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von Fabian Fritzsche

Im Jahre 1991 stellte Heribert Illig zum ersten Mal die These auf, im frühen Mittelalter gäbe es eine Leerzeit [Illig 1991a], eine Phantomzeit, die nicht durch Funde belegt ist und somit aus der realen Geschichte zu streichen sei. In der Folgezeit präzisierte er seine These und legte sich als Arbeitshypothese auf den Zeitraum von August 614 bis September 911 fest [Illig 1992a]. Dieser zentrale Zeitraum umfasst neben einem Teil der Merowingerherrschaft über das Frankenreich fast die gesamte Karolingerzeit einschließlich des Leuchtturms Europas: “Karl der Große”.

Diese Phantomzeit unterscheidet sich von anderen “Dark Ages” qualitativ. Während die u.a. von Velikovsky entdeckten Leerzeiten in Ägypten und die von Heinsohn erkannten in Mesopotamien und andernorts erst durch neuzeitliche Forscher verursacht wurden und lediglich auf falsche Synchronismen zurückzuführen sind, ist die frühmittelalterliche Phantomzeit auf aktive Handlungen von Personen im Mittelalter selbst zurückzuführen. Sie ist entstanden durch eine Manipulation der Zeitrechung. Als mögliche Täter wurden der byzantinische Kaiser Konstantin VII. (906-959) [Illig 1991b und 1992 b] oder der abendländische Kaiser Otto III. (980-1002) in Verbindung mit seinem Freund und Lehrer Papst Silvester II gesehen [Illig 1991c]. Auch der Islam wurde schon verdächtigt [Beaufort 2002], jedoch ohne dass bessere Belege beigebracht wurden als für die beiden zuvor genannten Täterkreise [Illig 2003].

Nachdem 1991 drei kurze Artikel in Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart die These einem kleinen Kreis vorstellten, erschien 1992 das noch recht dünne Buch “Karl der Fiktive, genannt Karl der Große”. Doch erst durch das Erscheinen von “Das erfundene Mittelalter” 1996 erreichte die These Aufmerksamkeit in weiten Kreisen. Begleitend gab es Artikel zu diesem Thema in jedem Heft von Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart bzw. Zeitensprünge seit 1991. Außerdem sind mittlerweile mehrere Bücher dazu erschienen, welche die These vertiefen und Spezialprobleme behandeln.

Ausgangspunkt der Überlegungen waren so genannte “antizipatorische Fälschungen” im Mittelalter, die eine chronologische Verwerfung vermuten ließen (siehe unten). Wesentlicher Prüfstein der These war zunächst die christliche Zeitrechnung, besonders die Kalenderreform von 1582. Um den Fehler zu korrigieren, der seit der Einführung des julianischen Kalenders aufgelaufen war, hätten 13 Tage übersprungen werden müssen. Doch es wurden nur 10 Tage ausgelassen, die restlichen 3 Tage aber entsprechen einem aufgelaufenen Fehler von 256 bis 384 Jahren. Gegner der Phantomzeitthese wenden ein, dass lediglich der seit dem Konzil von Nicäa 325 n. Chr. aufgelaufene Fehler korrigiert werden sollte. Tatsächlich kommt man rein rechnerisch bei lediglich 10 Korrekturtagen auf das 4. Jahrhundert. Allerdings wird das Argument dadurch nicht entkräftet. Denn erstens wissen die Konzilsakten nichts von einer Neufestlegung des kalendarischen Frühlingspunktes. Und zweitens fällt der Frühlingsanfang bekanntermaßen seit der gregorianischen Kalenderreform auf den 21. März und damit der Herbstanfang auf den 23. September. Mit großer Wahrscheinlichkeit wissen wir aber, dass der erste römische Kaiser Augustus nicht nur am 23. September Geburtstag hatte, sondern dass dies auch der Tag der Herbstäquinoktie war – genau wie heute. Aufgrund des Fehlers des julianischen Kalenders kann aber nun nicht im Jahre 325 die Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche ebenfalls auf dieses Datum gefallen sein. Wenn also 1582 durch das Überspringen von 10 Tagen die gleiche astronomische Situation hergestellt wurde wie zur Zeitenwende, bedeutet dies, dass nicht ca. 1600 Jahre, sondern eben lediglich ca. 1300 Jahre seitdem vergangen sind.

Der Kalender ließ also eine Einfügung von mehreren Jahrhunderten durchaus zu. Aber wo genau? Anzusetzen war bei den oben erwähnten “antizipatorischen Fälschungen” [Niemitz 1991]. Im frühen Mittelalter sollen demnach zahlreiche Fälschungen entstanden sein, die erst Jahrhunderte später Wirkung gezeigt hätten. Die Fälscher hätten also gar nicht die Absicht gehabt, sofort Nutzen aus ihrer Arbeit zu ziehen. Vielmehr hätten sie zielsicher Jahrhunderte voraus geblickt. In späterer Zeit hätte man diese “prophetischen” Urkunden dann gefunden und ihren Nutzen erkannt. Doch im Gegensatz zur konventionellen Forschung glaubten H. Illig und H.-U. Niemitz nicht an hellseherische Fälscher, sondern sahen die Ursache vielmehr in einer falschen Chronologie, die Ursache und Wirkung künstlich auseinander zieht.

