von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 3/2015)

In memoriam Prof. Dr. Hans-Ulrich Niemitz, der sich als erster von uns mit dem abschließenden Vortrag Horst Fuhrmanns „Von der Wahrheit der Fälscher“ beschäftigt und mir das Rätsel der Fälschungen „mit antizipatorischem Charakter“ zur Auflösung überlassen hat [I:89, 97 f.].

Es wird höchste Zeit, den Schatz zu sichten, den die professionellen Fälschungsjäger, also Diplomatiker und Paläographen, vor fast 30 Jahren ausgebreitet haben. Zwar habe ich gelegentlich auf diese Fülle hingewiesen, aber sie nicht konkret ausgeschöpft. Dies soll nun mit einigen Zitaten aus den fast 4.000 Seiten der fünfbändigen Edition der Kongress-Akten geschehen. Die Veranstaltung selbst hatte 544 Teilnehmer, die ihre über 150 Beiträge nur zum kleineren Teil an den vier Tagen vorgetragen, sondern in den darauf folgenden zwei Jahren erstellt oder zur Druckreife gebracht haben. So ziemlich alle in den Zeitensprüngen kritisierten Mediävisten waren vertreten: Gert Althoff, Bernhard Bischoff, Michael Borgolte, Karl Bosl, Carlrichard Brühl, (der Semiotiker und Roman-Autor Umberto Eco als Festredner), Johannes Fried, Max Kerner, Theo Kölzer oder Rudolf Schieffer (doch Fried und Schieffer nicht als Autoren). Der uns ebenfalls bekannte Horst Fuhrmann als damaliger Präsident der MGH hat die Tagung geleitet, den Abschlussvortrag gehalten und die Bände herausgegeben.
Sie gliedern sich in Festvorträge, Literatur und Fälschung, gefälschte Rechtstexte (Der bestrafte Fälscher), als zentralen Teil die diplomatischen Fälschungen, schließlich fingierte Briefe, Frömmigkeit und Fälschung sowie Realienfälschungen. Alle Zitationen mit einem Autorennamen, dem eine Kombination aus römischen und arabischen Ziffern folgt, stammen aus diesen Kongress-Bänden.

Bezeichnungen für Fälschungen und Verfälschtes

Um die einschlägige Sprache zu verstehen, ist eine Vorbemerkung notwendig. Dazu ein Blick in ein Buch mit doch sehr bezeichnendem Titel. Als Schmutztitel steht lapidar „Katechismus der Urkundenlehre“. Der Haupttitel präzisiert: Von Dr. Friedrich Leist „Urkundenlehre. Katechismus der Diplomatik, Paläographie, Chronologie und Sphragistik“, zweite, verbesserte Auflage  von 1893. Die Erstauflage stammt von 1882, Leist starb 1903. Er gibt eine Definition:

„Die Urkundenlehre läßt sich demnach bezeichnen als diejenige Lehre, welche die Vermittelung der Kenntnis der äußeren und inneren Merkmale der Urkunden zum Zweck ihrer Wertbestimmung, als schriftliche in entsprechende Form gekleidete Zeugnisse über Gegenstände rechtlicher Natur, systematisch durchgeführt. Die Summe dieser Kenntnisse bildet die Urkundenwissenschaft“ [Leist, 25; ohne die fast durchgehende Sperrung].

Damals war die Urkundenlehre tatsächlich noch eine Art unangefochtener Religion, da die sie kritisierende Archäologie noch keine wesentlichen Ergebnisse vorgelegt hatte. Zumindest heute wird Katechismus definiert als „eine systematische Zusammenstellung der Glaubens- und Sittenlehre als Grundlage für die religiös-sittliche Unterweisung“, zurückgehend auf die ersten katechetischen Urformen: „das Vater unser und das Apostolische Glaubensbekenntnis“ [wiki / Katechismus]. Das diplomatische Glaubensbekenntnis von Leist enthält ‘naturgemäß’ das Wort Fälschung nicht; weder im Inhaltsverzeichnis noch – beim raschen Sichten – im Text. Dabei sind Fälschungen, besonders Verfälschungen von Urkunden „so zahlreich“ [Quirin, 74], dass es dann doch eines deutlich jüngeren Standardwerks bedarf, dem von Heinz Quirin: Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte, 1991. Hier gibt es die Unterpunkte B. I. 5b: „Fälschungen“ mit neun Seiten und B. II. 6e: „Verunechtung und Fälschung von Texten“ mit vier von insgesamt 291 Seiten:

„Die echte Fälschung einer Quelle oder auch nur von Quellenteilen ist von der Verunechtung […] zu unterscheiden“ [Quirin, 162; Hvhg. des Autors von HI gefettet].
„Ein Text gilt als verunechtet, wenn Textteile vom Autor selbst oder von Dritten verändert wurden, ohne daß die Absicht einer Fälschung in den Vordergrund tritt.
Eingeschobene oder angefügte Textteile bezeichnet man allgemein als Insert und als Interpolationen, wenn sie den ursprünglichen Text absichtlich verfälschen. […] Genauer ist also zwischen der Interpolation im engeren Sinne, die den Text bewußt fälscht, und Zusätzen zu unterscheiden, die den Text erläutern oder seinen Inhalt bereichern wollen. Mit dieser Form der Erweiterung darf das sog. Insert, d. h. das Einfügen eines geschlossenen andersartigen Textes (z.B. einer Urkunde oder eines Briefs), der den Haupttext belegt, nicht verwechselt werden“ [Quirin, 163].

Das Insert (von einfügen) wird auch als Transsumpt (von übertragen) bezeichnet; es ist eine beglaubigte Zweitschrift des Originals [Quirin, 71] und besonders schwer auf eine Fälschung hin zu prüfen. Interpolationen stehen häufig auf einer Rasur, also auf einer abgeschabten Stelle [Quirin, 164]. Wird  bei einer Interpolation der Text erweitert, wird von einer positiven, bei einer Textverkürzung von einer negativen Interpolation gesprochen. Als Korruptelen werden verderbte Textstellen benannt, die nicht durch böse Absicht entstanden sind [Quirin, 164]. Palimpsest ist die Handschrift auf einem „von der früheren Schrift befreiten Schreibstoff“, der so entstandene Codex wird „rescriptus“ genannt [Leist, 47].

Für Fälschung im allgemeinen werden auch die Ausdrücke falsum (falsa) und spurium (spuria) verwendet, wobei der zweite für pergamentblütige Diplomatiker einigermaßen derb ist, steht er doch für unecht ebenso wie für Hurenkind (und das weibliche Genital. Hurenkinder schätzt auch der Setzer nicht, der damit Einzelzeilen am Beginn einer neuen Seite bezeichnet).

Wer hat gefälscht?

Diese Frage ist am leichtesten zu beantworten: Da praktisch nur der Klerus des Schreibens mächtig war und nicht nur in Klosterschreibstuben tätig war, sondern auch z.B. in der Reichskanzlei, gehen de facto praktisch alle Fälschungen direkt oder indirekt auf die Geistlichkeit zurück. Wie sich Schreiber verhielten, die im Auftrag ihres Königs ein Schreiben zu verfassen haben, das Rechte der Kirche bestritt, kann allenfalls rekonstruiert werden.

Wann wurde gefälscht?

Das Mittelalter hat vom 8. bis zum 15. Jh. durchgehend gefälscht. Aber diese Tätigkeit scheint zwei getrennte Höhepunkte gehabt zu haben. Heinz Quirin [1991, 79] sah einen markanten Höhepunkt:

„Das ausgehende 11. und das 12. Jahrhundert bilden die große Zeit der Fälscher, vornehmlich auch in den Klöstern, wie aus der geschichtlichen Entwicklung selbst leicht verständlich wird“.

Georges Despy [IV:275] benennt 1988 das 12. und 13. Jh. als die Zeit, „die für das Abendland als das goldene Zeitalter der Fälschungen bezeichnet werden kann. Aber zeitgleich wird in denselben Kongress-Akten ein viel früherer Höhepunkt markiert:

„Das 9. Jahrhundert gilt wohl mit Recht als die »Zeit der großen Fälschungen« (Levison). Und das nicht nur deshalb, weil in jener Zeit umfangreiche Fälschungswerke wie die falschen Dekretalen Pseudoisidors oder die gefälschten Kapitularien des Diakons Benedikt hergestellt wurden, sondern auch, weil die Fälscher in so großer Zahl und mit so unglaublicher Frechheit auftraten. […] Aus der Blütezeit der Rechtsfälschungen, aus der Zeit um 850, kennen wir einige recht gut bezeugte Kontroversen, die auf Konzilien oder in Briefen über die Echtheit von Dokumenten oder die Wahrheit von Aussagen ausgetragen wurden“ [Wilfried Hartmann, II:111].

Selbstverständlich heißt es bei Levison nicht: große Zeit der Fälschungen, sondern: Zeit der großen Fälschungen. Aber man bedenke allein den Umfang und die gerissene Machart der Pseudisidorien:

„Die schiere Menge an Texten, die die Fälscherwerkstatt hervorgebracht hat, ist beeindruckend. Allein die Dekretalensammlung des Isidorus Mercator, die dem ganzen Komplex den Namen gegeben hat, umfasst in der (nicht immer zuverlässigen) Ausgabe von Paul Hinschius (Decretales Pseudoisidorianae et Capitula Angilramni. Leipzig 1863) mehr als 700 eng bedruckte Seiten. Die ‘Leistung’ der Fälscher wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass die Fälschungen nicht etwa frei erfunden, sondern mosaikartig aus echten Texten zusammengestückelt sind. Die Fälscher waren ungeheuer belesene Leute. Die Bibel, das römische Recht, fränkische Gesetzgebung, Konzilien, echte Papstbriefe, obskure Diözesanstatute[n], theologische Schriften, Geschichtswerke und mehr mussten als Bausteine für die Fälschungen herhalten. Bis heute sind hunderte von Quellen identifiziert, aber die Arbeit ist keineswegs abgeschlossen. Emil Seckel hat Jahrzehnte darauf verwendet, die Arbeitsweise der Fälscher zu untersuchen. Dabei haben die Fälscher ihre Quellen keineswegs einfach abgeschrieben, sondern sie mit einer gewissen Artistik immer wieder neu angepasst. Es gibt Sätze von etwa zehn Wörtern, die an verschiedenen Stellen der Fälschungen in nicht weniger als acht verschiedenen Formen auftauchen“ [wiki / Pseudoisidor].

