Eine Rezension von Heribert Illig (geringfügig überarbeitet aus Zeitensprünge 1/2014)

(Seitenzahlen in runden Klammern beziehen sich auf das Zeitensprünge-Heft Nr. 1/2014.)

Fried, Johannes (2013): Karl der Große · Gewalt und Glaube; Verlag C.H. Beck, München, geb., 736 S., 60 Abb. und 8 Farbtafeln [= F.]

Wer dem Karl begegnen will, den der beste deutsch schreibende Mediävist vor Augen hat, der muss Johannes Fried lesen. Ein erstrangiger Wissenschaftler und unter diesen der beste Schriftsteller. Nach seiner Emeritierung im Jahr 2009 hat er sich eine alles umspannende Karls-Biographie vorgenommen, als 71-Jähriger abgeschlossen und so rechtzeitig auf den Markt gebracht, dass ein Gutteil der anderen Arbeiten über den Jubiläums-Kaiser noch von ihr profitieren konnte.

Fried ist nur noch selten in den Fehler verfallen, von dem zu berichten, was Karolingern in der einen oder anderen Situation durch den Kopf gegangen sei, wie ihm das 1994 bei Der Weg in die Geschichte zum Verdruss von Gerd Althoff unterlaufen war. Aber gelegentlich widerfährt es ihm doch noch, etwa:

„Selbst Einhard, auch er ein germanischer Franke, erschrak, murmelte etwas von Überfremdung, die Hof und Reich lästig zu werden drohe. Doch hütete auch er sich, laut zu sprechen. Noch Jahrzehnte später sollte er Karls Nachfolger raten, sich vor Fremden zu hüten“ [F. 295].

Vielleicht ist es nicht Einhards damalige, sondern Frieds gegenwärtige Meinung. Er ist sicher konservativ, wie der Buchsatz nach alter Rechtschreibung und ein „Elephant“ andeuten [F. 513], der in dieser Form schon 1895 veraltet war. Vielleicht ist ihm deshalb Karls Inneres zugänglich: „Er hatte die Nacht schlecht geschlafen. Kehrten die Toten zurück? Rächten sie sich?“ [F. 567]

Die Althoff-Kontroverse brachte Fried dazu, sich mit der Glaubwürdigkeit von Quellen zu beschäftigen. Eine Frucht dieser Arbeit war seine historische Memorik [2004], in der er die Schriftquellen sehr kritisch beäugte. So kam er dort sogar zu dem radikalen Schluss:

„Historische Forschung muß, soweit sie auf erzählende Quellen angewiesen ist, vordringlich Gedächtniskritik betreiben. Das neue Fundament, auf dem künftiges Forschen aufruhen muß, heißt erinnerungskritische Skepsis und verlangt eine ‘Memorik’, die ihr gerecht wird: Alles, was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipiell als falsch zu gelten“ [Fried 2004, 48; Hvhg. HI].

Damit dürfte er seine Kolleg/inn/en düpiert haben, war er doch entschieden übers Ziel hinausgeschossen; auf welcher Basis sollte er – dem die Archäologie ein Fremdwort ist, zumindest als Hilfswissenschaft des Mediävisten [1996] – seine eigene Arbeit begründen? So kann es nicht verwundern, dass er dieses Werk von beachtlichen 500 Seiten in seinem Karl mit keinem Wort erwähnt. Aber natürlich bleibt er dabei, dass die damaligen Chronisten Schriften hinterlassen haben, die der Spezialist erst auf Plausibilität, Voreingenommenheit oder Wahrheitsgehalt zu prüfen hat, bevor er sie heranzieht. Das allerdings ist eine Banalität, die aber tatsächlich immer wieder ausgesprochen werden muss. So im ersten Absatz seines jüngsten Werks:

„Das folgende Buch ist kein Roman, dennoch eine Fiktion. Sie beschreibt das Bild, das sich der Autor von Karl dem Großen oder Charlemagne macht. Es ist subjektiv geformt und gefärbt, auch wenn es die Zeugnisse jener Zeit gebührend heranzieht. […] Eine objektive Darstellung des großen Karolingers ist schlechterdings nicht möglich“ [F. 9].

Mit diesem Tenor endigt auch das Buch: „Karls Leben mit all seinen Widersprüchen verschließt sich uns“ [F. 593]. Denselben Bogen schlägt er als Frankfurter im Hinblick auf ein ganz großes Vorbild, indem er sein Buch mit einem Prolog eröffnet, der allerdings nicht im Himmel, sondern in der Hölle spielt. Aber dieser Vorspann endigt immerhin mit der heiligen Messe, die alljährlich an Karls Sterbetag zelebriert wird, und mit diesem Hochamt schließt auch das Buch [F. 30, 633] – somit doch seinem Vorbild nahekommend. So umgreift der Glaube dieses Buch, in dem viel Gewalt vorkommt, aber doch ziemlich gedämpft, gewissermaßen con sordino.

Karl der Große: Skizze nach dem Leben, von Albrecht Dürer, 1510

Karl der Große: Skizze nach dem Leben, von Albrecht Dürer, 1510

Karl der Große: Idealbildnis mit den Reichskleinodien, die zu seiner Zeit noch nicht existierten, von Albrecht Dürer, 1510/12

Karl der Große: Idealbildnis mit den Reichskleinodien, die zu seiner Zeit noch nicht existierten, von Albrecht Dürer, 1510/12

Kindheit und Mannesgestalt

Der erste Abschnitt ist der Kindheit Karls gewidmet, über die uns Einhard nicht unterrichten wollte. Folglich wird es hier bereits ganz subjektiv: „eines gibt die Anekdote klar zu erkennen: Daß Karl nämlich die Liebe zu Aachen von seinem Vater geerbt hatte“ [F. 41] oder:

„Auch dieses früh bezeugte Verlangen nach dem fehlerfrei verkündeten Gotteswort dürfte schon vor der Königszeit Karls des Großen geweckt worden sein“ [F. 47].

Das mag so, kann aber auch anders gewesen sein. Wir wollen uns hier nicht mit derartigen Einfühlungen oder auch Unterstellungen auseinandersetzen, auch nicht mit Frieds Interpretationen von Karls politischem Handeln. Uns interessiert hier nicht die klug komponierte Abfolge eines gigantischen Lebens, als vielmehr die Unschärfen und Lücken, die Fried – Gegner des erfundenen Mittelalters seit der ersten Buchveröffentlichung – belassen muss, obwohl das Karls Fiktionalisierung fördert. Insofern äußert er auch überhaupt keinen Zweifel an diesem alle Grenzen sprengenden Leben.

 Ziemlich unabhängig von eigenen Vorstellungen sollte die Einschätzung sein, wie groß ein Skelett ist und welche Körpergröße sich daraus ableiten lässt. Gleichwohl war in den letzten Monaten nicht nur in Aachen das Bedürfnis zu spüren, einen möglichst großen Karl zu rekonstruieren (s. S. 65, 72, 79). Fried hielt sich bei dieser Frage zurück:

„Karl war groß, eine Hüne von Gestalt, ein ganzer Kerl; um Haupteslänge überragte er die meisten seiner Zeitgenossen. Der Rest seiner Gebeine in Aachen, als Reliquien gehütet und verehrt, verrät es. Von Kindesbeinen an hatte er sich im Waffengebrauch und Kampf geübt“ [F. 123].

Er will hier seinen Helden nicht künstlich vergrößern und hat andernorts durchaus eingeräumt, dass Karl 1,80 m oder ein wenig mehr gemessen haben dürfte, nach fränkischem Maßstab also kein Hüne war und die Anthropologen keinen besonders muskulösen Körper aus den Knochen im Karlsschrein ableiten konnten (s. S. 42). Fried gestattet sich deshalb den Zweifel, ob es sich überhaupt um die richtigen Knochen handelt, die da im Aachener Schrein ruhen (s. S. 79).

Sein Alter? Bei Karls Tod zitiert er Einhard – „Siebzigjähriger“ –, tritt aber für ein Sterbealter von 66 ein [F. 596]. Die von Einhard ebenfalls genannten 72 ignoriert Fried völlig. Und was war die Krankheit zum Tode? Die kennt Einhard, da ist also nichts zu holen. Aber wird nicht eine Art Schlaganfall geschildert, der ihn vom Pferd reißt? Da lässt sich weiterdenken und fragen: „War es ein epileptischer Anfall, der den Kaiser zu Boden zwang und nun seine Habe verteilen ließ? Gewiß ist nichts“ [F. 569]. Als Interviewter wird er deutlicher. Da ist diese zur Sicherheit gereifte Diagnose sein Fund (S. 79).

