischen Frühlingsvollmond ebenfalls auf dem 5. april.

Ein mehr als sonderbares Zusammentreffen: Modulo 19 ist ausgerechnet dieser Ostermond des Jahres 532 A. D. der früheste überhaupt, der gemäß heutiger Rückrechnung mit dem kalendarischen Frühlingsvollmond übereinstimmt.“

Ein mehr als sonderbares Zusammentreffen“! Ulrich Voigt sagt es selbst!

Jenes – von Konstantin VII. aus gesehen – Jahr 235 n. Chr. (fzt) = 1418 BP ist also das erste Julianische Jahr, das sowohl den kalendarischen als auch den astronomischen Vollmond auf dem 5. April, das heißt als „idealen 15. Nisan“ hat. Dieser Zustand (Vollmond am 5. April) hält sich dann länger als fünf Jahrhunderte annähernd für jedes entsprechende Jahr des 19-jährigen Mondzyklus – und somit auch noch in der Zeit des Konstantin VII. Als Kopfjahr einer Oster- und Mondtafel mit 532-jährigen Zyklus war 235 n. Chr. (fzt) deshalb in hohem Maße geeignet. Nur: für Konstantin war das Jahr 235 n. Chr. (fzt) nicht „unser“ traditionelles Jahr 532 n. Chr.! Für ihn galt jenes von Voigt herausgestellte „mehr als sonderbare Zusammentreffen“ eben noch nicht! „Konstantins“ Jahr 235 n. Chr. (fzt) ließ sich komputistisch unmöglich auf ein Geburts- oder Todesjahr Christi beziehen – zumindest nicht mit jener 532-jährigen Periode, die allein dem Kalender und den astronomischen Verhältnissen angemessen erschien und der deshalb die Zukunft der Komputistik gehören sollte. Voigts „mehr als sonderbares Zusammentreffen“ konnte also nur durch einen tiefen Eingriff in die Zeitrechnung herbeigeführt werden! Und Konstantin entschloss sich zu diesem Eingriff aus dem oben von Strobel angegebenen Grund!

Um aus dem komputistisch hoch bedeutsamen Jahr 235 n. Chr. (fzt) ein Jahr mit Christusbezug zu machen, gab es wohl mehrere Möglichkeiten. Theoretisch wäre zum Beispiel auch eine Zeitkürzung dergestalt denkbar gewesen, dass Jesu Todesjahr auf das Jahr 235 n. Chr. (fzt) = 1418 BP gesetzt worden wäre. Konstantin hätte dann Zeit und Geschichte streichen müssen. Christus hätte nur vier Jahrhunderte vor ihm gelebt. Es gab aber wohl gute Gründe, auf diese Alternative zu verzichten. Totalitäre Herrscher verlängern lieber die eigene Geschichte, als dass sie diese kürzen würden. Auch konnte bei einer Zeitverlängerung auf die komputistische Bedeutung anderer Bezüge Rücksicht genommen werden – zum Beispiel auf „222 n. Chr. (trad.) = 1 Alexander“, auf „1 Caesar = 532/2 Alexander“ oder auch auf 222 – (-44) = 14 x 19 (= 532 / 2)“. [vgl. Beaufort/Voigt (2007)] Schließlich ließ sich durch die Zeitdehnung der vorgebliche Begründer der neuen Ära, Dionysius Exiguus, um drei Jahrhunderte rückdatieren, was ihm die nötige Autorität verschaffte. Bei der deshalb vorgenommenen Zeit- und Geschichtsverlängerung aber musste das astronomische Jahr 235 n. Chr. (fzt) = 1418 BP dem Jahr 532 n. Chr. (trad.) gleichgesetzt werden! Somit wurde ein Zeitsprung von 297 Jahren notwendig! Christus/Augustus und mit ihnen die ganze Geschichte des römischen Reiches mussten um diesen Betrag entlang der Zeitachse rückwärts verschoben werden!

Erst dieser Eingriff in die Zeitrechnung führte zu Voigts „mehr als sonderbarem Zusammentreffen“. Das „ideale“ Jahr 532 n. Chr. mit dem Vollmond auf dem 5. April bezog sich nunmehr mittels des „idealen“ 532-jährigen Osterzyklus auf das „ideale“ Christusgeschehen. Endlich war es gelungen, Astronomie und christliche Theologie in einem stimmigen und einheitlichen Ganzen miteinander zu verbinden. Das lukanisch-justinianische Bild von der Geschichte der frühen Kirche war jetzt auch astronomisch-komputistisch für Jahrhunderte sicher verankert. Strobels Schlusswort ist zuzustimmen und sei hier deshalb wiederholt:

„Der Gewinn bestand vor allem in der weitgehenden Gleichstimmigkeit von liturgisch-kalendarischer Praxis und theologischem Grundzeugnis, insofern nun der Inkarnationstheologie der alten Kirche, der die Zukunft gehören sollte, sogar ein Weltgeschichte und Himmelsgeschehen umgreifendes System der zahlenmäßigen Erklärung an die Seite gestellt war. Damit hatte man die Grundlagen eines einmaligen einheitlichen Weltbildes geschaffen, dem für damaliges Denken große Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit innewohnten. Die alte griechische Vorstellung von der Harmonie des Kosmos war am Ende dem Christuszeugnis in idealer Weise dienstbar gemacht.“

Dem ist aus fztheoretischer Sicht nur noch hinzuzufügen, dass ein besseres Motiv für Konstantins theologisch-komputistische Geschichtsrekonstruktion kaum vorstellbar ist. Wenn also die komputistische Quellenlage immer stärker zur Annahme eines zusammenhängenden Fälschungskomplexes „Konstantin VII. / Dionysius Exiguus“ drängt, dann findet diese Tendenz in den obigen Überlegungen zur religionspolitischen und theologisch-komputistischen Motivation Konstantins ihre 100%-ige Bestätigung.

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ZS = Zeitensprünge. Interdisziplinäres Bulletin (vorm. Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart). Edition und Redaktion: Dr. phil. Heribert Illig. Contributing Editor: Prof. Dr. phil. Dr. rer. pol. Gunnar Heinsohn. Gräfelfing: Mantis Verlag