Diese Arbeit war äußerst gediegene Fälscherkunst, darf also mit guten Gründen ebenfalls einer großen Zeit der Fälschungen zugerechnet werden, kannten doch die angeblichen Fälscher des 9. Jh. alle Kniffe, die in der ersten Hälfte des 11. Jh. bekannt waren, also in jener Zeit, in der die Pseudisidorien innerhalb der Kirche eingesetzt worden sind. Man hat sie „deshalb zu Recht […] eine »Vision der Kirche im goldenen Zeitalter« (Sch. Williams) genannt“ [Horst Fuhrmann, I:90]. Nur derart blauäugig lässt sich für die Mitte des 11. Jh. befinden: „In dieser Situation kamen die Papstbriefe der ersten Jahrhunderte aus der Werkstatt der lange begrabenen Fälscher wie gerufen“ [wiki / Pseudoisidor]. Das sind Fuhrmanns Fälschungen, die „antizipatorischen Charakter“ hatten [Horst Fuhrmann, I:89], nun in aktueller Wikipedia-Formulierung. Nicht bestellt und wie gerufen: Allein 100 derartig frühe Papstbriefe enthielt das ungeheure Konvolut, dem einmal 10.000 Blatt zugeschrieben worden sind. Spätestens Mitte des 12. Jh. haben sich die Fälscher bemüht, ältere Schreibweisen (z.B. Mitte des 11. Jh.) nachzuahmen [Quirin, 76]. Hier ist der Verdacht zu äußern, dass man sich für fiktive Jahrhunderte wie 7. bis 9 Jh. noch älter scheinende Schriftweisen ausgedacht hat, zumal gilt:

„Kommen wir zur Frage der Datierung. Da die Paläographie des 10. und 11. Jahrhunderts »ja weitgehend eine terra incognita ist«, können für diese  Jahrhunderte keine feststehenden Schrifttypen zur Schriftbestimmung herangezogen werden. Daher ist »die Datierung meistens ein schwieriges Kapitel«“ [Hans Constantin Faußner, III:193].

Der Kongress erbrachte ungewollt einen weiteren Beweis von Fälschungen für eine fiktive Zeit:

„Daher müssen wir fragen: Ist es glaubhaft, daß die von [Bischof] Ebo geweihten Kleriker der Synode [853 in Soisson] eine falsche Urkunde mit gefälschten Unterschriften präsentierten, da sie doch wußten, daß die – angeblichen? – Unterzeichner zumeist noch lebten und auf der Synode anwesend waren? Ging die naive Frechheit der Fälscher im 9. Jahrhundert wirklich so weit, daß sie nicht bedachten, daß ein solches Machwerk niemals Anerkennung finden werde?“ [Wilfried Hartmann, II:114]

Kein Fälscher lieferte sich mit „naiver Frechheit“ der Entdeckung aus, bei der er alle Vorteile der Fälschung verloren hätte. Die Interpretation muss demnach eine andere sein: Nur wenn im 11./12. Jh. eine zurückliegende Pseudo-Zeit mit Pseudo-Dokumenten über eine Pseudo-Synode ausgestattet wurde, gab es auch keine noch lebenden Teilnehmer der Synode, die protestieren hätten können. Insofern stützt Hartmann ungewollt die These des erfundenen Mittelalters, die allerdings 1986 noch gar nicht existierte (anderenfalls wäre diese Beobachtung vielleicht nicht publiziert worden). Ebenso erklärt sich folgende Überlegung:

„Dürfen wir allzu unvorsichtig oder naiv vorgelegte Fälschungen als »Frechheit« bezeichnen oder handelt es sich eher um einen völligen Mangel an Unrechtsbewußtsein, der die Fälscher bestimmte? Dem Kleriker Aluicus von Vienne wird man vielleicht noch Naivität zubilligen können, kaum aber dem königlichen Erzkapellan Grimald von St. Gallen oder dem Reimser Diakon Raganfrid, der wahrscheinlich auch Notar Karls des Kahlen war. Erst recht waren die Rasuren der Erzbischöfe von Köln und von Trier in den Subskriptionen der Synode von Metz 863 eindeutige Fälschungen; hier ist es die Bedenkenlosigkeit der Fälscher, die den heutigen Beobachter verwundert“ [Wilfried Hartmann, II:126 f.].

Hier wäre Hartmann ganz dicht an der Wahrheit: Hatten Kleriker des 9. Jh. überhaupt kein Unrechtsbewusstsein, lebten selbst königliche Erzkapellane und Bischöfe wie eingesponnen in einer permanent fälschenden Welt? Oder waren sie selbst spätere Erfindungen, die sich aus diesem Grund nie wegen ihrer gefälschten Taten rechtfertigen mussten!

Würden die Historiker diesen Gedanken verstehen, brauchten sie nicht 700 bis 1.000 Jahre später kirchlichen Institutionen noch Persilscheine auszustellen.

Die Fälschungsklöster

Quirin benennt hochqualifiziert fälschende Skriptorien, etwa das von St. Matthias in Trier. In einer (gefälschten) Urkunde von 1053 schenkt Kaiser Heinrich III. das Königsgut Vilmar diesem Kloster. (Laut dem Historischen Ortslexikon der Universität Marburg, aktuell einsehbar im Internt, hieß das Gut Villmar, Vilimar oder Vilmer und ging an das Trierer Kloster St. Eucharius, doch das nur nebenbei.)

„Wir haben uns hier mit einem in seiner Art typischen »Normalfall« befaßt, der in seiner Zeit weder besonders hervorragt noch die Ausmaße der Reichenauer oder Osnabrücker Fälschertätigkeit erreicht hat“ [Quirin, 79].

Bereits Friedrich Boehmer (1795–1863) kannte das beste Fälscherkloster auf deutschem Boden:

„der Begründer der Regesta Imperii, hat festgestellt, daß das Augustiner-Chorherrenstift zu St. Marien auf dem Berge zu Altenburg hinsichtlich der Zahl seiner Urkundenfälschungen alle übrigen geistlichen Institutionen des Deutschen Reiches, sogar Weingarten in Schwaben, übertroffen habe. Die Gruppe der dort tätigen Fälscher, die – nach Ausweis der angewandten Methoden – von einem hochintelligenten Manne geleitet wurde, bediente sich, um ihre Falsifikate vor den Zeitgenossen zu tarnen, des Transsumpts, dessen Rolle in der Fälschertechnik hier noch deutlicher heraustritt als im Falle von St. Matthias zu Trier. […] Das Transsumpt schaltete diese Möglichkeiten, ein gefälschtes Stück zu entlarven, ganz weitgehend aus, da der Vergleich mit dem Original entfiel. Die Fälscher erleichterten sich die Arbeit auch technisch, weil ihnen das mühsame Nachzeichnen der Vorlagen erspart blieb“ [Quirin, 80].

Die beiden Zitate ergeben zusammengefasst für Deutschland bereits ein drei- bis vierstufiges ‘Ranking’:

  • St. Marien auf dem Berge zu Altenburg
  • Weingarten
  • Reichenau und Osnabrück
  • St. Matthias zu Trier.

Wo hier „Wibalds Atelier für kreative Diplomatik“ in Kloster Stablo einzuordnen ist, auch „Wibalds ›Atelier für kreative Diplomatik und Schreibe- und Malkunst‹“ genannt [Constantin Faußner, III:149, 199], bleibe dahingestellt. Allerdings hat Faußner seinen auf Abschriften im Besitz eines Salm-Kyrburgischen Archivars namens Georg Friedrich Schott basierenden Beweisgang [ebd. III:151 f.] in seinen späteren Büchern nicht mehr vorgebracht, womit das kreative Atelier zumindest seinen ursprünglichen Boden verloren hat. Weitere Qualifizierungen lassen sich in bunter Reihe anführen:

„Die Passauer Diözese ist einmal als »Musterlandschaft für Fälschungen« bezeichnet worden“ [Egon Boshof, I:547, unter Bezug auf Koller, 21].
„das Trierer Kloster St. Maximin zählt zu den berühmtesten und am gründlichsten untersuchten deutschen Fälschungszentren “ [Carlrichard Brühl, III:26].

Gab es neben Fälscherklöstern auch solche, die immer der Wahrheit verpflichtet blieben? Das Beispiel Regensburg macht deutlich, dass auch innerhalb einer Stadt die Konkurrenz groß war, auch wenn sie damals deutlich mehr als vier Klöster beherbergt hat:

Kurz vor 1056 wollte das Regensburger Kloster St. Emmeram als erstes und führendes mit St-Denis gleichziehen. Um 1080 wurde ein weiterer Versuch, zusätzlich mit der Dionysius-Translation, gestartet, bei dem wie selbstverständlich auch kaiserliche und päpstliche Urkunden erfunden wurden:

„Im Zuge des Ringens um die Unabhängigkeit des Klosters vom Ortsbischof [in Regensburg] hatte ein Benediktiner von St. Emmeram, wahrscheinlich der große Literat Otloh, mit gefälschten Diplomen der Kaiser seit Karl dem Großen und mit gefälschten Papsturkunden solchen Erfolg, daß Heinrich III. – so liest man wenigstens – Geneigtheit bekundete, dem Kloster rechtzugeben. Ehe es jedoch zu einer konkreten Folgerung aus dieser Einstellung des Kaisers gekommen sei, so Otloh, sei der Kaiser gestorben […] Ob nun Otloh seinen Urkundenfälschungen nachträglich größeren Nachdruck verleihen wollte oder ob er, sicher des nahen Erfolges, eine neue Dimension für seinen Feldzug ansteuerte, mag offenbleiben, jedenfalls erstand, wohl durch Otloh selbst, vermutlich im Anschluß an die ersten Fälschungen eine groteske Lügengeschichte vom Raub der Gebeine des hl. Dionysius in Paris durch Kaiser Arnulf und ihrer Verbringung nach Regensburg. Wie Dionysius der Patron Frankreichs und Saint-Denis das Begräbniskloster seiner Könige war, so sollte wohl St. Emmeram durch diese Geschichte zum Begräbniskloster der deutschen Herrscher werden, waren doch schon Kaiser und Könige in seinen Mauern begraben“ [Andreas Kraus, III:535 f.].

Es genügt der Hinweis, dass ein karolingische Kaiser, Arnulf von Kärnten († 899), nicht etwa ein Ottone für den Coup ausgewählt worden ist.