Über Karls Psyche wollen wir nicht weiter räsonieren, allenfalls darüber, dass er mit Hildegard, „eine junge Dame von knapp dreizehn Jahren“ [F. 128] freit, die man auch damals noch als Kind bezeichnen durfte. Er hat sich dann „nach dem Tod seiner vierten oder fünften Gemahlin Liutgard und seit seiner Kaiserkrönung mit Konkubinen begnügt“ [F. 540]. Ob ihm sein Beichtvater ob dieser Einschränkung und Begrenzung die Absolution erteilt hat? Fried gewährt mehr Freiheiten, als sie einem Christenmenschen zustehen.

Krieg und Kriegswesen

Und damit zu den Karolingern und der von ihnen so herausragend geprägten Zeit. Sie stehen für jene gewaltigen Expansionsanstrengungen, die von Franken aus unternommen worden sein sollen und die sich im Wesentlichen in Sachsen und Pannonien auswirkten, jenem Pannonien der Awaren, „gefährliche Feinde, bis sie 796 endgültig besiegt waren und ein Jahrzehnt später das Christentum angenommen hatten“ [F. 115] – und „fortan konkurrierte das ins Unermeßliche gewachsene Frankenreich mit Byzanz“ [F. 194]. Darüber kann  leicht aus dem Blick geraten, dass die christlichen Awaren nach ihrer Taufe völlig von der Bildfläche verschwinden und die „Awarenwüste“ hinterlassen; das Brachland hätten die Ungarn erst 896 eingenommen, die dann erst um 1000 christianisiert worden sind. Aber wer wollte sich an solchen Brüchen stören, vor allem, wenn es heißt: Die Awaren in Pannonien waren zwar besiegt, „doch der Ausbau und die Sicherung der fränkischen Macht und die Wiederverbreitung des Christentums in Pannonien steckten noch in den Anfängen“ [F. 539]. Also erst christianisiert, doch dann wieder alles auf Null zurück – oder Fried als Meister changierender Sachverhalte.

Ein Wort noch zu den Sachsen. Einhard [c. 7] hat uns Karls Ziele überliefert: Deren Stämme mussten dem Götzendienst abschwören, die christliche Religion annehmen „und sich mit den Franken zu einer Volkseinheit zusammenschließen“. Fried macht daraus in seiner eleganten Art etwas ganz anderes: „Doch mit der Zeit einte ihre Eingliederung ins Frankenreich, wie es scheint, die Sachsen zu einem Volk“ [F. 156]. Und das war den Franken 32 Jahre Krieg wert, die ihr eigenes Land eigentlich hätten ruinieren müssen! Das Schicksal ihres einzig namentlich bekannten Anführers Widukind wird ebenfalls geschickt kaschiert: „Der tapfere Mann durfte sich auf seine Besitzungen zurückziehen und verschwand in keinem Kloster“ [F. 161]. Dabei ist er sehr wohl aus der Geschichte verschwunden; obwohl Karl ihm persönlich bei der Taufe Pate stand, ward nichts mehr von dem tapferen Mann gehört. Auch Lucas Wiegelmann, sonst mein Gegner, wird hier Fried-kritisch:

„Die paar tausend heidnischen Sachsen, die Karl auf seinen Eroberungszügen über die Klinge springen ließ, kommentiert Fried großzügig: »Die Heilsvermittlung scheute keine Gewalt, aber diese richtete sich gegen die fremde Kultur, nicht gegen die Menschen, deren Seelenheil es zu schützen galt.« […] Kritisch wird die Darstellung erst wieder wenn es gilt, Karls Sohn Ludwig den Frommen als Despoten und Versager gleichzeitig hinzustellen. Auf dass Karls Stern nur umso heller strahle.“

Mit diesen Expansionsbedürfnissen einher gehen Kontakte vor allem mit dem Osten, also mit Byzanz – das ist weniger signifikant, weil es 1204 von den römisch orientierten Christen geschlagen wurde und seine Vergangenheit in den Händen der Sieger blieb – und vor allem mit den islamischen Gebieten. Fried beginnt wie alle Mediävisten mit dem groß herausgestellten Gesandtenaustausch [F. 81], um dann doch einräumen zu müssen, dass wir ihn immer noch praktisch nur von der fränkischen Seite aus kennen, kann er doch z.B. nur mutmaßen, die Abbasiden hätten Christen als Gesandte geschickt [F. 86]. Er kann das indirekt einräumen, weil er einen kleinen Trumpf ausspielt, glaubt er doch „nur schwache, erst neuerdings erkannte Spuren dieses Austauschs“ zu erkennen [F. 86]. Man habe nämlich zwei Texte aus dem 10. und 12. Jh. entdeckt, in denen von einem früheren Metallhandel mit einem  „Tyrann“ die Rede sei, „hinter dem sich niemand anders verbergen dürfte als Karl der Große“ [F. 465]. Mit diesem „dürfte“ ist einmal mehr klargestellt, dass die Forschung zu Gesandtschaften von und zum Islam einzig und allein auf christliche Quellen zurückgreifen kann.

Die fränkische ‘Hemisphäre’ wusste nichts vom vorderen Orient, weshalb Fried den völlig unergiebigen Bericht einer Pilgerreise nach Jerusalem präsentieren muss, die vor 680 und damit vor der Karolingerzeit unternommen worden war [F. 90]; sie wusste auch nichts von Byzanz [F. 93, 103]. „Auch die Welt wußte wenig von den Franken“ [F. 86]. ‘Zum Glück’ gibt es vom Ende des 9. Jh. arabische Berichte über jüdische Händler, die dank exzellenter Geographiekenntnisse schwunghaften Handel von Frankenland, Spanien und Marokko bis nach China betrieben hätten [F. 96], Berichte, die allerdings keine Interna über alle die Herrschaften der gesamten Alten Welt verrieten, die wir so gerne kennen würden. Zum einen ist auch das keine Karlszeit, zum anderen ist das völlig unwahrscheinlich und eher ein Indiz für die längst gemutmaßte Veraltung islamischen Wissens vom 10./11. ins 8./9. Jh.

Aber Karls Großvater, der ‘Sarazenenschlächter’ Karl Martell, der erste Retter des christlichen Abendlandes! Wer solchen Gedanken anhängt, wird von Fried bitter enttäuscht:

„Streifscharen [des Kalifats] drangen bald bis tief nach Aquitanien hinein; eine von ihnen wurde durch Karl Martell im Jahr 732 gestellt und geschlagen, was die karolingische Propaganda als großen Sieg feierte“ [F. 105].

Da hatte der ‘Hammer’ je nach Propaganda bis zu 375.000 Sarazenen niedergemäht – und jetzt darf er nur noch eine einzelne Streifschar von vielleicht 150 Mann aufreiben. Damit verschwindet auch Martells schweres Panzerreiterheer, das ansonsten hochgehalten wird, aber im frühen 8. Jh. – mangels Funden und Voraussetzungen – nichts zu suchen hat. ‘Zum Ersatz’ verweist Fried unmittelbar danach auf die Flotte, die von den muslimischen „Landbewohnern“ – wären Meeresbewohner die Alternative? – „erstaunlich rasch“ wenn nicht gebaut, so doch auf jeden Fall ausgerüstet worden war, und die sogar Konstantinopel ernstlich bedrohte [F. 105] – wie das gerade in Phantomzeiten besonders leicht möglich ist.

Aber Spaniens sarazenische Hochkultur ist bereits von des jungen Karls Argusaugen entdeckt worden:

„Karl war nicht blind für das Wissen der Fremden [aus Andalusien].

Noch freilich war es zu früh für ein Vorgehen der Franken gegen die umayyadische Herrschaft in Spanien. Erst unter Karl dem Großen konnte es geschehen.“ [F. 109]

Eindrucksvoll ist an dem letzten Zitat Frieds Komposition: Wo Karl irgendetwas Vorteilhaftes entdeckte, will er sofort mit dem Schwert zuschlagen, vernichten und/oder vereinnahmen – das beleuchtet Frieds Untertitel Gewalt und  Glaube eindrücklich. So steuerte alles auf die Niederlage von Roncesvalles zu, die erst ab 1100 zum Heldenlied hochstilisiert wird.

