von Zainab Angelika Müller

Die Datierung und Zuverlässigkeit der Tabari-Bücher ist bei verschiedenen ZS-Autoren aus diversen Gründen umstritten [vgl. Illigs Antwort an A. Birken in 3-2002, 518, mit entspr. Lit.hinweisen].

In einem Zeitschriftenbeitrag von Heribert Horst „Zur Überlieferung im Korankommentar at-Tabaris“ aus dem Jahre 1953 fand ich ein weiteres mit Tabari verbundenes Problem, welches ich kurz vorstelle und ihm einige Fragen und Vorschlägen zur Chronologie des Islam anschließe.

Befund [nach Horst]:

Der Korankommentar at-Tabaris enthält 13026 verschiedene Isnade (= Überlieferungsketten) an mehr als 35400 Stellen. [zu Isnaden: vgl. Müller 3-02, 482]

Ca. die Hälfte aller Isnade im Korankommentar gehen zurück bis in die erste Hälfte des 2.Jh. (80-180 d.H.), was laut Horst kein Grund ist, ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Tabari habe nur wenige vollständige Bücher aus älterer Zeit benutzt, deren Existenz allerdings nur vermutet wird. „Alle übrigen schriftlichen Quellen sind nur auszugsweise an at-Tabari überliefert worden. Wahrscheinlich … in den meisten Fällen … nur … Kollegniederschriften, die als Gedächtnisstütze angefertigt wurden.“

Tabaris ältester Tradent ist Abdallah b’Abbas (= Abd’Allah ibn Abbas war der jüngste Sohn von Muhammads Onkel Abd al-Muttalib, dem Stammvater der Abbassiden). Vier Isnade gehen auf ihn zurück, davon ist

die 4. „nachweislich falsch“;

die 3. “wegen allzu evidenter Folgerichtigkeit … verdächtig“, „vermutlich unecht“;

die 1. und 2. „möglicherweise zuverlässig“.

Problem [ebd.]:

Im Jahre 204 d.H. wurde von dem Rechtsgelehrten as-Shafii die Regel aufgestellt, dass nur jene Isnade echt seien, die auf den Propheten zurückgehen. Shafii wendet sie selbst an und ebenso fanden sie Anwendung in den kanonischen Hadithsammlungen, die 50 Jahre nach seinem Tod aufgestellt wurden.

In at-Tabaris Korankommentar geht kein einziges Isnad auf Muhammad zurück, zum großen Teil nicht mal auf die Sahaba (Gefährten Muhammads).

Traditionelle Erklärungen [ebd.] :

  1. Da Tabari nicht „der Sitte der Zeit zuwidergehandelt hätte“, vermutet Horst – wie andere vor ihm –, das Postulat Shafis habe nicht für die traditionelle Koranexegese gegolten.Angeblich fiel in der Exegese das Motiv für Shafis Forderung weg. Während Muhammads Zeitgenossen „große Teile des Koran ohne weiteres verständlich waren“, musste „deren Sinn zwei Generationen später mühsam erschlossen werden“.
  2. Buhari (um 850) allerdings leitet seine Isnade von Muhammad ab.Er habe ja eine Auswahl getroffen, während Tabari alle Überlieferungen verarbeitet habe (womit – so sieht es auch Horst – das Problem nicht erklärt ist).
  3. Horst führt deshalb Tabaris Vorgehen auf die Möglichkeit des gesunden Menschenverstandes zurück, ebenfalls „gültige Erklärungen“ geben zu können (also ohne sich durch Rückgriff auf den Propheten abzusichern / Z.A.M.).
Weitere Überlegungen und Vorschläge zur Diskussion:

1. Tabari (gest. 923 in Bagdad) heißt so, weil er aus Tabaristan stammte, einer nördlichen Provinz des Iran am Kaspischen Meer, die heute Mazandaran heißt, weil dort das Mazandarani gesprochen wird, welches unter den lebenden iranischen Sprachen eine der ältesten Schrifttraditionen hat. Tabaris Korankommentar Tafsir ist in sehr einfachem Persisch geschrieben.

In Tabaristan bestand im 9. Jh. angeblich für kurze Zeit ein eigener schiitischer Staat der Zaiditen (nach Zaid = Ali Zain al Abidin, Urenkel Muhammads und in der Imam-Kette folgend auf Husain als vierter Imam; auf ihn stützt sich die Fünfer-Schia.) Diese waren Gegner der Umayyaden, stehen jedoch der sunnitischen Lehre näher als andere Schiiten, und weisen unter diesen die wenigsten persischen Elemente auf. Ihre Lehre war vor allem im Jemen stark vertreten, wo bis heute Zaiditen als eine schiitische Rechtsschule existieren.

2. Als Tabari 855 Schüler von Ahmed ibn Hanbal werden wollte, verstarb dieser. Hanbal selbst war Schüler von al Schafii (gest. 820). Die von al-Schafii definierten Quellen des fiqh – der Analogieschluss (qiyas) und die eigenständige Lehrmeinung (ra’y) – haben in der hanbalistischen Rechtslehre ihre Bedeutung verloren. Ging Tabari möglicherweise in der Abwendung von Schafii noch etwas weiter?

Er soll [laut wikipedia] kurzzeitig sogar eine eigene Rechtsschule eröffnet haben, die Dscha’fariyya. Dies ist aber eine der schiitischen Rechtsschulen, benannt nach Jafar as’Sidiq, der den ersten Korankommentar schrieb und als Urgroßvater von Husain und einer der frühesten Sufis und als fünfter Imam der Siebener-Schia gilt (beginnend mit Hasan) bzw. als sechster Imam der Zwölfer-Schia (beginnend mit Ali).