„Und noch manches auf den ersten Blick befremdlich Erscheinende tritt bei der Beschäftigung mit mittelalterlicher Fälschertätigkeit zutage, so etwa, daß es gerade altehrwürdige Institutionen wie die alten Orden waren, in denen am meisten gefälscht wurde, und daß es Gegenden gab, in denen zu bestimmten Zeiten mehr gefälscht wurde als anderswo: die deutschen Angehörigen des Benediktinerordens zum Beispiel sollen im 12. und 13. Jahrhundert schätzungsweise viermal soviele falsche Urkunden hervorgebracht haben als ihre Ordensbrüder in Frankreich.
Sowohl für »Zweckfälschungen (wie Urkundenfalsifikate)« als auch für jene andere Art von Fälschungen, »die dem Täter keine äußeren Vorteile brachten (wie Legendenerfindungen)« aber »nicht weniger zweckhaft gewesen sein« dürften, bietet Regensburg vielfältige, ja originelle und berühmte Beispiele. Auch hier traten die Benediktinerklöster als Zentren derartiger Aktivitäten hervor“ [Claudia Märtl, III:551].
„St. Emmeram sah sich um die Mitte des 11. Jahrhunderts außerstande, die als immer drückender empfundenen Eingriffe der Regensburger Bischöfe in den Besitz des Klosters auf legalem Wege abzuwehren. Also machte man sich daran, die nicht vorhandenen Immunitätsprivilegien bevorzugt auf Herrscher und Päpste der Karolingerzeit zu fälschen, und der fruchtbarste Schriftsteller St. Emmerams in dieser Zeit, Otloh († nach 1070), bemühte sich, die Geschichte des Klosters in passender Tendenz verfälscht darzustellen. […]
Die zweifellos raffinierteste Fälschung glückte den Emmeramer Mönchen am Ausgang des 13. Jahrhunderts in einer Wiederaufnahme der Fälschungstradition des 11. Jahrhunderts: ein echtes Diplom Ludwigs des Kindes vom Jahr 903 wurde teilweise abgeschabt und neu beschrieben mit einem Text, der dem Kloster alle nur denkbaren Freiheiten, vor allem die Reichsunmittelbarkeit und »alle Würden, die die vornehmsten Benediktinerabteien in Deutschland besitzen«, verbriefte. Die Fälschung wurde zuerst 1295 von Adolf von Nassau transsumiert und bestätigt“ [Claudia Märtl, III:552 f.].

Als zweites Regensburger Fälschungskloster tritt das 1109 durch Otto von Bamberg gegründete Prüfening in Erscheinung.

„In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfertigte deshalb ein eifriger Prüfeninger Mönch »in eine[r] mit seltener Konsequenz durchgeführte[n] Fälschungsaktion, die … klar erkennen läßt, wie genau sich der Fälscher der Unrechtmäßigkeit seines Beginnens bewußt war«, eine ganze Reihe von Urkunden auf die Namen von Kaisern, bayerischen Herzögen, Bamberger und Regensburger Bischöfen des 12. Jahrhunderts, um die Einnahmen des Klosters zu sichern, es von den Vögten zu befreien und seine Unabhängigkeit vom Bamberger Hochstift darzutun.
Das dritte Regensburger Fälschungszentrum, das Schottenkloster St. Jakob, ist insgesamt noch am wenigsten erforscht […]
Auch die um die Mitte des 13. Jahrhunderts hier zu propagandistischen Zwecken verfaßte Regensburger Schottenlegende, die die Ankunft der ersten Iren und ihre erste Klostergründung in Regensburg in die Zeit Karls des Großen verlegt, ist eine relativ harmlose Geschichtsverfälschung, wenngleich der Text behauptet, die Regensburger Iren hätten schon von  Papst Hadrian I. († 795) mehrere Urkunden, darunter ein Exemtionsprivileg, erlangt“ [Claudia Märtl, III:553 f.; Hvhg. HI].

Der Reigen der Regensburger Fälschungsaktivitäten wird durch das vierte Kloster, das Augustinerchorherrenstift St. Mang in Stadtamhof bei Regensburg geschlossen [vgl. Franz Fuchs, III:573-582].

Groteske Züge konnten die Fälscherei und ihre Verharmlosung annehmen, wenn 400 Jahre alte Namenslisten einfach umgeformt wurden:

„Zweifellos ist es objektiv betrachtet berechtigt, von einer Fälschung zu sprechen, wenn die Namenreihen von Mönchen, Nonnen, Königsfamilien und Laiengruppen, die im Frühmittelalter zum Zwecke des Gebetsgedenkens in ein Verbrüderungsbuch des Klosters eingetragen worden waren, nachträglich aus diesem herausgelöst und mit neuen Überschriften versehen als Verzeichnisse Zinspflichtiger bestimmten Regionen zugeschrieben wurden, mit denen sie ursprünglich nicht zu tun hatten. Subjektiv betrachtet“ [Dieter Greuenich, III:665]

sieht das Greuenich als ‘lässliche Sünde’, denn dass

„der ursprüngliche Charakter, die Funktion und Intention des Verbrüderungsbuches verfälscht wurden, mag dem Fälscher in dieser Zeit [um 1300; HI] des wirtschaftlichen Niedergangs und des Zerfalls klösterlicher Traditionen nicht einmal bewußt geworden sein“ [Dieter Greuenich, III:665].

Die Bewertung dieser Fälschung bildet zugleich ein gutes Beispiel für Einschätzungen als ‘pia fraus’, die im nächsten Abschnitt behandelt werden.

Regensburgs Kloster St. Emmerich hatte sich bei seiner ‘Nostrifizierung’ des hl. Dionysus mit Frankreichs wichtigstem Kloster angelegt. Dicht bei der Kapetingerresidenz lag die mächtige Benediktinerabtei Saint-Denis, die

„sich als großes Zentrum der Geschichtsschreibung ganz in den Dienst der Macht des Herrscherhauses stellte. Im 13. und 14. Jahrhundert gingen aus Saint-Denis die berühmten nationalen Chroniken Grandes C[h]roniques de France hervor. Das Europa der Geschichte und der Historiographie kündigte sich an“ [Le Goff, 104].

Realistischer ist folgende Sichtweise:

„Saint-Denis hatte längst seine Erfahrungen. Seit langem geübt im Besitz meisterhafter Fertigkeit, war das Kloster zur vollendeten Fälscherwerkstatt geworden. Gefälscht wurden Urkunden und ganze erzählende Werke, vor unserm Zeitraum und später, am intensivsten aber gerade um 1150“ [Andreas Kraus, III:542].

Hatte sich Regensburg erstrangiges Fälscherkloster übernommen?

„Sieger war, wie nicht anders zu erwarten, Saint-Denis. Schon die schwache Ausgangsposition für St. Emmeram ließ keine Hoffnung zu, daß  Europa dem so hoch gesteckten Anspruch Raum geben würde, sobald Saint-Denis sich zur Wehr setzte“ [Andreas Kraus, III:543]

Für Italien spricht Carlrichard Brühl von den „großen Fälschungszentren“ Banzi, Pisticci und Montescaglioso in der Basilicata, dazu von Montecassino [Hubert Houben, IV:35]. Deshalb wirft Houben die Frage auf, ob SS. Trinità von Venosa, Hauskloster von Robert Guiscard, ebenfalls zu diesen „großen Fälschungszentren“ gehört [Hubert Houben, III:36]. Dort ist das Archiv im 18. Jh. zugrunde gegangen, aber es gibt noch genügend fragliche Urkunden. Es geht um Herzogsurkunden der Normannen, aber auch um „die in Venosa vorgenommenen Fälschungen bzw. Interpolierungen von Papsturkunden“.

„Die älteste tatsächlich für das Dreifaltigkeitskloster ausgestellte Papstbulle vom 25. August 1059 ist, wie bereits erwähnt, an der Stelle interpoliert, an der die Besitzungen des Klosters aufgezählt werden, ist aber ansonsten echt“ [Hubert Houben, IV:48].

Trotz dieses Befundes, der entscheidend für Größe und Macht des Klosters war, und vieler anderer kommt der Diplomatiker abschließend zu der Feststellung:

„Bleibt am Ende festzustellen, daß, wenn auch in Venosa wie anderswo im Mittelalter die Kunst des Fälschens nicht unbekannt war, es sich beim Hauskloster Robert Guiscards, im Unterschied zu den eingangs erwähnten Nachbarklöstern, wohl nicht um eines der berühmt-berüchtigten »großen Fälschungszentren« Süditaliens handelt“ [Hubert Houben, III:57].

So entsteht im Bemühen des Wissenschaftlers, ‘sein’ Kloster möglichst rein zu sehen, eine weitere Rangordnung an Fälscherklöstern. Montecassino ist hier zu beiläufig erwähnt worden, verdient es doch den obersten Rang:

„Jeder Kenner weiß, daß die Abtei Montecassino ein überaus fruchtbares Fälschungszentrum war, wahrscheinlich das fruchtbarste des Mittelalters überhaupt. […] das Fälschungsniveau war in Montecassino um die Mitte des 13. Jahrhunderts spürbar abgesunken“ [Carlrichard Brühl, III:17 f.].

Warum wurde gefälscht? ‘Pia fraus’ oder Die verfolgte Unschuld

Bei Mediävisten und Diplomatikern gab es damals praktisch nur eine Sichtweise: Sie waren bereit, den Mönchen möglichst den Stand der Unschuld zuzugestehen. Als ihr Vor-Sprecher lässt sich Horst Fuhrmann zitieren: Eingangs der Kongress-Akten erläuterte er ‘treuherzig’ das Problem der Fälschung anhand der Verurteilung eines Amtmanns, der 1979 ein Testament fälschte, weil die Erblasserin Kreszentia Deutinger zwar ihren Willen kundgetan, aber kein Testament abgefasst hatte.

„Wer fühlt sich angesichts dieses Falles nicht an das berühmte Credo Fritz Kerns (1884–1950) »zur Erklärung der massenhaften Fälscherei« im Mittelalter erinnert? »Ich bin überzeugt«, so sagt Kern, »wenn es sich auch mangels Fälscherkonfessionen des Mittelalters schwer quellenmäßig belegen läßt, daß manch ein für sein Kloster Urkunden komponierendes Mönchlein … in seinem Maulwurfsbau sich den Himmel verdient hat. War es denn nicht sozusagen aus Vernunft (und) Rechtsgefühl … klar und einleuchtend, daß man« (um im Gedankengang des Kohlgruber Amtmanns fortzufahren) den letzten Willen der Deutingerin erfüllen mußte? Man konnte der Gemeinde die Erbschaft doch nicht entgehen lassen, bloß weil das Krankenhauspersonal sich mit der Lebenszeit der Patientin verschätzt hat: »Gestern sagen sie, sie überlebt’s, und jetzt ist sie tot«, soll der Amtmann beim Leichenschmaus geschimpft haben, und er machte sich ans Werk, die Wahrheit zu fixieren in einem falschen Dokument“ [Horst Fuhrmann, I:83 f.].

Carlrichard Brühl stieß ins selbe Horn, obwohl er es eigentlich besser wusste und deshalb auch eine Weiterung formuliert hat (s.u.):

„Es gibt nämlich eine große Anzahl von Fälschungen – ich glaube, es ist die große Mehrzahl –, die ihre Existenz keineswegs betrügerischen Absichten verdankt, sondern – ich möchte es einmal so formulieren – dem »Recht auf Selbstverteidigung«. Was bleibt einem Abt denn zur Verteidigung des Klosterguts anderes übrig, wenn ihm beispielsweise vor Jahren das Archiv verbrannt ist und der böse Vogt ein dem Kloster gehöriges Gut einfach wegnimmt? Er muß doch »fälschen«, soll dieses Gut nicht endgültig entfremdet werden“ [Carlrichard Brühl, III:11 f., 14].