Bleiben wir beim alljährlichen Krieg der Franken. Fried wird von Bredekamp [2014] gelobt,

„da er die am antiken Militärwesen geschulte Effizienz des karolingischen Heeres mitnichten unterschätzt. Dass es gleichwohl dreißig Jahre bedurfte, um die Sachsen zu unterwerfen, spricht für deren Kampfkraft.“

Ein echter Bredekamp, wie er uns noch mehrmals in dieser Ausgabe begegnen wird: Da baut sich Karl wohl mit viel Drill und Rückgriff auf römische Militärvorschriften ein effizientes Heer auf, das dann 32 Jahre braucht, um die davon in keiner Weise angekränkelten, sondern mit List und Schläue agierenden Sachsen endlich niederzuwerfen, ohne sie integrieren zu können. So müsste man Bredekamps Lob dahingehend umkehren: Wie rasch hätten sie mit den Sachsen fertig werden können, hätten sie nicht auf altrömisches Taktieren, Fouragieren und Marschieren vertraut.

Fried will sich nicht über die Heeresstärke auslassen, aber Karl „selbst verfügte, wie es scheint, über ein kleines stehendes Heer“ [F. 149] – nur ein Beispiel für den vielfachen Gebrauch von Konjunktiv und Irrealis durch den Mediävisten. Bei der Bewaffnung sieht es nicht besser aus. Er nennt die leichte Bewaffnung der damaligen Franken und kaschiert das herrschende Unwissen, so weit es möglich ist:

„Ein Helm zeichnete […] vielleicht bloß die Anführer aus; um 800 dürfte er verbreiteter gewesen sein“ [F. 151]. Fried hätte auch sagen können, dass keine Ausstellung einen karolingischen Helm zeigen kann, weshalb in Filmen Phantasiehelme getragen werden dürfen (s. S. 43, 76).

Und dann: „eine Brünne für die Reichen“ [F. 150]. Wer dieses Detail im Kopf behält, staunt bald: „Das Aussehen einer Brünne verdeutlicht wohl eine Miniatur“ [F. 218], womit klargestellt wäre, dass es sich um eine Kettenhemd handeln müsse, dessen Länge und Gestaltung jedoch unbekannt ist, weil bislang keines gefunden worden ist. War es vielleicht ein Schutz nur für die beiden Superreichen im Land? Nein, das auch wieder nicht, denn das „älteste unzweifelhaft echte Kapitular des großen Königs“ von 779 lässt den Verkauf von Brünnen über die Reichsgrenzen hinaus nicht zu [F. 303, 305]. Außerdem verbot der alternde Kaiser das Tragen der Brünne zuhause [F. 542]; es scheint also jeder freie Franke eine besessen zu haben.

Das ist ein plakatives Beispiel dafür, wie Fried zwar bei politischen Texten jede leise Verformung durch den Schreiber aufspürt, aber überhaupt kein Gespür dafür hat, dass er mit fiktiven Texten hantieren könnte, die einmal eine ‘Realität’ schildern, doch andernorts eine Fiktion. So zitiert er auch das angeblich karlszeitliche Hildebrandslied: „Sie strafften ihre Panzerhemden“ und schlugen aufeinander ein, bis ihnen das Lindenholz der Schilde „zu Spä nen zerfiel“ [F. 152] – wohl zwingende Begründung dafür, dass allenfalls karolingische Schildbuckel, aber keine ganzen Schilde in Ausstellungen gezeigt werden können.

Dafür scheint es noch eine karolingische Geheimwaffe gegeben zu haben: „Die schweren Waffen der Franken seien im engen Tal [von Roncesvalles] nutzlos gewesen, meinte Einhard (c. 9)“ [F. 167]. Was führte die von Roland geleitete Nachhut da Geheimnisvolles mit sich? Etwa römische Torsionsgeschütze der Spätantike? Diese heftig rückstoßenden „Wildesel (Onager)“ halfen bei Belagerungen [wiki  Onager]. Aber Fried besänftigt jeden Exzess: „Die Bewaffnung war im Vergleich zu späteren Zeiten leicht“ [F. 150], und er spricht sie gleich exemplarisch an: „Die üblichen Waffen und sonstiges Kriegsgerät – Axt, Messer, Schanzgerät, eiserne Spaten und dergleichen“ [F. 151]. Die üblichen Waffen waren Lanze, Lang- und Kurzschwert, Schild, Brünne und Helm [F. 150]. Was also sonst? Hatten die Franken vielleicht Rammböcke im Gepäck, die sie nicht vor dem islamischen Saragossa, aber vor dem christlichen Pamplona einsetzten?

Wir wissen also, dass die Karolinger sowohl leicht und zugleich auch schwer gerüstet waren; so konnten sie den Krieg überall hin tragen:

„So war der König über die Alpen geeilt, hatte den Aufstand in Friaul niedergeschlagen, war aber, ohne nach Rom weiterzuziehen, nach dem Norden zurückgekehrt, da ihm Unruhen in Sachsen gemeldet worden waren, die seine Gegenwart erforderten“ [F. 170].

Für Fried ist das Heldenalltag, während wir staunen. Denn die beispielhaft hier unterstellte Strecke von Aachen zum ältesten friulanischen wie langobardischen Herzogssitz Cividale und weiter nach Paderborn beträgt auf heutigen Straßen rund 2.500 km, wenn Karl, der nie über den Brenner galoppierte, wenigstens einmal den Großen St. Bernhard wählte. Dazwischen auch noch blutiges Kampfgetümmel … der Krieg, „so gemächlich wie das Leben“ [F. 150]. Solches ‘Karlsgarn’ hat mich dazu gebracht, die Kriege Karls einmal nachzurechnen; dort stehen weitere einschlägige Fried-Zitate (s. S. 111 ff.).

Der Frankfurter sinniert in solchen Zusammenhängen lieber „über die manipulierenden Impulse frühmittelalterlicher Geschichtsschreibung“ [F. 168] oder über „ein verzerrendes »Ergebnisprotokoll«“ [F. 189], womit sich „die einschneidend die Vergangenheit deformierende Macht des Siegers“ enthüllt“ [F. 192]. Ja: „Das Gedächtnis ließ sich manipulieren“ [F. 192]. So drängt seine Historische Memorik wieder nach vorn, die er aber – wie schon erwähnt – nicht mehr heranzieht.

Karolingische Wirtschaftskraft

Kommen wir zu Handel und Wandel, Geld- und Finanzwesen, dem nächsten Höhepunkt karlischer Umsicht. „Die Darstellung des oftmals unterbelichteten  Wirtschaftslebens ist ein Prunkstück des Buches“, würdigt Bredekamp [2014], dem dieser Bereich wohl eher fremd ist. Besonders zu würdigen war die doch fürs gesamte Mittelalter höchst bedeutsame Münzreform. Bekanntlich entschied man sich für einen einzigen Silbermünzwert, also weder Bronze-, Kupfer- oder Goldprägungen [F. 358]. Fried kennt sogar Preise, wobei er die äquivalente Bezeichnung Pfennig dem Denar vorzieht: „Lanze und Schild 2, ein Hengst 7, eine Stute nur 3 Pfennig“, der Preis einer Kuh ergibt sich indirekt mit 2 Denaren [F. 58]. Ob der später genannte Preis von 12 Denaren für einen einjährigen Ochsen damit kompatibel ist [F. 358], bleibe dahingestellt, doch finden sich im Internet auch ganz andere Preisangaben [z.B. Winter]. Es wäre aber auch unwahrscheinlich, dass es Karl in seinem ‘Regulierungswahn’ (s.u.) gelungen wäre, die Preise reichsweit zu vereinheitlichen. Immerhin soll es für Grundnahrungsmittel Höchstpreise gegeben haben [F. 358].

So stellt Fried klar, dass diese Währung nicht für den bäuerlichen Alltag brauchbar war, denn bei Käufen, die weniger als eine halbe Kuh ausmachten, musste offenbar Tauschhandel getrieben worden. Diesen Rückfall in vorrömische Zeiten, diese Bankrotterklärung gegenüber Byzanz und dem eigenen Volk fällt ihm aber so wenig auf wie den anderen Mediävisten. Keine Rede ist auch davon, dass die Karolingerzeit die vielleicht münzärmste Epoche seit der Zeitenwende darstellt. Dass es nur ca. 2.000 Denare gibt [Hartmann, 62], ist ihm keinerlei Erwähnung wert, noch weniger der Umstand, dass die bildlosen Münzen immer vom Rex (König) sprechen, als wären sie nach der Kaiserkrönung nicht mehr geprägt worden. Wie können alle diese Widersprüche auf einen Nenner gebracht werden? Der sprachmächtige Fried hat zu einer Formulierung gefunden, die schlechthin genial genannt werden kann: „Geld war nicht fremd“ [F. 226] – und alle Schwierigkeiten lösen sich auf: Nun konnte theoretisch auch der ärmste Hörige Münzen kennen, auch wenn keine im Land umliefen, nun konnten Unmengen von Silberlingen ins Ausland gebracht werden, selbst wenn im Inland allein Tauschmärkte bestanden.

