von Martin Ebner (erschienen 2004 im “Letzebuerger Land”)

Freispruch mangels Beweisen? Für Wikinger-Züge ins Rheinland gibt es keine Belege

Mal metsaufende Raufbolde mit Hörnerhelmen, mal wagemutige Entdecker: das Image der Wikinger ändert sich ab und zu. Mit dem Rheinland werden die skandinavischen Seeräuber des Mittelalters bisher kaum in Verbindung gebracht. Das soll sich jetzt aber ändern: Das Rheinische Landesmuseum, die Universität Bonn und Museen in Holland und Dänemark stellen die Ergebnisse “jüngster Forschungen” vor. Sie beleuchten mit einer Ausstellung samt Begleitbuch “erstmals die unruhige Zeit zwischen 800 und 1000 in einem der am heftigsten durch Wikingereinfälle gebeutelten Landstriche Europas, am Rhein. Köln, Bonn, Aachen, Neuss, Utrecht und Lüttich, ja sogar die Abtei Prüm in der Eifel fielen den Plünderzügen der Nordmänner zum Opfer”.

Mit der jüngsten Forschung ist das allerdings so eine Sache. In Deutschland hat sie nichts gefunden. Obwohl die Vorfahren der Dänen in den Jahren 881ff. von Xanten bis Trier ein ganzes Dutzend Städte und Klöster in Schutt und Asche gelegt haben sollen, muss der Ausstellungskatalog kleinlaut einräumen: Die Wikinger haben “an den deutschen Flussläufen von Rhein und Mosel keine Hinterlassenschaften zurückgelassen, und keine Ausgrabungen haben sich bislang direkt und unzweifelhaft mit den Wikingerüberfällen verbinden lassen”. Das sei aber “wohl nur Zufall”, vermuten die Ausstellungsmacher. Vielleicht, weil die Normannen nur kurz da waren: “Die Geschichten von diesen Männern haben sich im Rheinland erhalten, nichts aber von den Waffen und sonstigen Gegenständen des täglichen Bedarfs, die man sonst mit Siedlungsfunden verbindet.” Vielleicht waren die Piraten auch einfach nur schlecht drauf: “Der Mangel an Artefakten hat auch mit ihrer Einstellung im Rahmen der Plünderungszüge zu tun: “Sie kamen, um zu nehmen und nicht, um zu geben.'”

Im benachbarten Holland haben die Archäologen etwas mehr als nichts ausgegraben. Der “Wikingerschatz” von Wieringen zum Beispiel besteht aus arabischen und karolingischen Münzen und einem Topf aus dem Raum Köln. Ferner wurden in der angeblich zwei Jahrhunderte lang heftig umkämpften Gegend sage und schreibe neun “Wikingerschwerter” gefunden: Die Klingen sind fränkisch, aber die – mittlerweile weitgehend weggefaulten – Griffe wurden von Experten als “skandinavisch” erkannt. In der Stadt Zutphen wurde eine Brandschicht aus dem 9. Jahrhundert entdeckt, was “erstmals auf dem europäischen Kontinent eine Plünderung durch die Wikinger” belege. Leider verraten uns die Fachleute aber nicht, was an verkohlten holländischen Holz- und Getreideresten “wikingisch” sein soll.

Dorestad bei Utrecht war einmal eine reiche Handelsstadt. “Dass die Wikinger Dorestad überfielen, überrascht denn auch kaum”, finden die Ausstellungsmacher. “Erstaunlich hingegen ist, dass die Angreifer fast jedes Jahr wiederkamen. Allein zwischen 834 und 837 wurde Dorestad viermal zerstört und viermal erholte sich die Stadt innerhalb kurzer Zeit (während des Winters) und war so weit wieder hergestellt, dass sie für die Wikinger erneut eine lohnende Beute darstellte.” Erstaunlich ist vor allem, dass man so etwas in einen Katalog schreiben kann, ohne auf die Idee zu kommen, dass daran etwas faul sein könnte. Zumindest ist verwunderlich, dass nichts über etwaige Brandschichten oder Waffenreste in Dorestad, einer der größten archäologischen Ausgrabungen des 20. Jahrhunderts, zu erfahren ist.

Abgesehen von holländischen Funden zeigt die Ausstellung vor allem Objekte aus Dänemark und Schweden, verbunden mit der Aufforderung, man möge sich die Aktivitäten der Invasoren im Rheinland so ähnlich wie in Skandinavien vorstellen. Zum Beispiel ihren den Franken “haushoch überlegenen” Schiffbau: “Wir wissen zwar nicht, welche die üblichsten Bootstypen waren, mit denen die Wikinger auf dem Rhein operierten, aber es werden wohl die kleineren (und somit finanzierbareren) Typen von Kriegsschiffen gewesen sein.” Warum nicht billige Indianer-Kanus? Von denen hat man am Rhein auch nichts gefunden.

Der einzige Beleg für Wikinger im Rheinland sind und bleiben also die Chroniken des Mittelalters, die über blutrünstige Banditen aus dem Norden jammern. Kein frommer Museumsbesucher wird an der Glaubwürdigkeit ihrer Verfasser zweifeln: Kleriker, die stolz auf den Besitz der “Sandale Christi” sind (im Kloster Prüm) und zuweilen auch von feuerspeienden Drachen berichten. Aber ob man mit solchen Zeugen vor Gericht durchkommt?

Die Bonner Ausstellung und ihr Katalog sind außerordentlich interessant und witzig. Jedenfalls, wenn man ein gesundes Mißtrauen mitbringt und dazu die Wikinger-Kapitel in den Büchern von Heribert Illig liest. Der Münchner Historiker vertritt die Auffassung, die “Phantomzeit” von 614 bis 911 habe es nur auf Urkundenpapier, nie aber in Wirklichkeit gegeben. Ergo auch keine handfesten Spuren von blutrünstigen Hörnerhelmträgern im Frühmittelalter: “Wilde Berserker mit Samthandschuhen? Ein Volk von Kriegern, das nach jedem Angriff seine Pfeilspitzen wieder einsammelte, seine Gefallenen wieder in die Boote packte und den Ort der Verwüstung ‘besenrein’ zurückließ?” Man wird ja mal fragen dürfen.


“Wikinger am Rhein”: bis 17. Oktober im Rheinischen Landesmuseum Bonn, Di – So 10 bis 18 Uhr, Mi – Fr bis 21 Uhr. Danach im Centraal Museum in Utrecht und im Wikingermuseum im dänischen Roskilde. Katalog von Annemarieke Willemsen: “Wikinger am Rhein 800-1000”, Theiss Verlag Stuttgart 2004, 192 Seiten, 24,90 Euro (auf Englisch unter dem Titel “Vikings! Raids in the Rhine/Meuse region” und auf Holländisch als “Vikingen! Overvallen in het stroomgebied van Rijn en Maas” erschienen).


Heribert Illigs Bücher “Das erfundene Mittelalter” und “Wer hat an der Uhr gedreht?” sind in verschiedenen Auflagen erschienen: http://www.mantis-verlag.de/