Kollegen von ihm stellten seltsame Kalkulationen an:

„Man wird sicher nicht sehr irren, wenn man die Zahl der gefälschten und verfälschten Urkunden des Mittelalters mit zwei, allenfalls mit drei Promille des Gesamtbestandes ansetzt. Ein Einwand liegt nahe. Die Fälschungen sind zumeist in der urkundenarmen Frühzeit anzutreffen. Aber die neuerdings wieder einmal in Erinnerung gerufene Tatsache, daß von den rund 270 unter dem Namen Karls des Großen überlieferten Urkunden nicht weniger als circa 100 Stücke Fälschungen sind, verliert viel von ihrer Brisanz, wenn man feststellt, daß sich die Entstehungszeit dieser Falsa über mehr als drei Jahrhunderte erstreckt“ [Erich Wisplinghoff, III:54].

Wenn man also die großen Fälschungen auf den größten Kaiser nicht binnen einer Generation, sondern binnen dreier Jahrhunderte fabriziert, dann verlieren sie ihre Brisanz? Es ließe sich mit gleicher Berechtigung sagen, dass Lust und Bedürfnis, den größten Karl zu bemühen, mehr als drei Jahrhunderte lang bestand und konsequent befriedigt worden ist.

Die Gelehrten verlieren darüber ohnehin schnell den Bezug zur einstigen Fälschungssituation und -mentalität, weil sie die Beschäftigung mit Fälschungen als spannend und aufschlussreich empfinden:

„Nach der allgemein herrschenden Meinung müssen wir bei der Ermittlung der Falsa im Auge haben, daß ein bis ins kleinste erfaßtes Falsum als historische Quelle oft wertvoller ist als mehrere echte Schriftstücke“ [Sáša Dušková, IV:599].
„Für den Historiker am interessantesten sind natürlich diejenigen Fiktionen, die über politische oder militärische Ereignisse berichten. Auch wenn die erfundenen Briefe die Tatsachen nicht immer richtig darstellen, so werfen sie doch ein bezeichnendes Licht auf die Kenntnisse und Meinungen, die gebildete Zeitgenossen von den Geschehnissen hatten. Man denke etwa an den Briefwechsel zwischen Papst Innocenz II. und Kaiser Lothar von Supplinburg, an die »Dictamina zur Geschichte Friedrich Barbarossas«, die Trierer Stilübungen, den Briefwechsel Papst Hadrians IV. und Kaiser Friedrichs I., den Brief des Priesterkönigs Johannes von 1165 an den östlichen und westlichen Kaiser und andere Herrscher oder an die Bamberger Stilübungen über den Plan einer Thronumwälzung im Jahre 1255. Ein Kapitel für sich bilden die zahlreichen gefälschten Papstbriefe kirchenpolitischen, liturgischen oder theologischen Inhalts, die meistens ja auch in durchaus ehrenwerter Absicht erfunden wurden“ [Hans Martin Schaller, V:80].

Ab da ist die Fälschungsproblematik eingehegt, niedergehalten und sogar als fruchtbringend eingeschätzt. Damit ist dem Verwundern über das Fälschungsunwesen ein Ende gesetzt, obwohl oder weil sich Hunderte von Fachleuten darüber beraten haben.

Carlrichard Brühl hat dann doch noch eine Position vertreten, die den Blick weitet, spürte er doch, dass zumindest in der Zeit vor 1250 oder 1300 von beunruhigend vielen Spuria ausgegangen werden muss:

„die Editionen geben meines Erachtens ein völlig falsches Bild, weil sehr viele Fälschungen bis heute nicht als solche erkannt sind und wir daher allenfalls die Spitze des Eisbergs zu sehen vermögen. Es ließen sich hierfür eine ganze Reihe von Gründen anführen; ich beschränke mich auf die zwei, die meiner Meinung nach die wichtigsten sind: 1. die ungenügende Anwendung der diplomatischen Methode und 2. das subjektive Verhältnis des Forschers zum Spurium […] Von der Abstraktion zum Klartext: die Historiker wenden die diplomatische Methode ungenügend an, weil sie – bewußt oder unbewußt – die Besorgnis haben, sie könnten zu viele Spuria finden. Fälschungen zu entdecken, ist nämlich nicht fein; fein ist es nachzuweisen, daß eine scheinbare Fälschung in Wahrheit doch echt ist. Diplomatiker, die bei ihren Fachgenossen in dem Ruf stehen, leicht – man sagt dann meist: voreilig – einen Fälschungsverdacht zu äußern, werden etwas über die Schultern angesehen und als »Außenseiter« gehandelt“ [Carlrichard Brühl, III:11 f., 14].

Deshalb brach er eine Lanze für ‘Altmeister’ Daniel Papebroch (1628–1714), den Kontrahenten von Dom Jean Mabillon, der die diplomatische Methode 1681 begründet hat: Papebroch

„übt den Schriftvergleich, untersucht das Formelgut, bes. die Invocatio, prüft Monogramm und Siegel, kritisiert die Datatio usw. Auch die ihm so häufig vorgeworfene generalisierende Behauptung, alle Urkunden – er denkt hier einschränkend an Königsurkunden – vor Dagobert I. seien falsch, ist so abwegig nun auch wieder nicht, wenn man bedenkt, daß die moderne Urkundenkritik mit Müh und Not etwa ein halbes Dutzend als echt gelten läßt. […]
Papebrochs Schwäche war jedoch seine geringe Materialkenntnis; er gab seinem Werk schöne Schrifttafeln bei, aber die von ihm zum Vergleich herangezogenen Urkunden, insbesondere das Pseudooriginal auf den Namen Dagoberts I. aus St. Maximin, waren unglücklicherweise auch Fälschungen“ [Carlrichard Brühl, III: 19].

Fälschungen wucherten wie Krebsgeschwüre und brachen an immer neuen Stellen auf; dementsprechend gab es eine noch deutlich frühere Aufdeckung von Fälschungen:

„Es war eine böse Überraschung für Papst Innozenz III., als 1198, unmittelbar nach seiner Weihe zum Papst, die Werkstatt einer Fälscherbande ausgehoben wurde, die sich sogar schon Siegel mit seinem Namen auf Lager gelegt hatte. Dieser Schock veranlasste Innozenz III., Regeln zur Prüfung einer Urkunde zu erlassen. Seine Vorschriften, die vor allem auf eine Untersuchung des Siegels abzielten, sind in das Kirchliche Gesetzbuch eingegangen und haben Schule gemacht“ [H. Fuhrmann 2004, 206 f.].

Also Kampf den Fälschungen bereits zu Ende des 12. Jh. Und trotzdem war laut Brühls Worten die Bereitschaft Fälschungen aufzudecken, 1986 immer noch zu gering. So konnte Karlheinz Deschner [393-412] acht Jahre später das Problem in seiner rigorosen Art angehen und festhalten:

„Das fromme Mittelalter war ein derartiges Eldorado der Fälscher, daß man nicht nur behaupten konnte, es habe fast ebenso viele unechte Urkunden, Annalen, Chroniken gegeben wie echte, sondern daß der Mediävist Robert Lopez geradezu erklärt, man halte alle diese Dokumente bis zum Echtheitsbeweis erst einmal für falsch. «We regard them guilty until proved innocent . . .»“ [Deschner, 394].

Diese Aussage von Lopez war den Kongress-Teilnehmern bekannt, ohne jedoch von ihnen geteilt zu werden:

„Das von Fuhrmann […] zitierte Wort von R. Lopez, wonach mittelalterliche Dokumente bis zum Erweis des Gegenteils für falsch gehalten werden, ist zu undifferenziert“ [Erich Wisplinghoff, III:61].

2004 wurde diese Grundlinie neuerlich gezogen und wiederum verworfen, während die Fälschungsjäger hoffähig wurden (s.u.).

Konsequenzen aus dieser fälschungsgeneigten Haltung

Aachen ist ein schönes Beispiel dafür, wie nachsichtig man mit Fälschungen umgehen kann; die Ausführungen auf der zitierten Website sind deutlich jünger als der Fälschungskongress, belegen also das Weiterbestehen solcher Gedanken.

Der Freiheitsbrief von Kaiser Friedrich I. Barbarossa, am 8.1.1166 für Aachen ausgestellt, bringt als Insert das sog. Karlsprivileg, das Gero Weishaupt zwischen 1114 und 1121 entstanden sieht. „Dass es sich um eine Fälschung handelte, war Kaiser Friedrich I. Barbarossa allerdings nicht bewusst“ [Weishaupt]. Würde diese Datierung stimmen, müsste Barbarossa tatsächlich nicht gewusst haben, dass eine Fälschung eingefügt worden ist. Da aber Franz-Reiner Erkens [267] die Fälschung mit viel größerer Wahrscheinlichkeit auf die Mitte des 12. Jh. datiert, ist sie offenbar in direktem Zusammenhang mit dem Freiheitsbrief Barbarossas fabriziert worden, was Weishaupt als in Aachen geborener Priester und Kirchenrechtler übergeht.

„In dieser angeblich auf Karl den Großen zurückgehenden Urkunde werden in phantasievoller Erzählung die Anfänge des römischen Aachen und seine Wiederentdeckung durch Karl den Großen beschrieben. Zusammen mit der Barbarossa-Urkunde (siehe dort) sollte Aachen als Hauptstadt des Reiches begründet werden. […]
Zusammen mit dem Karlsprivileg (siehe dort) ist die Barbarossa-Urkunde vom 8. Januar 1166, wenige Tage nach der Heiligsprechung Karls des Großen veröffentlicht, die Hauptquelle für die feierliche Erhebung der Gebeine Karls des Großen und seine Kanonisation (Heiligsprechung). Das Karlsprivileg, das eine Fälschung ist, ist in den Text der Barbarossa-Urkunde eingefügt […].
Die Stadt Aachen steht in beiden Urkunden im Mittelpunkt. Es wird an den antiken Ursprung der Stadt erinnert (Granuslegende), auf die Gründung Aachens als Sitz und Haupt des Reiches durch Karl den Großen hingewiesen, die Auszeichnung der Stadt durch die Grablege des Kaisers in der Pfalzkapelle hervorgehoben, die Bedeutung Aachens als Krönungsort betont und die besondere Rechtsfreiheit der Aachener Bürger unterstrichen. Aachen wird in beiden Urkunden als Haupt Frankreichs (caput Galliae) und Deutschlands (caput regni Theutonici) gepriesen. Durch die Kanonisation Karls des Großen ist Aachen zur sakralen Hauptstadt des Reiches (sacra civitas) aufgestiegen, deren Pfalzkapelle, in der sich das Grab des Kaisers und dessen Thron befinden, die erste Kirche des Reiches ist.
Die Barbarossa-Urkunde mit dem in sie inserierten Karlsprivileg ist die Grundlage für alle weiteren Privilegien, mit denen die in Aachen gekrönten Könige die Stadt ausgezeichnet haben. Das Dokument ist die Gründungsurkunde Aachens als freier Reichsstadt“ [weishaupt; Schreibfehler stillschweigend verbessert].

Wer würde da nicht einen unbedingten Willen zur Fälschung erkennen, außer er wäre ein in Aachen geborener Geistlicher?