So kann er auch den numismatischen Höhepunkt würdigen, gibt es doch 30 Bilddenare, die Karl im Profil, mit Schnurrbart zeigen, umschrieben mit Imp(erator) Aug(ustus). Deren minimale Anzahl beunruhigt ihn irgendwie; daraus folgt eine märchenhafte Erklärung, die davon ausgeht, dass diese wenigen Münzen „aus wenigstens elf oder zwölf Prägestätten“ stammen sollen [F. 510]:

„Die Vielzahl der Orte dürfte einen hohen Ausstoß nahelegen, der sich im spärlichen Fundgut aber nicht niedergeschlagen hat. Geld indessen, das in die muslimische Welt geschickt werden sollte und bloß etwa drei Jahre lang geschlagen wurde, konnte im Karlsreich nur eingeschränkt kursieren. So erklärt sich ohne weiteres die überraschende Seltenheit der erhaltenen Bilddenare“ [F. 510 f.].

Diese Erklärung macht den Leser perplex. Da ist die muslimische Welt konsequent bilderfeindlich, aber extra für den Handel mit ihr wären Bilddenare geprägt worden. Das klingt so, als ob die Moslems dieses gotteslästerliche Geld, so sie es überhaupt nähmen, sofort einschmelzen sollten. Prägt man für einen solchen Zweck Münzen? Aber Fried hat noch eine zweite Erklärung parat. Die Bilddenare

„dürften nämlich gar nicht oder nicht in erster Linie für den Umlauf im Frankenreich bestimmt gewesen sein, sie könnten vielmehr jenes «Geld» (elemosina) repräsentieren, das nach Jerusalem und in andere muslimische Gebiete geschickt werden sollte, um Kirchen zu «restaurieren» und die Christen zu unterstützen. Tatsächlich verfügte im Jahr 810 eine Versammlung am Aachener Hof eine entsprechende Hilfe“ [F. 512].

Nun ist es präzisiert: Geld zwar für muslimische Gebiete, aber für dort lebende Christen. Da all diese Restaurierungen an einheimische ‘Handwerksfirmen’ gingen, wären aber doch Muslime die eigentlichen Adressaten. Dieses Tappen im Nebel rührt davon her, dass bei Einhard [c. 51] steht, Karl habe seine schweren Geldhorte über die Armen in Syrien, Ägypten und Nordafrika ausgeschüttet. So wird die seltsame Vorstellung imaginiert, Karl sei bei Duldung durch den Kalif Schutzherr über die Christen im Heiligen Land geworden, obwohl ihm keine Schiffe im Mittelmeer zur Verfügung standen und alle Landwege durch Byzanz liefen. Wollte Byzanz, das sich noch als rechtmäßiger Besitzer Palästinas fühlte, den Durchzug dulden? Die Reichsannalen berichten für das Jahr 807 sogar, Karl habe sich um bedrängte Christen auf Pantelleria gekümmert, einer Insel, die der tunesischen Küste noch näher liegt als Lampedusa [Reichsannalen / 807]. Aber Entfernungen spielten für Karl bekanntlich keine Rolle.

Den eigentlichen Höhepunkt karlischer Prägungen verschweigt Fried hier. Natürlich weiß er, dass 1996 in Ingelheim ein goldene Karlsmünze gefunden worden ist, also ein Solidus, der mit seiner allzu stark kontrastierenden Vorder- und Rückseite die größten Probleme aufwirft. Vielleicht fehlt dieser Münzsolitär deshalb schlicht und einfach im Buch. (Hier muss einmal auf den Niedergang des Buchwesens hingewiesen werden. Brauchbare Register werden immer seltener, wenn ich die aktuellen Karlsbücher durchsehe. Frieds Buch hat immerhin ein Personenregister und ein Ortsverzeichnis, aber es fehlt wie so oft das Sachregister. Insofern gibt es keine Gegenkontrolle zu dem Solidus, der doch irgendwo auf den 730 Seiten gestreift worden sein könnte.)

Wie um seine facettenreiche Mitteilungen zu verstärken, hat er in einem separaten Aufsatz [Fried 2014b] etwas ganz Neues mitgeteilt:

„In Arles wurden Goldmünzen unter Karls Namen geprägt, das Handelsgeld für den Orient. […] Der freundschaftliche Austausch mit Harun al-Rasid eröffnete Karl Einfluss in Jerusalem und machte ihn – schmeichelhaft  für sein kaiserliches Selbstverständnis – zu einer Art Schutzvogt des Heiligen Grabes. Karl liess sich das viel kosten. Seine Agenten prüften den jährlichen Finanzbedarf der Kirchen des Heiligen Landes, 2000 Solidi, eine ungeheure Summe, betrug allein der Etat des Patriarchen. Der Franke sandte reichlich Geld, gemünztes Silber, nach dem Orient und an «Christen in Afrika».“

Hier vergisst Fried Karls Münzreform von (angeblich) 794. Neben dem allein zulässigen Silber seien jetzt Goldmünzen für den Orient geprägt worden. Das leitet er aus der – ihm nun doch präsenten – einzigen, in Ingelheim gefundenen Goldmünze ab und vergisst auch noch, dass sie den Numismatikern die allergrößte Mühe bereitet, weil Vorder- und Rückseite überhaupt nicht zusammenpassen – vielleicht ein Grund, dass Fried die vom Fälschungsverdacht nicht freie Münze im Buch beiseite gelassen hat. Er widerlegt sich dann gleich selbst, lässt er doch anschließend das Geld für die Christen im Süden und Osten in Silber geprägt sein, auch wenn er es nicht in Silber taxiert, sondern in Gold (Solidi). Solches gehört in die Rubrik Verwirrspiele.

Ergänzend ließe sich einmal mehr darauf hinweisen, dass kein Mediävist sich Gedanken darüber machen will, warum die bayerischen Herzöge, die doch mit den Karolingern und den Langobarden verwandt waren, von ihren Anfängen im 6. Jh. bis zu ihrem bitteren Ende, 787/88, keine Münzen schlagen ließen. Diesen Verzicht auf leichte Einkünfte möchte niemand motivieren. (Da Herzogsnamen wie Tassilo, Odilo oder Theodo später nicht mehr in Gebrauch waren, gab es keine entsprechend beschrifteten Münzen, die man in die Phantomzeit zurückprojizieren konnte.) Rechtfertigen muss sich Fried allerdings in Bayern und Österreich dafür, dass er die Agilofingerherrschaft willkürlich von ca. 230 auf 150 Jahre beschnitten hat [F. 190] und die ‘Österreicher’ östlich der Ems als Barbaren sieht [F. 295].

Neben der Münzreform gab es viele weitere Reformen, mit denen das Leben vereinheitlicht werden sollte, angefangen bei Maßen und Gewichten. Dass man gleichwohl das Grund- und Konstruktionsmaß von Aachens Pfalzkirche erst jetzt gefunden hat [F. 418], illustriert, dass dieser Regulierungswahn damals weder gegriffen hat noch tradiert worden ist (ähnlich bei Gewichtseinheiten, Namen für Winde und Himmelsrichtungen etc.). Und Karl ging sehr weit: „Niemand darf Einsiedler werden ohne die Zustimmung des zuständigen Bischofs und Abtes“ [F. 359] – so stand in diesem schütter besiedelten Land noch der Einsamste unter Kuratel.

Beim Wirtschaften spricht der Frankfurter wie heutige Controller:

„Berater wie der Abt Adalhard von Corbie könnten ihm dabei mit ihrem Gespür für mittelfristige Planung, Bedarfskalkulation und Rücklagenbildung, die er in seiner Klosterordnung an den Tag legte, zur Seite gestan den haben“ [F. 206].

Es gab damals selbstverständlich auch „Effizienzkontrolle“ [F. 211]. Dafür brauchte man strikte Verwaltungsvorschriften, vor allem das von Fried hochgeschätzte Capitulare de villis. Ihm widmet er allein elf Seiten [F. 207-217] und kommt fallweise auf diese Verordnung zurück. Ihr hatte ich einen süffisant- ironischen Kommentar gewidmet, der Absurdität und Undurchführbarkeit all dieser Vorschriften ins Licht rücken sollte. An Fried prallt so etwas ab, obwohl er wiederholt darauf hinweist, dass damals keine Folgen derartiger ‘EU-Vorschriften’ zu bemerken sind. Etwa das Beachten der Vorschriften: „Ob es jemals geschah?“ [F. 210], oder:

„Die Schriftlichkeit war nicht selbstverständlich: Karl hatte sie schon früher angeordnet, doch war sie nicht befolgt worden. Eine entsprechend detaillierte Abrechnung hat sich nicht erhalten; doch zeigen immerhin glücklich überlieferte Muster wie etwa die «Brevium exempla», daß zumindest einzelne Abrechnungen tatsächlich eingegangen sein dürften“ [F. 210 f.].