Das frühe Mittelalter wurde daher schnell Zielpunkt der weiteren Untersuchungen [Illig 1992a]. Diese Epoche, die grob die Jahre 500 bis 1000 n. Chr. umfasst, wird von den Historikern ohnehin als “dark age” bezeichnet [Illig/Niemitz 1991]. Im Gegensatz zur Zeit davor, also der römischen Kaiserzeit, und der Zeit danach, dem Hochmittelalter, ist unser Wissen über diese Zeit aufgrund der raren Quellen und seltenen Funde überaus mager.

Wichtigstes Kriterium, eine Phantomzeit festzustellen, bildet aber die Fundsituation. G. Heinsohn propagiert schon lange eine evidenzorientierte Forschung, die sich mit Vorrang an archäologischen Funden und nicht an Schriftquellen orientiert. Menschen hinterlassen dort, wo sie leben, Spuren, von denen einige die Jahrhunderte oder auch Jahrtausende überdauern können. Finden sich für eine Epoche keinerlei Funde, obwohl in den Schriften von dieser Zeit die Rede ist, so muss die gesamte Epoche zur Disposition gestellt werden. Denn bekanntermaßen ist Papier geduldig und auch Schriftstücke lassen sich sehr leicht fälschen, wie tausende von anerkannterweise gefälschten Urkunden aus dem Mittelalter belegen. Kirchen, Klöster und andere Bauten und Artefakte lassen sich dagegen nur bedingt fälschen (z. B. durch eine nachträgliche Inschrift oder eben durch gefälschte Urkunden).

Seit der erstmaligen Formulierung der These wurde bislang erfolglos versucht, für verschiedene Orte und Regionen Funde in der fraglichen Zeit wirklich eindeutig zu belegen. Immer wieder zeigte sich, dass der Phantomzeit zugeordnete Funde genauso in der Zeit kurz davor oder kurz danach datiert werden können und oftmals auch wurden. Eine Datierung in die Phantomzeit bzw. eine spätere Verlagerung in diese Zeit entspricht wohl eher dem Bedürfnis, die fundleere Zeit mit Artefakten zu füllen. Die wohl umfassendste Studie haben Illig und Anwander 2002 für Bayern vorgelegt. Auch wenn diese Arbeit pars pro toto für ganz Europa stehen kann, bleiben noch Problemfelder übrig. So ist die chronologische Stellung des Islam bislang noch nicht abschließend geklärt, die mit Europa synchronisierten außer-europäischen Kulturen wurden erst partiell berücksichtigt.

Eines der bisher letzten Werke in der Reihe “Edition frühes Mittelalter” stammt von K. Weissgerber und behandelt die Landnahme der Ungarn im Karpartenbecken. Neben den archäologischen Belegen sprechen hier sogar die Schriftquellen eindeutig für die These. So datieren zeitgenössische Quellen die Landnahme einmal ins Jahr 600 n. Chr., ein andern mal ins Jahr 898 n. Chr., was also einer Differenz von 298 Jahren entspricht. Konventionelle Forschung muss dies der Dummheit frühmittelalterlicher Geschichtsschreiber zuschreiben – oder sie ignoriert das Problem einfach. Mit der Phantomzeitthese dagegen kann die Diskrepanz problemlos erklärt werden.

Wie bei der ungarischen Landnahme wirkt sich die These aber auch auf vielen weiteren Gebieten sehr fruchtbar aus. So kann der Streit zwischen den Historikern, die eine Kontinuität in der Städten zwischen Antike und Mittelalter annehmen, und denen, die einer Diskontinuität den Vorrang geben, geschlichtet werden [Niemitz 1992]. Die 297 Jahre konventioneller Zeitrechnung bleiben fundleer, was bisher für Diskontinuität sprach. Andererseits gibt es auch eindeutige Zeichen für Kontinuität. Berücksichtigt man die Phamtomzeit, haben beide Gruppen Recht.

Literatur

Beaufort, J. (2002): Dreißig Fragen zur Phantomzeittheorie
Illig, H. (1991a): Die christliche Zeitrechnung ist zu lang, in: ZS 1
Illig, H. (1991b): Fälschung im Namen Konstantins, in: ZS 2
Illig, H. (1991c): Väter einer neuen Zeitrechnung: Otto III. und Silvester II., in ZS 3/4
Illig, H., Niemitz, H.-U.: Hat das dunkle Mittelalter nie existiert?, in ZS 1
Illig, H. (1992a): 614/911 – der direkte Übergang vom 7. ins 10. Jahrhundert, in: ZS 4/5
Illig, H. (1992b): Vom Erzfälscher Konstantin VII. Eine ‘beglaubigte’ Fälschungsaktion und ihre Folgen, in: ZS 4/5
Illig, H. (1992): Karl der Fiktive, genannt Karl der Große, Gräfeling
Illig, H. (1996): Das erfundene Mittelalter, Düsseldorf
Illig, H. (2003): Zum Zeitsprung bei Christen und Moslems, in: ZS 3
Illig, H., Anwander, G. (2002): Bayern und die Phantomzeit, 2 Bände, Gräfeling
Niemitz, H.-U. (1991): Fälschungen im Mittelalter, in ZS 1
Niemitz, H.-U. (1992): Archäologie und Kontinuität. Gab es Städte zwischen Spätantike und Mittelalter?, in: ZS 3
Weissgerber, K. (2003): Ungarns eigentliche Frühgeschichte. Arpad eroberte schon um 600 das Kapartenbecken, Gräfeling