Chroniken und Bistumsgründungen

Zurück zum Fälschungskongress. An der Kaiserchronik für Heinrich V. arbeiteten Ende des 11. Jh. Sigebert von Gembloux, Frutolf von Michelsberg und ein Anonymus:

„Anders als Sigebert fand Frutolf in seinen Quellen zu zahlreichen Jahren des 9. bis 11. Jahrhunderts keine Nachrichten und mußte sich mit der Nennung von bloßen Inkarnations- und Regierungsjahren begnügen. Solche ›leeren‹ Jahre füllte der Anonymus nun mehrfach mit Nachrichten aus Sigebert auf, die dieser allerdings zu ganz anderen Jahren, mal früher, mal später gesetzt hatte; darunter finden sich auch astronomische Ereignisse. Hier wird doch offenbar Gleichgültigkeit gegenüber der richtigen Chronologie erkennbar“ [Franz-Josef Schmale, I:126 f.].

Nun wird das Fälschen als eigentlich zwingend notwendiges Füllen von Leerstellen dargestellt; dem Fälscher wird damit bescheinigt, dass er keineswegs eine besonders raffinierte Fälschung produzieren wollte, obwohl er sogar die Astronomie bemühte. Ergo pia fraus.

Ähnlich steht es um den Mönch Adso von Montier-en-Der († 992). Er bekam den schwierigen Auftrag, eine Vita des hl. Mansuetus zu verfassen und meisterte diese Aufgabe freischöpfend souverän. (Der Leser möge das Wort ‘Parodie’ im alten Sinn lediglich als Nachahmung verstehen, die das Original nicht zwangsläufig übersteigert oder verspottend wiedergeben musste):

„Es ist klar, daß es einen Heiligen, wie er hier dargestellt wird, niemals gegeben, daß Adso die Geschichte seines Mansuetus erfunden, daß er eine reine Legende erdichtet, ja ein Heiligenleben parodiert oder zumindest ein solches mit stark parodistischen Zügen verfaßt hat. […]
Es war für Adso wahrhaftig nicht leicht, den Auftrag des Bischofs zu erfüllen: es galt, die Vita eines Heiligen zu verfassen, von dem nichts, rein gar nichts überliefert war, und von dem nichts feststand, als daß er eine Kirche besaß; er sollte als Bischof dargestellt werden und der erste der Tullenser dazu, obwohl man doch auch darüber nichts Näheres wußte; und das in dieser Vita Berichtete sollte die Grundlage, der Kern der Tradition eines Konvents werden, der fürderhin unter dem Namen eben dieses Heiligen leben und ihn als seinen besonderen Beschützer verehren sollte“ [Franz Brunhölzl, I: 161 f.].

Ganz unbeeindruckt von derartiger Fiktionalität erweist sich der aktuelle Wikipedia-Eintrag [/ Mansuetus], der zwar unsicher ist, ob er Bischof und Diözesengründer war, aber an seinem Leben keine grundsätzlichen Zweifel hegt. Er wird deshalb hier vollständig wiedergegeben:

„Der heilige Mansuetus (frz. Mansuy; † im 4. Jahrhundert in Toul) war angeblich der erste Bischof von Toul. Sein Name bedeutet der Sanftmütige. Mansuetus, ein gebürtiger Schotte, in Rom zum Priester geweiht, soll auf Anregung des in Trier residierenden Kaisers Constans von Papst Damasus zur Verbreitung des christlichen Glaubens nach Toul entsandt worden sein. Er gilt als Begründer der Diözese Toul und soll sich große Verdienste um das Bistum erworben haben.
Er starb im Jahr 375 und wurde in der von ihm gegründeten Kirche St. Peter beigesetzt. Schon bald nach seinem Tod war sein Grab Ziel frommer Wallfahrer. Der Hl. Martin von Tours besuchte seine Grabstätte auf dem Weg nach Trier (384/386). Über seinem Grab errichtete Bischof Gerhard I. von Toul im 10. Jahrhundert das Kloster St. Mansuy. Er wurde heiliggesprochen, er wird als Prediger, der Tote zum Leben erweckt, dargestellt und sein Gedenktag wird am 3. September gefeiert. Der Heilige wird nicht nur in Frankreich verehrt, sondern auch in Trier und Mainz. Er ist Patron einiger Kirchen in Deutschland zum Beispiel der Pfarrkirche von Biederbach.“ [2 Kommata entfernt; HI]

Warum auch sollte man zweifeln, wenn Bistümer nun einmal bestehen, auch wenn ihre Gründung zweifelhaft ist?

„»Es gibt kaum ein altes Bistum der abendländischen Kirche, das nicht mit einer Gründungsfiktion beginnt und das frei ist von Fälschungen«. Dieses Urteil Horst Fuhrmanns aus dem Jahr 1985 kann jetzt in neuer Weise konkretisiert werden. Die historische Überlieferung der Bischofssitze stützte sich ganz wesentlich auf die Gräber der Bischöfe, an denen man der früheren Oberhirten auch liturgisch gedachte; weil aber insbesondere die Grabstätten der ersten Bischöfe, die in Verbindung zu Christus selbst oder zu seinen Aposteln gestanden haben sollen, kaum wirklich nachweisbar waren, mußten Erfindungen aushelfen“ [Michael Borgolte, I:235].

Konzile und Kapitularien

Ein größeres Kaliber stellen gefälschte Konzils- und Kapitularientexte dar, denen sich Gerhard Schmitz gewidmet hat. Zunächst weist er darauf hin, dass Simon Stein nicht Recht gehabt hätte, wenn er das Gebiet des frühmittelalterlichen Rechts als ein wahres „Eldorado der Fälschungen“ bezeichnet hat,  waren doch für Stein die Admonitio generalis Karls des Großen, die Kapitularien von Diedenhofen (805), die Kapitulariensammlung von Ansegis von Fontanelle und die Wormser Kapitularien von 829 allesamt Fälschungen. Diese scheinbar überzogenen Behauptungen wurden von den Kollegen – bedauerlicherweise – zurückgewiesen, die sich auch mit einem gewissen Benedict im 9. Jh. abmühten:

„Hier wird man allerdings gleich an Benedictus Levita denken, jenen dem Kreis der Pseudoisidorianer zugehörigen Anonymus, der angeblich im Mainzer Archiv seine Funde gemacht hat und dessen Opus um die Mitte des 9. Jahrhunderts ans Licht trat. Mit der Chuzpe eines wahren Fälschers hat er sich beim Leser wegen seiner Duplikate und Triplikate – gewissermaßen wegen mangelnder redaktioneller Sorgfalt – entschuldigt und ansonsten seinen Zeitgenossen ein gewaltiges, drei Bücher und vier Appendices umfassendes, buntes Sammelsurium von zusammengerechnet 1721 Kapiteln zugemutet“ [Gerhard Schmitz, II:80].

Da staunt der Laie, wie viele Kuhhäute die Karolinger blankem Unsinn widmeten, der nur gelegentlich einen echten Textabschnitt enthalten könnte. War dieser Benedictus auch der fälschende Urheber des ersten Kapitulars Karls, wohl aus dem Jahr 769? Nicht alle Forscher betrachten es als gefälscht [Schmitz, II:82]. Übereinstimmungen mit den Texten des Konzils von 747 sprächen für die Echtheit, für uns bestätigt es die Unechtheit dieser Konzilstexte [ebd. 88], wie wir auch die berühmten Pseudisidorien nicht für ein Produkt des 9., sondern des 11. Jh. halten (s.o.).

Seit 1998 läuft das Projekt für eine Neuedition von Benedikts „falschen Kapitularien“ [schmitz], wobei die Website noch nicht viel bieten kann. Die Forschung hat sich dann bei diesem Kapitular selbst verfangen:

„Jeder Fälschung wohnt eine gewisse Tendenz inne, der Fälscher verfolgt eine bestimmte Absicht, das Phänomen der absichtslosen Fälschung müßte wohl noch erfunden werden. Und gerade eine solche Fälschungsabsicht ist hier nicht erkennbar, eben weil mit Ausnahme von c. 12 das Stück inhaltlich nichts sonderlich Aufregendes bietet“ [G. Schmitz, II:92].

Was also war die bislang unverstandene Absicht bei dieser Fälschung? Wer ganze Zeitabschnitte mit geistig-geistlichem Leben zu füllen hatte, der konnte zur Not auch ein Kapitular ohne relevante Aussage erfinden. Diese Absicht war den Diplomatikern von 1986 noch unbekannt. Klar ist die Absicht hingegen bei der folgenden Doppelfälschung von Konzil und Kapitular, also von einer großen geistlichen Zusammenkunft und einer Rechtsverfügung.

„So fraglich also die Fälschung beim Capitulare primum Karls des Großen ist, so eindeutig ist sie bei dem Stück, dem wir uns jetzt zuwenden wollen: Es handelt sich um das sog. Concilium et capitulare de clericorum percussoribus und stellt im Grunde eine Doppelfälschung dar: die eines Konzils  und die eines Kapitulars, das, manchen Inskriptionen nach, von Karl dem Großen (und seinem Sohn Ludwig) stammen soll“ [G. Schmitz, II:94 f.].
„Und was sollte unsere Fälschung nicht alles gewesen sein: eine wichtige, wenn nicht die einzige kaiserliche »Confirmationsurkunde« einer Synode, erstes Zeugnis von sog. »Bußsurrogaten« und ähnliches mehr“ [G. Schmitz, II:104].

Wer ein ganzes Konzil fälschen kann, der kann auch die Situation der Kirche nach Belieben darstellen. So hat es sich offenbar für das Ende der ‘dekadenten’, gleichwohl fiktiven Karolingerzeit angeboten, eine ganz furchtbare Situation der Kirche zu zeichnen, obwohl kein äußerer Feind der Kirche zu erkennen ist. Indem Fälscher an Klerikern laufend Schandtaten verübt sein ließen, konnten Regenten ermahnt werden, der Kirche weitere Rechte und weiteren Schutz angedeihen zu lassen:

„es gibt kaum ein Synode, die sich nicht mit der Mißhandlung oder Ermordung von Geistlichen zu befassen gehabt hätte. Hier ein Priester, dem man die Nase abgeschnitten, das Haar geschoren und so geprügelt hatte, daß er semivivus – besser: halbtot – liegen blieb, dort einer, der entmannt worden war, 895 in Tribur: ein unschuldig Geblendeter; 900: Erzbischof Fulco von Reims ermordet. Die Liste erschlagener, geblendeter oder gefangengesetzter Bischöfe etwa ließe sich mühelos fortsetzen“ [G. Schmitz, II:107 f.].
„Freilich, es gibt nichts, was sich nicht noch steigern ließe. Hier in Bayern war es, daß bei der Rezeption unserer Fälschung sich jemand eines in der Lex Baiuvariorum enthaltenen und in der sonstigen germanischen Rechtsliteratur einmaligen Kuriosums entsann. Man soll wissen, so fügte er in unsere Fälschung ein, daß nach unseren Gesetzen, wer einen Bischof tötet, eine Bleitunica nach der Gestalt des Getöteten anfertigen lassen müsse, deren Gewicht er der Kirche in Gold zu entrichten habe. Bruno Krusch hat das nachgerechnet. Er kam bereits bei einer nur bis zu den Knien statt wie üblich bis auf die Knöchel reichenden Tunica auf einen Preis von 29595 Solidi und befand, »daß … in keiner Schatzkammer von den Pyrenäen bis zur Enns so viel gemünztes Gold zu finden gewesen wäre«.“ [G. Schmitz, II: 1094 f.].