Da hat ganz offensichtlich die gelobte Effizienzkontrolle versagt. Um hier wenigstens einen knappen Vergleich zu ermöglichen, seien eine Ursprungspassage des Capitulare [c. 69] und zwei konträre Kommentare zitiert:

Capitulare: „Über die Häufigkeit des Vorkommens von Wölfen ist uns jederzeit zu berichten und dabei anzugeben, wie viele jeder Jäger erlegt hat. Die Felle sind als Belege einzusenden“ [CdV, c. 69; Hvhg. HI].

Fried: „Das Auftreten von Wölfen soll dem König gemeldet, ihr Fell dem König übergeben werden; im Mai sollen die Welpen aufgespürt werden (c. 69). Ein Wolfsfellcape macht zwar nicht viel her, eignete sich aber bestens zum Schutz vor Regen und Schnee“ [F. 214].

HI: „Hier wurde die Aktenablage in der Zentrale durch die beigehefteten großen Felle deutlich erschwert, aber gleichwohl beherrscht“ [Illig 2011, 302].

Ob darüber Quittungen ausgestellt wurden, bleibt leider im Dunkel der Geschichte. Aber auch Fried muss zumindest in die Frageform wechseln, wenn es um die dort genannten, doch unbekannten Zentralgestüte geht: „In welchem Stall aber standen die vielen Kriegshengste?“ [F. 223] Später stellt er fest: „Die größten Getreidelager befanden sich in kirchlicher Hand“ [F. 457]. Leider weiß man von keinen solchen, geschweige, dass sie archäologisch nachgewiesen wären, wie etwa die riesigen Getreidelager (grangium, Grangie) der Zisterzienser im 12. Jh.

Um die Hungersnöte durch Karl zu überwinden, bietet Fried schweres Gerät auf:

„Die jetzt erschlossenen fetten Böden ließen sich nur mit dem schweren schollewendenden Pflug bearbeiten, erbrachten aber einen höheren Ertrag.  Dieser Räderpflug verlangte ein Zuggespann von mindesten zwei Ochsen […] Karl profitierte hier von einer technischen Entwicklung, die er nicht selbst auf den Weg gebracht hatte […] Hungersnöte kehrten regelmäßig wieder“ [F. 227 f.].

Das Gerät auf Rädern hätte auch Karl sicher gern gesehen, aber die beiden einschlägigen Abbildungen zeigen einen Holzpflug ohne Räder, beide der Zeit nach Karl zugewiesen [F. 205, 554]. Doch auch das ficht Fried nicht an, so wenig wie die häufigen Hungersnöte trotz unterstellter Dreifelderwirtschaft.

Eine von vielen möglichen Fragen wollen wir noch aufwerfen. Guy Bois hat 1993 wieder ins Bewusstsein gehoben, dass in Europa bis ums Jahr 1000 Sklaven gehalten wurden, also eine Sklavenwirtschaft bestand. Fried verwendet diese übel beleumdete Wort nicht für seine Karolinger; er spricht lieber von Hörigen, die aber nicht mit Sklaven identisch gesetzt werden [F. 229]. All das scheint nicht einfach zu sein.

Karls Renaissance und ihre vermissten Spuren

Wenden wir uns dem Königshof und dem zu, was als karolingische Renaissance bezeichnet wird, also dem geistigen Wiederaufschwung in allen Gebieten von Kunst und Gelehrsamkeit, den Fried mit seinem Untertitel Gewalt und Glaube zu übergehen scheint, aber es mitnichten tut.

Aachen ist natürlich ein paar Jahre Baustelle, aber bekanntlich ging das mit Kirche und Pfalz ja sehr schnell. „Die weiträumige Kooperation beim Bau zumal der Pfalzkirche erklärt die rasche Vollendung des Werks binnen weniger Jahre“ [F. 407], was immer die weiträumige Kooperation gewesen sein mag. Vielleicht die berühmten Säulen aus Ravenna, vom Papst überlassen und von wackeren Hörigen transportiert?

„Alsbald muß der Abbruch […] begonnen und Ochsengespanne, vielleicht auch Lastschiffe sich mit den tonnenschweren Säulen auf den mühsamen Weg über die Alpen oder die Küsten entlang nach Aachen gemacht haben“ [F. 184].

Wie sahen die Lastkarren aus, die drei Tonnen schwere, fragile Steinsäulen über unwegsame Pässe kutschieren konnten? Und wie lang segelte man wohl von Ravenna aus entlang der Küsten bis Aachen, wenn das Mittelmeer von fremden Mächten und Piraten beherrscht wurde? Ein Jahr, zwei Jahre? Immerhin sollen, nachdem 794 gerade die Fundamente ausgehoben worden waren, die Säulen des Obergeschosses schon im Frühjahr 796 eingebaut gewesen sein. Denn laut Fried preist Theodulf die Kirche bereits damals „als schöner Bau zu herrlichen Gewölben“; „Von ihr schritt man zur Königshalle“ [F. 413]. Da war ganz offensichtlich bereits alles fertig und alle wundern sich, die Mediävisten ausgenommen, denn die haben die Daten schwarz auf weiß,  fehlerfrei und pergamentecht. Aber weil Alkuin auch etwas kundgetan hat, könnten die Säulen auch vor oder in 798 eingebaut worden sein. Allerdings: „Die Säulen waren empfindlich und kostbar“ [F. 413]; bei verantwortungsbewussten Bauleitern werden sie erst eingesetzt worden sein, nachdem die Kuppel fertig gewölbt und das 30 m hohe Schalgerüst mit seinen seitlichen Verstrebungen entfernt war. Doch es bleibt dabei: Die Kirche erhob sich in Windeseile.

Es folgt eine weitere elegante Fried-Wendung: „der größte Kuppelbau ihrer Zeit nördlich der Alpen“ [F. 410]. Da er gar nicht versucht hat, meine Argumentation sauber zu widerlegen, vergleicht er das ‘Karlswunder’ nicht mit Vorläufern oder Nachfolgern. Er weiß, dass die Kuppel auch 200 Jahre früher oder 300 Jahre später datiert werden könnte und immer noch die höchste nicht nur ihrer Zeit, sondern der bis dahin durchlaufenen christlichen Baugeschichte bliebe. Denn wo hätte es unter Merowingern, Karolingern oder Ottonen noch eine 15 m durchmessende Kuppel gegeben? Bei den Karolingern allenfalls ganz kleine, ca. 4 m spannende in Germigny-des-Prés. Theodulfs kleine Kirche steht im Kern unverändert, hatte wohl fünf Kuppeln und sechs Apsiden, weshalb sie „in ihrer Anlage an das Aachener Münster erinnert haben soll“ [F. 351]. Die Pfalzkirche hatte eine Kuppel und eine Apsis, dazu ein Acht- und ein Sechzehneck ohne Entsprechung bei Theodulf…

Fried[410] ist sichtlich beeindruckt von dem Aachener Bau „«zu den Sternen empor»“. Doch obwohl er ihm geradezu „eine kleine Monographie“ [Bredekamp] gewidmet hat, will er von der damit verbundenen technischen Meisterleistung wenig wissen. Im Kleingedruckten spricht er von den eisernen Ringankern, aber nicht über ihre Herstellung [F. 677]. Dabei hat er einen verräterischen Hinweis gegeben; wenn er auf den „gelehrten Angelsachsen“ Alkuin zu sprechen kommt, beschreibt er dessen intellektuelle Grenzen:

„Doch allzutief drang dieser Mann nicht in «die Stampfmühlen der Kalkulatoren und in die Rußküchen der Mathematiker» ein“ [F. 287].