Jafar entdeckte angeblich das Grabmahl Alis in Nagav [Newid 57]. Bei seinen Söhnen spalten sich erstmals die Aliden in die Linie der siebener- und zwölfer-Schia: Über den jüngeren Sohn Musa al Kazim führt die Linie der „gemäßigteren“ Zwölfer-Schiiten. Der ältere Sohn Ismail gilt – wie in der Abrahamlegende – als „enterbt“, erzeugt aber dennoch eine „Stamm“linie der Religion in seinem Sohn und 7. Imam Muhammad ibn Ismail, der Mahdi (ca. 786-809/ 170-193; getötet von Harun al Rashid).

Die Ismailiten gründen mit der Proklamation des Mahdi die fatimidische Dynastie und bauen ihre Macht aus in Nordafrika, Jemen, Irak und Iran (hier als Assassinen bekannt). Erst nach Ghazzalis Tod Ende des 12. Jhs. schwindet ihre Macht im Kampf gegen Seldschuken und Sunnitentum. Die Ismailiyya ist heute eine multikulturelle Religionsgemeinschaft mit internationaler Verbreitung und Sitz in London. Ihr Oberhaupt und Fortsetzer des Imamats ist der Aga Khan.

Angemerkt sei: Als ein Schüler von Jafar as-Sadiq gilt der Alchemist Geber, zu dem es einen umstrittenen Pseudo-Geber im 14. Jh. gibt.

3. Möglicherweise gehen Tabaris Isnads nicht auf Muhammad zurück,
weil Muhammad zu Tabaris Zeit noch nicht in allen muslimischen = vom trinitarischen Christentum abgewendeten Glaubensrichtungen, als „Prophet des Islam“ galt.
Manches deutet darauf hin, dass Tabari zu einer jener Glaubensrichtungen gehörte, die (später) gesammelt als „schiitisch“ bezeichnet wurden.

Andererseits sind die ältesten Überlieferer der Geschichte der Schia Yakubi und Masudi, die „ihrer Überzeugung nach der schiitischen Glaubensrichtung angehören oder zumindest den Sympathisanten der Schia zuzurechnen sind“, und Tabari und Dinawari, die als „Anhänger der Sunna gelten“ [Newid 10]. Doch so, wie in der Person Tabaris manches nicht „zusammenpasst“, gibt es auch in der Überlieferung dieser Autoren interessante Widersprüche (bei Newid meist in den Fußnoten zu finden) [vgl. ebd.].

Die Vermutung einiger Autoren der Zeitensprünge, Tabaris Schriften oder ein Teil davon seien gefälscht oder später geschrieben, könnte also bedeuten: schiitische Schriften wurden von Sunniten gefälscht (und umgekehrt), ebenso könnten sowohl Schiiten wie Sunniten spätere „islamische“ Texte erfunden oder verfälscht haben. Im Kampf zwischen Schiiten und Sunniten gab es genügend Gründe dafür.

Dies ist nicht so sehr wegen Tabari wichtig, sondern wegen der Frage, in welchem Kontext und in welcher „Färbung“ bestimmte „geschichtliche“ Informationen aufgefasst und gedeutet werden.

Ich sehe bisher zwei Erklärungsmöglichkeiten für chronologische Schwierigkeiten in der islamischen Geschichte:

1. die Annahme einer künstlich gestreckten Chronologie:

  • Es wurde von Chronologiekritikern bereits vermutet, dass in der islamischen Geschichtsschreibung persische und arabische Geschichte chronologisch auseinander gerissen wurden, ohne dass darüber im Einzelnen bisher Klarheit erlangt wäre.
  • In der fraglichen Zeit ist „persisch“ keinesfalls gleichzusetzen mit „schiitisch“. Deshalb ist meiner Ansicht nach (zusätzlich ?) davon auszugehen, dass vor allem sunnitische und schiitische Geschichte auseinander gerissen und bestimmte Ereignisfolgen vertauscht wurden.

2. Die (bisher nicht diskutierte) Annahme, dass es eine Zeit lang zwei Hiĝra-Datierungen gab:

  • eine, die sich auf den tatsächlichen Beginn der Zählung bezog (deren Zeitpunkt unklar ist) und
  • eine, die sich auf das rekalkulierte Ereignis der (realen oder fiktiven) Hiĝra bezog.

So etwas kann entstanden sein durch widerstreitende / konkurrierende Gruppen, sowohl unter den „schiitisch“ genannten wie zwischen Schiiten und Sunniten: Welche dafür ins Auge gefasst werden, hängt u.a. vom angenommenen Zeitpunkt ab. Entstehungszusammenhänge für unterschiedliche Orientierungen bei der Zählung gäbe es viele; da Derartiges aber nicht überliefert wird, soll hier auf Spekulationen verzichtet werden. Vielleicht finden sich durch andere Forschungen Anregungen oder Hinweise dazu. Spätestens unter den Seldschuken (Ghazzali) wird eine Vereinheitlichung der muslimischer Jahreszählungen stattgefunden haben.

Literatur:

Birken, Andreas (2002): Byzantinische Phantomzeit und Islam. Zeitensprünge 3
Horst, Heribert (1953): Zur Überlieferung im Korankommentar at-Tabaris. Ztsch. d. dtsch. morgenländ. Gesellschaft, Bd.103, H.2
Illig, Heribert (1999): Wer hat an der Uhr gedreht? München
– (2002): Korrekturen, Konsequenzen. Antwort auf Andreas Birken. Zeitensprünge 3
Müller, Zainab Angelika (2002): Yesdegird und Djalali. Zu persischen und islamischen Kalendern. Zeitensprünge 2, 341-364. Nachträge: 3-02, 481-487
Newid, Mehr Ali (2006): Der schiitische Islam in Bildern. München
Schimmel, Annemarie (1985): Mystische Dimensionen des Islam. Köln