Also erst bei rund 133 kg puren Goldes (heute das Kilogramm zu 32.000 € Tageskurs) beschleicht den Diplomatiker ein gewisser Unmut und sogar Fälschungsverdacht. Keine Skepsis keimt, wenn es in demselben Gesetzestext heißt, dass

„für die Schenkungen an die Kirche, welche bis zur Mitte des 9. Jhs. die beinahe ausschließliche Form des Rechtsgeschäftes in Bayern bildeten, die Ausstellung einer Urkunde notwendig“ ist [Bitterauf, LXXXVIII].

Es gibt also zumindest in Bayern praktisch ausschließlich Urkunden zur Bestätigung von Schenkungen an die Kirche. Wenn für kein anderes Rechtsgeschäfte Schriftform notwendig war, dann nährt das den Verdacht, dass mit einer ‘weit zurückdatierten’ Gesetzesergänzung späteren Notwendigkeiten – Stichwort Wormser Konkordat – Rechnung getragen worden ist [vgl. Illig/Anwander, 44-47]. Aber solche Skepsis war den Kongressteilnehmern fremd; auch bei den absurden Verwaltungsvorgängen des Capitulare de villis keimt bis heute keine Skepsis [vgl. Illig 2011].

Die Endzeit der mittelalterlichen Fälschungen

Im 14. Jh. wurden Methoden zur Aufdeckung von Urkundenfälschungen stetig verbessert und von Juristen eingesetzt, was Fälschungen erschwerte.

„andererseits wurde durch die veränderte politische Situation etwa die Fälschung von Herrscherurkunden nahezu uninteressant – konnte man doch durch die Zahlung entsprechender Summen von den luxemburgischen Herrschern [1308–1437; HI] fast alle beliebigen Privilegien ohne Risiko erlangen. Das typische geistliche Delikt des Mittelalters, die Fälschung von Herrscher-, Papst- und Bischofsurkunden zum Nutzen oder Ruhm des eigenen Bistums oder Klosters, verliert an Bedeutung,“
Fußnote 37: „Allerdings konnte es passieren, daß etwa Karl IV. [1316–1378; HI] eine durchaus echte Urkunde für falsch erklären ließ, wenn sie ihm nicht mehr ins politische Konzept paßte“ [Claudia Märtl, III:561].

Wenn sich die weltlichen Regenten das Recht auf Fälschung sicherten, hatte es auch die hohe Geistlichkeit schwerer mit dem Fälschen. Doch das Fälschen selbst endigte deshalb nicht, im Gegenteil:

„Die Welt des Spätmittelalters ist voll von Fälschungen. Jeder Geschichtsschreiber weiß davon zu berichten. Urkundenfälschungen, falsche Meldungen einschließlich Geschichtsfälschungen, falsche Reliquien und Wunder einschließlich falscher Prophetien, Falschgeld, falsche Namen und Wappen, Status-Fälschungen (falsche Kranke, falsche Päpste usw.). Man ist umgeben von Fälschungen, Fälschungen gehören zum Alltag“ [Rolf Sprandel, I:243].

Noch etwas später kamen z.B. auch noch langobardische Königs-, Königinnen- und Herzogsnamen wie Rothcari, Rothegasi, Giseltrud, Ratchis, Luitprand, Aistulphus, Anselmus, Petrus, Ursus, Mantarda, Racalaida, Tudelinda, Rodelenda, Ualtifrida oder Teodelinda aufs Pergament des Evangeliar von Cividale (Friaul):

„Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hat sich eine fromme oder unfromme Hand den Betrug erlaubt, mit gelbbrauner Dinte und stumpfer Feder, deren gleichmäßige Züge sich auf den ersten Blick erkennen lassen, an  verschiedenen Stellen die Namen älterer langobardischer Herrscher einzutragen, als wenn sie sich selber hier eingeschrieben hätten“ [Karl Schmid, I:561 unter Bezug auf Bethmann, 116].

Bekanntlich gründeten die Karolinger die Universität von Paris, wie auch die Troianer unter Brutus die Insel Albion besetzten, die später Britannien benannt wurde. Anschließend trafen dort griechische Philosophen ein und ließen sich nicht weit von Oxonia nieder, dem spätere Oxford. Das wurde dort noch 1868 geglaubt.

„The Carolingian legend and the Theodosian myth of the foundation of the universities of Paris and Bologna nowhere penetrated into sthe strictly ›official‹ records of the universitiy – the registers of the Proctors, Treasures – in Paris and into th minutes of the University of Bologna. Oxford, howeve, in the official »Book of Cancellors and Proctors« […] inserted a passage on the antiquity and celebrity of the university entitled Translatio universitatis de loco in locum as wie can read in Henry Anstey’s 1868 edition“ [Astrik L. Gabriel, I:618].

Die Veralterung von Oxford wie auch von Cambridge wurde als “patriotic fraud” bezeichnet [ebd.] und tritt so neben pia fraus, den frommen Betrug.

Spuria als Kuriosa

Damit sind wir bei der Rubrik ‘Kuriosa’ angelangt. So glänzt eine karolingische Klostergründung durch Fälschungen, die aber ‘verniedlicht’ werden:

„Das am Unterlauf der Pescara am Ausgang des Flusses aus den Abruzzen gelegene Kloster San Clemente a Casauria ist eine Gründung Kaiser Ludwigs II., des letzten bedeutenden Herrschers Italiens aus karolingischem Hause. Über die näheren Umstände der Gründung werden wir ausschließlich durch das erst 300 Jahre später um 1180 unter Abt Leonas von Casauria von Johannes Berardus verfaßte Chronik-Chartular unterrichtet, da die Originalurkunden des Klosters verloren sind und andere Chronisten auf Casauria nicht näher eingehen“ [Herbert Zielinski, IV:67].

Immerhin gibt es sechs Urkunden, in denen der Kaiser zugunsten von Casauria Privilegien erteilt. Um ihre Prüfung geht es:

„An der substantiellen Echtheit der sechs untersuchten Diplome Ludwigs II. kann nach dem Gesagten kaum noch gezweifelt werden. Allerdings steht auch fest, daß zumindest einige Diplome im Sinne der jüngeren Klostertradition, ohne daß davon der Rechtsinhalt betroffen wäre, verfälscht worden sind“ [Herbert Zielinski, IV:91].

Dies geschah ein erstes Mal vielleicht um 900, das zweite Mal im 12. Jh. in dem Bemühen,

„die Zeit Ludwigs II. im Einklang mit der am Kirchenportal auch bildnerisch veranschaulichten Klostertradition als die gute, alte Zeit herauszustellen, um sie so pointiert der rauhen Realität des 12. Jahrhunderts gegenüberstellen zu können“ [Herbert Zielinski, IV:92].

*

Oben wurde die Meinung von Georges Despy zitiert, nach der das 12. und 13. Jh. goldene Zeitalter der Fälschungen war. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle wurden sie von Geistlichen für religiöse Institutionen produziert. „Weniger häufig sind allerdings Fälschungen, welche die Stadt- oder Wirtschaftsgeschichte berühren“ [Georges Despy, IV:275]. Dafür stehen auch „vierzehn auf die Namen niederlothringischer Herzöge erstellte Urkunden“ [ebd. IV: 278]. Ihre Prüfung führt zu einem erstaunlichen Ergebnis:

„So steht man plötzlich vor dem Problem, die gesamte Geschichte Nieder-Lothringens des 11. und des 12. Jahrhunderts neu überdenken zu müssen im Hinblick auf seine tatsächliche Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. Denn die Geschichte dieses Herzogtums ist in der älteren Historiographie allzu oft mißverstanden worden: Um 1900 wurde sie von Parisot in einem »partikularistisch lothringischen« Sinn aufgefaßt, zu einem Zeitpunkt, als Lothringen zu Deutschland gehörte, dann durch Pirenne in einem »vorbelgischen«, wie er ihn im Rahmen seiner »préhistoire médiévale« für das Belgien von 1830 sehen wollte, von W. Reese 1941 in einem »pangermanischen« Sinn, […] und schließlich in einem »beneluxischen« Sinn in der Algemene Geschiedenis der Nederlanden von 1950 und 1981“ [Georges Despy, IV:285].

Dermaßen kann die Geschichtssicht unter dem Eindruck von echten wie von gefälschten Urkunden changieren.

*

Mit Abbo von Fleury (945–1004) begegnet uns ein Mathematiker des 10. Jh., der nur hinter Gerbert von Aurillac (nachmals Papst Silvester II.) zurücksteht, dessen Position als Erzbischof von Reims er allerdings hinlänglich unterminierte. Mehrere Urkunden seines Klosters soll er persönlich gefälscht haben, doch der Verdacht konnte auf eine einzige reduziert werden, „eine Fälschung auf den Namen [Papst] Gregors IV.“ [Marco Mostert, IV:308] mit weitreichenden Folgen:

„Papst Gregor IV. soll auf Wunsch Ludwigs des Frommen dem Kloster Fleury, wo der Leib St. Benedikts ruht, allen Besitz, Privilegien und die Immunität bestätigt und außerdem dem Abt von Fleury den Primat der Äbte Galliens übertragen haben. Die Beziehungen des Klosters zu seinem Bischof und zu den anderen Klöstern wären damit geordnet“ [Marco Mostert, IV:298 f.; Hvhg. HI].

Mostert hat detailliert untersucht, welche Vorlagen für diese Fälschung benutzt worden sind und geschlossen, dass die Urheberschaft Abbos „nicht mehr zu leugnen“ ist [Marco Mostert, IV:299-303, 303]. Diese Fälschung zeitigte weitreichende Folgen:

„Gregor V. verwendete den Text als Vorbild für andere Privilegien. In Februar 998 bestätigte er Cluny den Besitz und verlieh dem Kloster darüber hinaus Exemtion von der bischöflichen Gewalt in einem Passus, der dem von Abbo für Fleury verfaßten sehr ähnlich ist. Im folgenden Jahrhundert sollten immer mehr Ansuchen um Exemtion den Stuhl Petri erreichen. Wenn auch Gregor V. schon auf der römischen Synode vom Mai 996 erkannt hatte, wie viel die Eximierung möglichst vieler Klöster für das Papsttum einbrachte, so hat die Idee der Exemtion erst durch den Einfluß Clunys eine weite Verbreitung gefunden“ [Marco Mostert, IV:307].