Rußküchen waren seit alters her bekannt, aber Stampfmühlen? Dieser Typus wird über ein Mühlrad und eine Nockenwelle angetrieben, genauso wie ein Fallhammer. Doch erste derartige Mühlen gab es erst nach 1000 [Illig 2013, 153]. Die durch Nockenwellen erzeugte Bewegung wurde gleichermaßen für das Hanfbrechen (Rhône-Alpes, 1040), für das Walken von Stoffen (Normandie, 1086), für das Häutegerben (Île-de-France, 1138) und für das Zerstoßen von Zuckerrohr (Normandie, 1176) eingesetzt [Gimpel, 19]. Für Alkuin, der das einprägsame Bild 798 gewählt haben soll [F. 663] ist ihr Pochen und Klopfen damals schon so altvertraut wie Rußküchen; er will hier nicht mit modernster Technik prahlen. So kommt sein Vergleich mindestens 250 Jahre zu früh. Um so viel Jahre später muss der Text geschrieben worden sein.

Wir kommen hier ein zweites Mal an den kritischen Punkt: Eine unbezweifelt echte Aussage kann gleichwohl zu ihrer Zeit nicht gemacht worden sein. Wir hatten das analog schon bei den Eisenankern, die ebenfalls um 800 nicht produziert worden sein können. Damals machte der Dombaumeister Helmut Maintz prompt den Umkehrschluss:

„Im Rahmen aller Untersuchungsöffnungen können wir übrigens festhalten, dass die Eisenringanker oder Eisenklammerringanker alle satt im karolingischen Mörtel lagen, also im Zusammenhang mit dem Aufmauern eingebaut worden sind. In einigen Publikationen wurde dies bezweifelt und der Umkehrschluss ausgeführt, dass die Eisenanker erst später eingebaut worden sind, auch weil man gar nicht in der Lage war, die Eisenstangen in dieser Länge zur karolingischen Zeit herzustellen. Das ist hiermit widerlegt“ [Maintz 2005, 31; vgl. Illig 2011c, 52].

Das hilft ihm natürlich nichts, weil er fürs Abendland keine Eisenproduktion vorweisen kann, die vom Auftreten der notwendigen Fallhammertechnik um 1100 zurückverfolgt werden könnte bis 800 und noch einige Jahrzehnte früher. Mit diesem neuen Fund wird natürlich ebenso prompt gejubelt werden: Alkuin bestätige die Fallhammerproduktion schon vor 800. Und sie werden wieder inbrünstig feststellen: Wir werden (mit Gottes Hilfe) dereinst archäologische Zeugnisse dafür finden, während Sie prinzipiell nicht nachweisen können, dass es derartiges Schmiedeeisen zwischen 750 und 1100 nie gegeben habe! Da lässt sich in aller Ruhe sagen: Solange aus der Zeit keine Spuren von Eisen mit großen Querschnitten, keine Ankerkanäle, keine größere Eisenproduktion und keine Fallhämmer vorgewiesen werden können, solange bleibt Aachens Bau bei 1100 und ‘Pseudo-Alkuin’ im 12. Jh.

Es gibt natürlich eine einfache Gegenprobe: eine ordentliche Untersuchung des entsprechenden Alkuin-Pergaments, nicht nur nach paläographischem Augenschein, sondern mit entsprechenden Pergament- und Tintenanalysen – Stichwort Bredekamps Galilei (s. S. 233).

Bei den übrigen, vermeintlich echten Karlsbauten bleibt Fried unkritisch und gibt doch eine im Grunde unverschleierte Antwort. Während er der Pfalzkirche 26 Seiten widmet, erledigen sich die übrigen Pfalzbauten Karls auf zweieinhalb Seiten. Außer Aachen hat ohnehin kaum etwas Bestand. So beschäftigt ihn bei Ingelheim die Frage, ob der von einem Autor poetisch beschriebene Wandschmuck nun aus Teppichen oder aus Fresken bestand [F. 430]. Wir lassen drei weitere Hinweise folgen.

Wie steht es um Karls Mainzer Rheinbrücke, die „binnen Jahresfrist“ abgebrannt sein soll und von der kein Holzspan erhalten ist? Sie wird von Fried als damals existent erachtet; er kolportiert auch den Plan einer steinernen Brücke [F. 247], obwohl zwischen der Römerbrücke – 30 n. Chr. bei Mainz – und einer Eisenbahnbrücke des 19. Jh. keine steinerne Brücke gebaut werden konnte [Hartmann, 19]. Nur in Basel gab es 1225 mit der Mittleren Brücke einen Zwitter, die eine Hälfte in Stein, die andere in Holz. Dabei hätte es bei 900 km Rheinlänge ab Schaffhausen und immer breiter werdendem Fluss nicht nur in Mainz dringend Brücken gebraucht.

So muss fast zwingend davon ausgegangen werden, dass römisches Mainz ein Stück weit 1 : 1 ins mittelalterliche Mainz gehoben worden ist: +27 nahmen die Römer hier eine hölzerne Pfahljochbrücke in Betrieb und ersetzten sie im Jahr +30 oder +70 durch eine steinerne Brücke [wiki / Römerbrücke (Mainz)]. Also muss auch Karl eine Holzbrücke gebaut haben.

Oder Fried schreibt von einer anderen Pfalz: „Dann rief Karl den Papst nach Quierzy, die erinnerungsreiche Pfalz, wo sie gemeinsam Weihnachten feierten“ [F. 527; Hvhg. HI]. Hier gibt es keine archäologischen Funde.

„In Quierzy befand sich zur Zeit der Karolinger die Königspfalz Quierzy, eine ihrer wichtigsten Residenzen im westlichen Frankenreich, von der heute jedoch nichts mehr zu sehen ist“ [wiki / Quierzy].

Wem das kein Beweis ist, der wende sich nach Herstal, dem einstigen Héristal, eine von Karl oft zu Weihnachten oder Ostern besuchte Pfalz, in der er sein erstes Kapitulare verfassen ließ. Aus Anlass des Karlsgedenktages wird dort eine Karls-Ausstellung gezeigt und zugleich bitter beklagt, dass trotz verschiedener Ausgrabungen nichts gefunden worden ist, das auf eine Pfalz hindeuten könnte [herstal]. O Frankenreich, das spurenlose (s. S. 108).

Immer wieder lässt sich aus Nichts etwas machen. Wenn es um den Thron in Aachen geht, stellt Fried fest: „Wahrscheinlich besaß Karl […] einen Splitter vom Heiligen Kreuz“ [F. 423], also eine der ganz großen Reliquien, die man nicht irgendwo findet, sondern aus hoherpriesterlichen Hand empfängt. Schade, dass dies nicht verifizierbar ist. Doch bereits drei Seiten weiter wird die rätselhafte Reliquie zur Realität, die leider verloren gegangen ist, wie das mit ganz besonders wertvollen Gegenständen passieren kann:

„In diesem Hohlraum [im Thron] könnte aber auch die mittlerweile verschollene Kreuzreliquie des Königs deponiert worden sein“ [F. 426].

Apropos verschollen. Fried spricht auch von der cappa, vom Mantel des Hl. Martin. Die Kapellane waren die Hüter dieser Staatsreliquie [F. 392], die seit der Merowingerzeit zum Kronschatz gehörte. Da hätte man gerne erfahren, wann und wie auch diese hochheilige, staatstragende Reliquie verschlampt oder geraubt worden ist.

Schließlich gibt es die sattsam bekannten Probleme mit der un-/gewollten Krönung in Rom, der Fried zwölf Seiten widmet [F. 484-495]. Laut Einhard hätte sie der Papst, nicht Karl gewollt. Da würde man erwarten, dass Leo III. die unverzichtbare Krone bereit hält. Doch Fried bietet, obwohl er den Papst am längeren Hebel sieht, eine andere Version mit der „doch wohl von Karl zur Verfügung gestellten Krone“ [F. 493]. Und wieder: Ausgerechnet diese Krone rollt irgendwo aus einer Satteltasche, und Fried legt den Schleier der  Barmherzigkeit über diesen Verlust.