Die Exemtion, also „eine gewisse rechtliche Eigenständigkeit gegenüber den jeweiligen lokalen und regionalen kirchlichen Amtsträgern“ [wiki / Exemtion] mit direkter päpstlicher Unterstellung, wurde maßgeblich durch Cluny vorangetrieben. Bekanntlich birgt Clunys Gründungsurkunde einen Datierungswiderspruch in sich – Tages- und Jahresangabe (910) schließen einander aus [Wollasch, 19] –, weshalb es auch Jahre später gegründet worden sein kann. Seine Exemtion von Beginn an hat bezeichnenderweise nur Vorgänger in erfundener Zeit: das Bistum Pavia im 7. Jh., Columbans Klöster Luxeuil und Bobbio ab 628, in Deutschland Fulda ab 751 [ebd.]. Ab Clunys Exemtion war es ‘sinnvoll’, diese Rechtsveränderung rückwirkend zu fälschen. Noch ein kleines Aperçu: Eigentlicher Klostergründer war Herzog Wilhelm I. der Fromme von Aquitanien († 918). Wollasch [22] gibt aber Wilhelm III. den Beinamen „der Fromme“. Nun existierte auch einen Wilhelm III. von Aquitanien (ca. 900–963), zugleich Graf Wilhelm I. von Poitou. Er trug nicht den Beinamen „der Fromme“, wurde aber kurz vor seinem Tod Mönch. Insofern könnte es auch mehr als nur eine Verwechslung durch Wollasch sein, die die Klostergründung verjüngen würde.

*

„Nur selten stellen wir Kulte ohne Legendenbildung fest (die dann auch in der Regel nur von kurzer Dauer sind). Dabei typisieren die Legenden nach festen Vorstellungen, und wenn etwa die sog. Märtyrerromane sich tatsächlich meist mit rein erfundenen Heiligen befassen (was nichts an der Tatsache ändert, daß Barbara, Katharina, Georg, Christophorus u.a.m. zu den beliebtesten Heiligen gehören) – ihre Legenden sind im Mittelalter nicht angezweifelt worden, aber sie wurden auch nicht mehr nachgeahmt. Fiktive Heilige gab es zwar in jedem Jahrhundert des Mittelalters – aber der Schwerpunkt der Propaganda verschob sich von der Legende auf die  Aufzeichnung der Wunder, auf Mirakelbücher; die Fabrikation erfundener Legenden trat spürbar zurück“ [František Graus, V:274 f.].

In Richtung Gegenwart

Im Mai 1997 hämte der Mediävist Theo Kölzer, Universität Bonn, gegen den Autor dieser Zeilen und seine Thesen:

„Durch seine Eliminierung größter Teile der frühfränkischen Geschichte wäre ich eigentlich der Mühe enthoben, die kritische Edition der merowingischen Königsurkunden fertigzustellen, die vor dem Abschluß steht. Über diese vermeintlichen Phantome mag Herr Dr. Illig ein weiteres Buch schreiben“ [Kölzer].

1998 nahm Matthias Schulz vom SPIEGEL das Erscheinen eines voluminösen Buchs – Beate Schilling: Guido von Vienne – Papst Calixt II. mit 825 Seiten – zum Anlass, Mediävisten über Fälschungen zu befragen. Er war beeindruckt von der Flut an Fälschungen, die überall dort hochbrandet, wo Bereitschaft besteht, sie zur Kenntnis zu nehmen. Es ging dabei um eine Studie über Papst Calixt II., von 1119 bis 1124 auf dem hl. Stuhl, der zuvor als Guido von Vienne ab 1088 Erzbischof gewesen war.

„Diplomatikern ist der Mann seit langem verdächtig. Kaum 30jährig stieg Guido zum Erzbischof seiner Kirchenprovinz im Rhônetal auf. Kaum im Amt produzierte er fließbandmäßig Falsifikate, darunter solche mit »größenwahnsinnigen Ansprüchen« (Schilling), die seine Machtstellung innerhalb der Kirche festigen sollten. Das Konzept hatte Erfolg: Im Jahr 1119 bestieg der Gauner als Kalixt II. den Papstthron“ [Schulz].

Schulz sammelte nun Statements der Diplomatiker, die plötzlich nicht mehr von ‘pia fraus’ sprechen, sondern ganz andere Töne anschlagen:

„Dennoch stößt Mersiowsky auf mannigfache Spuren von Mogelei. 54 Ludwig-Diplome hat er als unecht aussortiert. Plumpe Machwerke sind darunter, aber auch Meisterstücke, die etwa die komplizierte Schnuraufhängung des Wachssiegels perfekt nachahmen.
Solche Befunde sind typisch. Der Argusblick der Diplomatiker hat den mittelalterlichen Klerus ins kriminelle Milieu gerückt. Von »Erzbetrügern« und einer »Massenepidemie an Fälschungen« ist in der Zunft die Rede.
Bereits in den achtziger Jahren schlug der Nestor der deutschen Diplomatik, Horst Fuhrmann, 72, wie mit der Abrißbirne gegen das vom Klerus errichtete Truggebäude. Sein Fazit: Die Skriptorien hätten Fakten umgebogen »wie das Wahrheitsministerium bei George Orwell«.
Nun decken die Experten immer neue Beweise für Täuschungsmanöver auf. »Unsere Zunft steht vor einem Abgrund an Falsifikaten«, sagt der  Aachener Historiker Max Kerner, »und es werden immer mehr.« Auch Bischöfe, Metropoliten, selbst Päpste türkten mit dem Gänsekiel und radierten mit Bimsstein Zeilen weg. »Kaum ein deutsches Bistum«, so Fuhrmann, sei frei von Schuld.
Per Federstrich attestierten sich Klöster Zollprivilegien. Sie sackten riesige Ländereien ein, gewährten sich Steuerfreiheit oder Immunität. Machte ihnen der Adel Besitz streitig, konterten sie mit Pergamenten, an denen Kaisersiegel baumelten.“

Dabei stieß Schulz auch auf Kölzer und seine Merowinger-Edition: Dieser Mediävist

„ist derzeit dabei, die archaischen Urkunden zu sichten – fast ein Dutzend Handschriftensammlungen hat der Professor bei seiner Recherchetour abgeklappert. Sein Ergebnis: »Der Anteil der Falsifikate liegt bei über 60 Prozent.«
Der Schriftgelehrte enttarnte manipulierte Datumszeilen und stieß auf »Phantasiemonogramme«. Andere Texte sind »wie Flickenteppiche aus echten und unechten Elementen« komponiert. Besonders herb war die Enttäuschung im Kloster Malmedy (Belgien). Der von dort stammende Fonds, zehn vergilbte Pergamente, wurde bislang komplett für echt gehalten. Kölzer korrigiert: »Die Hälfte ist getürkt.«“ [vgl. Illig 1998]

12 Jahre nach dem durch Schulz nicht angesprochenen Kongress über Fälschungen hat sich der Ton deutlich gewandelt. Selbst Fuhrmann sieht nicht mehr primär den letzten Willen einer Deutinger Kreszenz erfüllt, sondern Orwells 1984 bereits im Mittelalter realisiert. Und plötzlich ist der Fälschungsaufdecker nicht mehr der Böse, sondern der Gute. Kölzer lässt sich vor Drucklegung seiner Merowinger-Edition bereits feiern: „Der Anteil der Falsifikate liegt bei über 60 Prozent“ [Schulz]. Dabei bedeutete das in absoluten Zahlen, dass er lediglich 20 weitere Urkunden als Fälschungen erkannt hat. Nur einen Tag nach dem SPIEGEL-Artikel erscheint die nächste Eloge:

„Wenn Prof. Theo Kölzer die Lupe zur Hand nimmt, fangen Kollegen und Geschichtslehrer an zu zittern. Denn der Bonner Historiker deckt gnadenlos auf, was jahrhundertelang verborgen blieb […] Dem Bonner Forscher entgehen weder gefälschte Datumszeilen noch manipulierte Unterschriften […] Bereits seit der Studienzeit ist der Historiker den schwindelnden Mönchen auf der Spur. »Man will einfach schlauer sein als der Fälscher« […] Benzo, Abt des Trierer Klosters Maximin, galt als Star der Branche. Überall in der Republik tauchen von ihm gefälschte Dokumente auf. »Jetzt ist er überführt« [Becker; vgl. dazu Illig 1998, 462 f.].

So ist die Gleichsetzung des früher unbeliebten Fälschungsaufdeckers mit dem alles aufklärenden und deshalb so beliebten Fernseh-Kommissar gelun gen. Wallander ermittelt seit 1991, Guido Brunetti seit 1993, Beck im TV seit 1997. Und genauso unkonventionell können die Methoden sein. Nach Kölzers eigener Darstellung versuche der Fälscher, eine jahrhundertealte Schriftart nachzuahmen. Irgendwann ermüde er und schreibe eine zeitgenössische Buchstabenform – und schon ist das Falsifikat entdeckt. Anders formuliert: Bleibt der Fälscher konzentriert, bemerkt dann Kölzer nichts? [vgl. Geiser]
Nur wenige Jahre später wollte Johannes Fried eine ganz neue Wissenschaft entwickeln, die sog. Memorik [Fried 2004]. Das demonstriert die Selbstbezogenheit der Historiker, denen Sigmund Freud, seine Traumdeutung seit 1900 und die Entwicklung der Psychoanalyse entgangen sind: Wir sind nicht Herr im eigenen Haus, sondern in uns liegen Es, Ich und Über-Ich im Streit, häufig dominiert das Unterbewusste. Die Memorik leistet nicht mehr, sondern überträgt nur diese Erkenntnisse in die Sprache der Mediävisten. Ganz Freud-los, im Überschwang feuernder Neuronen nagelte Fried an die Tore der historischen Wissenschaft mit hallenden Schlägen eine These, die der oben zitierten von Lopez sehr ähnlich ist:

„Historische Forschung muß, soweit sie auf erzählende Quellen angewiesen ist, vordringlich Gedächtniskritik betreiben. Das neue Fundament, auf dem künftiges Forschen aufruhen muß, heißt erinnerungskritische Skepsis und verlangt eine ‹Memorik›, die ihr gerecht wird: Alles, was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipiell als falsch zu gelten. Keine Rhetorik, kein erinnerungsgläubiges Sich-Klammern an das Renommee eines Erzählers, an in die Erinnerungen eingestreute allgemein bekannte, gut bezeugte, korrekte Einzelheiten, die derselbe vielleicht anzuführen in der Lage ist, an irgendwelche Instrumentalisierungen vermögen dies zu verhindern. Wer das nicht oder zu wenig beachtet, täuscht sich selbst und andere“ [Fried, 48; seine Hvhg.].

Ein knappes Jahrzehnt später mochte Fried [2013] bei Darstellung Karls des Großen sein eigenes Memorik-Buch nicht mehr unter den Quellen aufführen. Das Scheitern seiner Thesen ist von mir [Illig 2004, 635-644], mittlerweile auch von seinen Kollegen formuliert worden (s. S. 704 ff.).