In diesen Pfalzen logierten nun die bis zu 2.000 Personen von Karls Gefolge [F. 248]. Ein Großteil logierte in Aachen und muss Fried besonders interessieren, weshalb er mehrmals darauf zu sprechen kommt. Doch das entstehende Bild zeigt beängstigend wenige Personen. Immerhin hat Karl 46 Jahre lang regiert und ständig Vertraute in den verschiedensten Ämtern (die ja aufeinander folgen mussten), dazu seine Geistesgrößen und Geistlichen um sich. Trotzdem kommt Fried in zwei Anläufen nur auf 26 Namen:

Adalgis, Kämmerer,
Adalhard, Abt von Corbie,
Alkuin, Leiter der Hofschule,
Angilbert, Hofkaplan,
Angilram, Bischof von Metz,
Arn, Bischof von Salzburg, selten in Aachen,
Audulf, Seneschalk,
Eberhard, Mundschenk,
Einhard, Gelehrter, Autor, Laienabt, Architekt,
Eppinus, Mundschenk,
Ercambald, Kanzler (Vorstand der Kanzlei der Schreiber),
Fulrad, Erzkaplan, Abt von Saint-Denis
Geilo, Marschalk,
Gerold, Bruder von Königin Hildegard (vielleicht)
Hildebald, oberster Kapellan, Erzbischof von Köln,
Hitherius, ein Notar
Hrabanus Maurus, Gelehrter, Abt und Erzbischof von Mainz,
Maginarius, ein Notar,
Meginfried, Kämmerer,
Paulus Diaconus, Mönch Geschichtsschreiber,
Petrus Pisanus, Gelehrter (Grammatiker),
Rado, Kanzler,
Riculf, Erzbischof von Mainz,
Theodulf, Bischof von Orléans,
Wala, Vetter Karls
Worad, Pfalzgraf [F. 302, 386, 392, 594].

Mit Hilfe von Stefan Weinfurter [186-188] kommen noch elf Namen hinzu (s. S. 31). Fried räumt den Mangel ein, zieht aber keine Schlüsse daraus:

„Karl handelte nicht allein. Wer half ihm? Wir kennen kaum die Geistlichen seiner nächsten Umgebung, die Angehörigen der Hofkapelle, die engsten Vertrauten mit Namen“ [F. 302].

Sämtliche Karls-Biographen kaschieren das, indem sie das Problem übergehen und lieber die höfischen Spitznamen bringen, um die Aachener Pfalz wenigstens ein bisschen beleben zu können. Ich habe andernorts von ökonomischen Fälschern gesprochen, die einfach nicht alle Personen von Karls Umgebung und von seinem Gefolge mit Persönlichkeiten ausstatten konnten, sondern nur einige wenige, die deshalb noch lang keine Biographie erhalten. Der wichtigste von ihnen ist Einhard, dem erst jetzt Steffen Patzold[2013] eine geschrieben hat (s. S. 36).

Diese kleine auserlesene Schar, vielleicht ein winziges Abbild der oben genannten Streifschar, brütete Gedanken aus, die das Abendland ganz nachhaltig beeinflusst haben sollen. Beginnen wir mit der Sexualmoral Karls. Sie entsprach der Herrscherattitude, die später auch das jus primae nocte verlangte, das ebenso wenig der Realität entsprochen haben dürfte. In den klerikalen Karlskreisen lag das Problem im Zölibat, in der erzwungenen sexuellen Enthaltsamkeit [F. 272]. Feinsinnig weist Fried darauf hin, dass der Zölibat vielleicht persönliche Opfer verlangt, aber vor allem: Der „Zölibat forderte auch damals seine Opfer“ [F. 524], nämlich Kleriker, die Stand und Ehre wegen eines sexuellen Fehltritts verloren hätten, ohne dass wir von solchen Disziplinarmaßnahmen wüssten. Das Auftreten dieses rigiden Denken lässt sich zwar präzise, aber erst viel später festmachen: an den Verordnungen von Papst Gregor VII. Er formte die Kirche, die uns vertraut ist und er brauchte in der Geschichte niemanden, der ihm mit solchen Forderungen zuvor kam.

Gregor forderte erstmals 1074 den Zölibat, der bis dahin von den Klerikern wenig beachtet worden ist. Nur ein Jahr später formulierte er sein Dictatus Papae, das Diktat des Papstes, in dem er diesem allein Absetzung und Wieder-/Ernennung der Bischöfe zuspricht, was bin dahin in weltlicher Hand gelegen hatte. Es ging also – plump und direkt gesagt – um den Gottesstaat auf Erden, gelenkt vom Papst, nicht von König oder Kaiser. Das beschreibt Fried sehr schön, noch dazu antizipatorisch:

„Von dem vermutlich letzten Kapitular Karls des Großen nämlich, das die Unterordnung der weltlichen Regionalgewalten von Grafen und «Richtern» unter die Bischöfe formuliert hatte, spannt dieser Bogen sich in die Zukunft zu Pseudoisidor, dem monumentalen kirchenrechtlichen Fälschungswerk des Kreises um Wala von Corbie und seines Helfers Paschasius Radbertus. Es unterwarf auch den König und Kaiser der geistlichen Leitungsgewalt des Papstes“ [F. 602].

Nachdem die Schriften Karls ohnehin von Klerikern geschrieben worden sind, verwundert es allenfalls Mediävisten, dass hier die kirchlichen Gedanken des letzten Viertels des 11. Jh. verdoppelnd in die erfundene Karolingerzeit zurückprojiziert worden sind. Natürlich sehen wir die antizipatorischen Pseudo-Isidorien des früheren 9. Jh. ebenfalls erst nach 1000 entstehen.

Und Fried wartet bereits mit der nächsten Sensation auf: ein Schriftstück,  auf dem Karls persönliche Kommentare zum Text in tironischen Noten festgehalten sind. Darunter ist eine Kurzschrift zu verstehen, die auf Tiro, den Sekretär Ciceros zurückgeht. Fried, der früher Karl die Feinmotorik zum Schreiben absprach, weil er zu früh sein Schwert geschwungen habe, formuliert dicht an der Wahrheit (vorbei): Ein vatikanischer Codex

„enthielt in tironischen Noten (einer Kurzschrift) billigende Ausrufe des Königs selbst, authentische Worte des großen Mannes, die einzigen, die sich von einem mittelalterlichen Herrscher erhalten haben“ [F. 453].

Beim zweiten Lesen bemerkt man, dass nicht Karl selbst diese Kürzel niedergeschrieben hat. Vielmehr hatte er seinen Mönch bei sich, der ihm wohl nicht nur das entsprechende Schriftstück vorlas, sondern auch seine Ausrufe zu Protokoll nahm. Anderenorts hat Fried [2014a] aus diesen Kürzeln gefolgert: „Er zeigte sich als Herr über die Vergangenheit und über das künftige Wissen von derselben.“

Wir sind da mitten in der Geistestätigkeit der Zeit um 800, wie sie gerade um den 28. Januar landauf, landab bejubelt worden ist:

„Denn auch die Wiedergeburt des logischen, überprüfbaren Regeln unterworfenen Denkens ereignete sich am Hof Karls des Großen“ [F. 300].

So soll es gewesen sein, aber aus Sicht des Rezensenten bleibt dies dem scholastischen Denken des 12. Jh. vorbehalten. Und noch eine zugehörige Beobachtung: Die Reichsannalen „vermerkten in der Tat in einer Präzision wie nie zuvor Himmelsphänomene“ [F. 557] – ein schönes Beispiel, weil diese Präzision mit Gradangaben und Sternzeichen erst im späten 12. Jh. aufkommt. Da ließe sich auf Fried zurückkommen, dem klar ist, dass „die »Reichsannalen« komponiert wurden“ [F. 147], allerdings nur aus kirchen-/politischen Gründen. Wir sehen das viel umfassender.

Diese Präzision dominierte: „Die »Schleifenspur« des Planeten beunruhigte den König“ [F. 338]. Das dürfte ein seltener Moment in der Geschichte des Astronomie gewesen sein: Ein König erschauert darüber, dass der Mars durchaus gemächlich eine retrograde Bewegung vollführt, die mit dem bloßen Auge schwer zu beobachten ist, muss doch der Abstand zu einem Referenzstern allnächtlich notiert werden. Wenn man bedenkt, dass gerade diese Schleifenspuren Ptolemäus wie Kopernikus oder Galilei herausgefordert haben, dann hätte Karl die Entdeckung des heliozentrischen Weltbilds vorwegnehmen können. Ihm könnte man das zutrauen.

Schließlich zwang Karl die Mönche geradezu in die Bibliotheken, um alte Texte aufzuspüren.

„Er verlangte von seinen Leuten und von sich selbst die endlose Suche nach Büchern, nach verschüttetem Wissen. Sie befolgten die Anordnung, spürten Handschriften auf, verschickten sie, ließen sie abschreiben. Karls Hof bot Raum für eine Bibliothek, deren Schätze moderne Historiker  nicht genug rühmen“ [F. 398 f.].

Ihre Schätze sind allerdings nicht tradiert, ließ doch Karl testamentarisch den Bestand verkaufen – das einzige frühmittelalterliche Herrscher-Testament [Hartmann, 49] – und den Erlös den Armen zukommen [Einhard c. 33]. Eine ungemein christliche Handlung, die sich umso mehr von den Heiden abhebt: „Folgte der Lieder- und Büchersammler Karl gar dessen [Harun al-Rasid] Vorbild?“ [Fried 2014b]. Nicht beim Verkaufen, aber vielleicht beim Sammeln, bei der Jagd nach Kodizes. So der Frankfurter [F. 326]:

„Wer lesen wollte, mußte weit umherreisen, mußte Texte entdecken, mußte Wissen sammeln und abschreiben, was er fand und was gefiel“.

Späterer Unverstand hätte das fast wieder zunichte gemacht.

„So rettete nur ein glücklicher Zufall die kleinen Schriften des Tacitus mit Einschluß der «Germania». Im letzten Moment wurde die einzige erhaltene Handschrift – sie stammte aus dem 9. Jahrhundert – durch einen tüchtigen Humanisten des 15. Jahrhunderts buchstäblich vor der Verfütterung an die Schweine gerettet“ [F. 326 f.].

Fried überlässt uns hier die Aufgabe, jenen Such- und Abschreibprozess, den er den Karolingern zuschreibt, im 11. bis 13. Jh. aufzuspüren, wenn nicht die Humanisten nach 1400 noch antike Pergamente abgeschrieben haben.

Endzeitliches

In seinem gesamten Text weist Fried immer wieder darauf hin, wie stark der Gedanke an das baldige Jüngste Gericht die Karlszeit beherrscht habe. Die ganze Pfalzkirche Aachens repräsentiere „das apokalyptische Maß des Kirchenbaus“ [F. 428], der Bauherr stehe „in Erwartung des neuen Äons, des kommenden Gerichts“ [F. 428].

„Die Nähe des Jüngsten Gerichts forderte die größten Anstrengungen […] Die Schrecken der Endzeit warfen ihre Schatten voraus, und keineswegs nur das schlichte, ungebildete Volk geriet in Sorge[…] Mit jedem Jahr wurde die Zeit knapper, schmolz die Frist der 6000 Jahre, die der Welt insgesamt vergönnt waren; und das wollte bedacht sein“ [F. 436-438].

„Meister Alkuin […] sah das Weltende heraneilen“ [F. 477].

„Die Zählung folgte dem hl. Hieronymus und offenbarte eine beunruhigende Nähe zu heilsgeschichtlich relevanten Terminen, dem Ende nämlich des sechsten Jahrtausends“ [F. 438].

„In gleicher Weise folgte auch Hildebalds Sammlung den Berechnungen des hl. Hieronymus und des Orosius und erkannte mit dem Jahr 800 nach Christi Geburt das sechste, das letzte Jahrtausend […] Nur noch zwei Jahre Zeit?“ [F. 462].

„Noch im Jahr 798 rechnete man an seinem Hof mit dem bevorstehenden  Jahr 800 als dem Jahr 6000 nach Erschaffung der Welt“ [F. 559].

Das alles ist den Lesern von Wer hat an der Uhr gedreht? bestens vertraut. Sie kennen auch die harten Kritikpunkte: Wieso gibt es dicht vor dem ultimativen Termin keine Massenpanik, keine harschen Erlasse der Obrigkeit, keine Geißlerumzüge, keinen Generalablass und was sonst das Jenseits in etwas helleren Farben leuchten ließe? Nichts, gar nichts, keinerlei Reaktionen. Nicht einmal der Überfall auf den Papst, 799, wird in dieser Richtung interpretiert. Die direkt nachfolgenden Auseinandersetzungen mit Sachsen und Abodriten, mit Hunnen und Friulanern zeigten nicht das Ende an, sondern ganz im Gegenteil den Fortgang bisherigen Geschehens.

Und nach 800? Irgendwelche Glücksregungen, Dankprozessionen, Jubelmessen? Nichts, gar nichts, keinerlei Reaktionen. Selbst Fried wird da unruhig und setzt das letzte Zitat mit einem kleinen Täuschungsversuch fort:

„Seitdem aber waren Zweifel aufgekommen oder gewachsen. Im Jahr 809 konfrontierte Karl seine nach Aachen gerufenen «Komputisten» mit knappen Fragen: Wie viele Jahre seit Christi Geburt bis heute verflossen seien“ [F. 559 f.] etc.

Doch da steht ja das Jahr: Erst 809, neun Jahre nach dem kritischen Jahr 800 sei der Kaiser unruhig geworden, warum sich das Jüngste Gericht verspäte. Da würde also trotz aller Klugheit gelten: Das gemächliche Leben [F. 150] bewegte sich stetig in vorgegebener Bahn und verlangte keine überhasteten Reaktionen. Ganz anderes liest Bredekamp [2014] bei Fried: Dieses

„Buch lässt das Tempo und die Mobilität erkennen, mit denen sich die Menschen bewegten. Die Reisen, die Kriegszüge, die umfassende Umwälzung der Bildungsansprüche und -methoden, die Injektion der Neugierde in alle Kulturbereiche, die Entfesselung der Schrift- und Bildkünste, all dies wäre in der Summe auch im zwanzigsten Jahrhundert mirakulös. Als Symbol mag der Umstand gelten, dass Karl während der Nacht Schreiber in der Nähe hatte, die, wenn er aufwachte, sofort notierten, was er von sich gab, um jede Sekunde der Mitteilungen zu nutzen.“

Weder Bredekamp noch Fried stellen hier die entscheidende Frage, der schon im Jahr 2000 alle Zunftmitglieder ausgewichen sind: Wieso wird Karl der Große exakt an dem Tag zum Kaiser gekrönt, an dem laut Hieronymus und Orosius der Weltuntergang drohte? Wie konnte eine 497 Jahre alte Vorausberechnung taggenau erfüllt werden? Und warum wird an diesem Tag die Welt gleich noch einmal vor ihrem Untergang gerettet, weil die Macht der römischen Cäsaren nicht untergeht, sondern in Karl erneuert wird, und das in Rom, dessen Ende als Vorstufe des Weltendes ebenso gefürchtet worden ist.

Fried kennt diese Frage selbstverständlich, aber hütet sich sie zu stellen, weil die Antwort seine wunderschöne Karls-Fiktion [s. F. 9] in den Orkus stürzen ließe. So bleibt es ein großes Buch, das den von der Mediävistik vorgegebenen Rahmen trefflich ausfüllt, aber so viele Fragen zwangsläufig offen lassen muss, dass sich die These von „Karl dem Fiktiven“ [Illig 1992] unverändert behauptet.

Literatur

Bredekamp, Horst (2014): Der Kaiser am Läuterungsberg; FAZ, 15. 01.

Fried, Johannes (2014b): Weltpolitik am Mittelmeer; Neue Zürcher Zeitung, 25. 01.

– (2014a): Ein Leben erzählen; Die Zeit, 02. 01.

– (2004): Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik; München

– (1996): „Vom Zerfall der Geschichte zur Wiedervereinigung. Der Wandel der Interpretationsmuster“; in Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Stand und Perspektive der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts; Göttingen, 47-72

– (1994): Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (= Propyläen Geschichte Deutschlands. Bd. 1); Berlin

Gimpel, Jean (1980): Die industrielle Revolution des Mittelalters; Zürich · München (11975)

Hartmann, Martina / Hartmann, Wilfried (2014): Karl der Große und seine Zeit · Die 101 wichtigsten Fragen; München

herstal = http://www.herstal.be/page-daccueil/pdf/a5-bulletin-169-all.pdf

Illig, Heribert (32013): Aachen ohne Karl den Großen. Technik stürzt sein Reich ins Nichts; Gräfelfing (12011)

– (2011): Capitulare de villis als Verwaltungsorgie; Zeitensprünge 23 (2) 295-304

– (1999): Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Mittelalter erfunden wurden; München

– (1992): Karl der Fiktive, genannt Karl der Große. Als Herrscher zu groß, als Realität zu klein; Gräfelfing

Maintz, Helmut (2005): Sanierung karolingisches Mauerwerk. Sanierung Turmkreuz und Neuverschieferung Turmhelm (Veröffentlichungen des Karlsverein-Dombauverein, Band 7); Aachen [divergierende Jahreszahlen auf Titelblatt (2005) und in der Titelei (2004)]

Patzold, Steffen (2013): Ich und Karl der Große · Das Leben des Höflings Einhard; Stuttgart

richesheures = http://www.richesheures.net/epoque-6-15/eglise/45/germigny/germigny-plan01.jpg

Weinfurter, Stefan (2013): Karl der Große. Der barbarische Heilige; München

Wiegelmann, Lucas (2014): Karl, der Größte; Die Welt, 26. 01.

Winter, Maren (ö.J.): Alltag-Geld; http://www.maren-winter.de/geld.htm