Gegenwart

Noch immer hat die Urkunde Gewicht, wenn auch vielleicht nicht mehr in Deutschland, doch auf jeden Fall im Griechenland der Jahre 2008 und 2011. Es geht um Abt Ephraim des Athos-Klosters Vatopedi:

„Der Fall ist ein Paradebeispiel für die grassierende Korruption, die Griechenland in den Ruin getrieben hat. Der Abt war an einem Landtausch mit der Regierung beteiligt, der dem 1000 Jahre alten Kloster Vatopedi große Vorteile einbrachte. Ein Ermittlungsrichter schätzte diesen finanziellen Vorteil auf mehr als 100 Millionen Euro.
Der Immobilienskandal hatte im Herbst 2008 die Regierung der Nea Dimokratia unter Ministerpräsident Kostas Karamanlis erschüttert. Dabei drehte es sich um den Vistonida-See, der dem Kloster vor hunderten von Jahren von den byzantinischen Kaisern vermacht worden sein soll. Die Echtheit der Schenkungsurkunde aus dem 14. Jahrhundert wurde aber stets angezweifelt.“ [t-online; Hvhg. HI]

Für den wertlosen See mit seinen Ufergrundstücken erhielt das Kloster

„im Jahr 2005 insgesamt 260 wertvolle Grundstücke in touristisch entwickelten Gebieten, unter anderem im Olympiadorf in Athen. Diese Filet-Grundstücke wurden profitabel weiterverkauft. Die See-Grundstücke sollen dabei krass über- und die staatlichen Grundstücke stark unterbewertet gewesen sein. […]
Der Fall hatte die konservative Regierung, die von 2004 bis 2009 im Amt war, in Misskredit gebracht, drei Minister traten deswegen zurück. Auch zwei Staatsanwälte legten ihr Mandat nieder, weil sie nach eigenen Angaben in den Ermittlungen behindert wurden.“ [t-online]
„Am 25. Dezember 2011 wurde der Archimandrit von der griechischen Polizei festgenommen; wenige Tage später wurde er in das Hochsicherheitsgefängnis Korydallos bei Athen gebracht. Am 30. März 2012 wurde er nach Hinterlegung einer Kaution entlassen und kehrte in das Kloster zurück“ [wiki / Vatopedi].
„Der Abt bleibe vorläufig unter Bewachung in seiner Klosterzelle, erklärte nun die Polizei. Der Geistliche macht gesundheitliche Probleme geltend. Dem Abt soll mit 31 weiteren Angeklagten der Prozess gemacht werden.
Nicht vor Gericht werden hingegen die in den Skandal verwickelten Minister erscheinen: Das griechische Parlament hatte im Februar entschieden, dass die Verjährungsfrist für die Politiker abgelaufen sei“ [t-online].

Seitdem verschleppt sich die Anklage gegen den ehemaligen Abt des wohl reichsten Athos-Klosters. Doch am 10. Januar 2014 fiel erstmals ein Urteil: Ein Journalist, der als erster über den Skandal berichtet hatte, wurde zu einer Strafzahlung an das Kloster verurteilt, weil sein Artikel auch Unwahrheiten enthalten habe [pravoslavie] ….

Nachtrag zu Urkundenzeugen

„Urkunden, die nicht von Kaisern oder Königen herrührten, hatten damals keine Beweiskraft an sich, sondern dienten nur dazu, den Zeugenbeweis zu erleichtern. Waren die Zeugen tot, so besaßen diese Dokumente nur noch historischen Wert. Das war weitere 100 Jahre später, also um 1150, doch schon erheblich anders“ [Erich Wisplinghoff, III:60].

Diese erstaunliche Aussage erinnerte den Autor an die Traditionen des Hochstifts Freising, die 1905/09 Theodor Bitterauf mustergültig – 365 Seiten Register! – herausgegeben hat und die heute im Internet einsehbar sind. Diese Traditionen sind Abschriften von nicht mehr erhaltenen Urkunden, mit denen zumeist Schenkungen für das Hochstift verbrieft worden sind. Betrachten wir als Beispiel die Urkunde Nr. 516 der Traditionen des Hochstifts Freising [Bitterauf, 439-441]. Sie war für den Autor insofern von Interesse, weil nur hier der Name Crauuolf (Crawolf) auftaucht, von dem man – mit erheblicher Mühe – den Ortsnamen Gräfelfing herleiten will, weil er wie alle anderen -ing-Orte von einem Personennamen abzustammen hat, aber kein passender bekannt ist. Der festgehaltene ‘Kataster-Vorgang’ selbst ist einigermaßen belanglos, bestehen doch Weiher wie Lappach auch heute nur aus wenigen Häusern:

„516. a) Der Kleriker Pirhtilo übergibt seinen Besitz zu Weiher mitsamt vier Unfreien gegen ein Lehen zu Aschau. b) Derselbe und seine Verwandten Uualtheid übergeben Besitz in Lappach. Isen 825 März 26.“ [Bitterauf, I:439].

An (ausschließlich männlichen) Zeugen wurde eine ganze Heerschar aufgeboten: Engilhart, Liutprant, Sigiperht, Priso, Sigipald, Aaron, Uro, Kiso, Hartnid, Sigiprand, Meginrat, Uuarmunt, Drudmunt, Drudolt, Durinc, Eparheri, Hrodhoh, Reginheri, Mahtperht, Snelhart, Kepahoh, Gauuo, Tuto, Adalperht, Hatto, Uuilliheri, Irminfrid, Eigil, Einhardt, Reginhart, Sigiuuart, Sigiholt, Engilfrid, Pezzi, Uuolfpehrt, Liutker, Ellanperht, Arpeo, Rimideo, Petto, Ellanhart, ein anderer Petto, Irminhart, Deotheri. So geschehen unter Bischof Hitto, geschrieben von dem unwürdigen Diakon Undeo. Als das Schriftstück von dem Schenker Pirhtilo in Uuiuuare (Weiher) präsentiert wird, stehen weitere Zeugen bereit: Aaron, Irminfrid, Meginrat, Hartnid, Drudolt, Heriperht, Horscolf, Cundperht, Madalheri, Elit, Ascrih. Desgleichen in Freising für Nr. 516 a: Plidolf, Adalrat, Uuillikis, Erchanpald, Crauuolf, Ratcund, Seopurc, Uuillapurc, Kerleip und Adalleip.

Für diese Banalität hätten demnach 2 Schenkende, 2 Geistliche und weitere 65 Personen gezeugt. Warum dieses Schock an Zeugen? Und noch wichtiger: Warum hat man eine solche Urkunde überhaupt wieder abgeschrieben, wenn sie nach dem Tod der Zeugen ohnehin wertlos wurde? Das geschah nicht nur durch den Kanzleileiter Cozroh ab 824, sondern auch noch durch Conradus Sacrista ab 1187. So bleiben Urkunden und ihre Fälschungen weiterhin ein Geheimnis, wenn man nicht gutgläubig das Entstehen des Riesenkonvoluts einfach aus archivalischem Berufsethos und Ehrgeiz herleitet.

Und noch ein Nachtrag: Den Namen Cozroh habe ich in Parallele gestellt zu dem persischen Königsnamen Chosrau [Illig 2013, 43], was mir in mündlichen Diskussionen in Gräfelfing als völlig unpassend für einen Mönch ange kreidet worden ist. Herausgeber Bitterauf beharrt bei einer noch deutlich unpassenderen Bedeutung:

„Der Name Cozrohs bedeutet nach Roth, Renner p. 42 der um seinen Gusssamen besorgte, während Zahn die mir unverständliche Erklärung: vir disertus bietet“ [Bitterauf, Einleitung, XX].

Disertus stünde für ‘redegewandt’ oder ‘bestimmt’, was aber vom Spezialisten zugunsten der ersten Bedeutung zurückgewiesen wird. Verstehe einer Mönche und Mediävisten…

Literatur

Bethmann, Carl Ludwig (1877): Die Evangelienhandschrift zu Cividale; Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 2, 111-128
Bitterauf, Theodor (1905): Die Traditionen des Hochstifts Freising. I. Band (744 – 926); Rieger, München
– (1909): ibid. Zweiter Band (926–1283); Rieger, München
Boecker, Alexander (1998): Theo Kölzer untersucht Urkunden der alten Könige. Bonner überführt Fälscher aus dem Mittelalter; Bonn Express, 14. 07.
Deschner, Karlheinz (1994): Kriminalgeschichte des Christentums · Vierter Band · Frühmittelalter · Von König Chlodwig I. (um 500) bis zum Tode Karls des Großen (814); Rowohlt, Reinbek
Erkens, Franz-Reiner (2001): Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes Leipzig 15. – 18. März 1999; Akademie Vlg, Berlin
Fried, Johannes (2013): Karl der Große · Gewalt und Glaube; Beck, München
– (2004): Der Schleier der Erinnerung · Grundzüge einer historischen Memorik; Beck, München
Fuhrmann, Horst (2004): Einladung ins Mittelalter; Beck, München (11987)
– (Hg. 1988): Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München 16. – 19. September 1986; Hahn, Hannover
Bd. 1: Kongreßdaten und Festvorträge. Literatur und Fälschung; 780 S.
Bd. 2: Gefälschte Rechtstexte. Der bestrafte Fälscher; 748 S.
Bd. 3: Diplomatische Fälschungen (I); 726 S.
Bd. 4: Diplomatische Fälschungen (II); 724 S.
Bd. 5: Fingierte Briefe · Frömmigkeit und Fälschung · Realienfälschungen; 752 S.
Bd. 6: Register; 215 S.
Geiser, Remigius (1999): Fried baut seinen Fluchtweg weiter aus; Zeitensprünge 11 (3) 528 f.
Historisches Ortslexikon (in: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen) http://lagis.online.uni-marburg.de/de/subjects/idrec/sn/ol
Illig, Heribert (2013): Gräfelfing & Pasing 1250 Jahre? Mantis, Gräfelfing
– (2011): Capitulare de villis als Verwaltungsorgie. Eine Betrachtung; Zeitensprünge 23 (2) 295-304
– (2004): Siebigs’ Fund und Fried ohne Freud. Aktuelles zur Frühmittelalterdebatte und mehr; Zeitensprünge 16 (3) 625-652
– (1998): „Vor einem Abgrund an Falsifikaten“ · Mediävistische Schwindelgefühle; Zeitensprünge 10 (3) 461-465
Illig, Heribert / Anwander, Gerhard (2002): Bayern und die Phantomzeit · Archäologie widerlegt Urkunden des frühen Mittelalters; Mantis, Gräfelfing
Kölzer, Theo (1997): Brief statt Kritik; Ethik und Sozialwissenschaften VIII (4) 491
Koller, Heinrich (1974): Die königliche Klosterpolitik im Südosten des Reiches, Archiv für Diplomatik, 20, 8 ff.
Le Goff, Jacques (2004): Die Geburt Europas im Mittelalter; WBG, Darmstadt
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