Frühmittelalterliche Phantomzeit auf schwebenden Fundamenten

von Heribert Illig (aus der österreichischen “GEGENWART” 4/96)

Den Vorhang zu und alle Fragen offen? So verabschiedete sich der Verfasser zwar in seinem Artikel in der GEGENWART 28, aber SO einfach gab sich die Leserschaft damit nicht zufrieden. Die Redaktion bekam einen ganzen Sack voller Fragen, Zweifel und Kritiken in den Flur gestellt. Am häufigsten tauchte darin die Frage auf, wie sich ein um fast 300 Jahre gekürztes europäisches Mittelalter mit der Zeitrechnung anderer Länder und Völker vertragen solle.

Bevor wir uns der Synchronisierung “ringsum” widmen, wird die These noch einmal knapp wiederholt: Etliche Jahrhunderte des frühen Mittelalters bezeichnen die historischen Wissenschaften mit dem Attribut “dunkel”. Damit wird kein moralischer Verfall angesprochen, sondern die Tatsache, daß uns von diesen Jahrhunderten beunruhigend wenig bekannt ist. Weder gibt es greifbare Hinterlassenschaften in einer Menge, wie man sie mit Fug und Recht erwarten dürfte, noch existieren ausreichende zeitgenössische Quellen und Berichte. Zu allem Überdruß stammen diese wenigen Quellen häufig gar nicht aus diesen Zeiten selbst, sondern sind erst (viel) später geschrieben worden. Obwohl nun die Historiker seit zwei Jahrhunderten versuchen, diese Dunkelzeiten zu erhellen, verbleiben weite Bereiche in sehr tristem Dämmerlicht.

Der Verfasser löst dieses Dilemma und viele immanenten Widersprüche mit der provokanten These, daß ein ganzes Zeitalter niemals stattgefunden hat, nämlich die Zeit zwischen 614 und 911. Diese Phantomzeit ist erst später zwischen reale Zeiten eingeschoben worden, weshalb sie zwangsläufig keine realen Zeugnisse hinterlassen hahen kann. Wenn ihr gleichwohl Artefakte zugeschrieben werden, dann sind diese aus anderen Zeiten eingeschleust worden und müssen an diese wieder zurückgegeben werden. Das ist beispielgebend an dem berühmtesten Bauwerk des frühen Mittelalters, der Aachener Pfalzkapelle, gezeigt worden: Wegen zahlreicher anachronistischer Bauteile kann sie niemals einem 8. Jahrhundert entstammen und niemals von einem Karl dem Großen gebaut worden sein. Historische Gestalten dieser drei Phantom-Jahrhunderte sind entweder spätere Erfindungen – wie Karl der Große – oder wurden in diese Zeit verpflanzt, wie etwa die Werke des allzu frühen Scholastikers Duns Scotus Eriugena oder des allzu frühen Historikers Beda Venerabilis, der uns hier gleich beschäftigen wird. So wurden – unter Hilfestellung inshesondere von Hans-Ulrich Niemitz, Uwe Topper und Manfred Zeller – diese drei Jahrhunderte “ausgekehrt” oder “evakuiert”, worauf die Zeit vor 615 direkt in die Zeit nach 910 übergeht.

Es wurde auch geschildert, daß mit Kaiser Konstantin VII. und dem Duo Kaiser Otto III. und Papst Silvester II. Protagonisten gefunden sind, die zweierlei veranlassen konnten: das Vordrehen der Uhr um 300 Jahre und das anschließende Füllen der frisch geschaffenen Lücke nach eigenen Wünschen. So ist Karl der Große sicher von Otto Ill. kreiert worden, der einen Renommierahnen erster Güte wollte. Die Streitigkeiten zwischen Kaisern und Päpsten des 11. bis 13. Jahrhunderts – Stichwort Investiturstreit – führten dazu, daß dieser Popanz in immer prächtigeren Farben ausgemalt wurde, um schließlich von Friedrich Barbarossa unter die Heiligen eingereiht zu werden.

Ein Kaiser als Lückenbüßer, ein anderer Kaiser als Lückenreißer – all das geschah nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Europa, das innerhalb der Alten Welt keineswegs eine Isolierstation bildete. Es führte – wie gewohnt – Kriege mit seinen Nachbarn, damals vor allem mit den Arabern, und hatte Handelsbeziehungen bis zum afghanischen Hindukusch, dessen Lapislazuli aus irischen Handschriften leuchten. Weil auch im Süden und Osten Zeitrechnung betrieben wurde, sollte es hier möglich sein, eine derartige Phantomzeit zu bestätigen oder zu widerlegen. Bevor wir die dortigen Epochenrechnungen prüfen, lassen wir Licht auf die uns allen vertraute christliche Zeitrechnung fallen.

Die Zeitrechnung “nach Christi Geburt”

Die Frage, wann sie eingeführt wurde, ist leichter gestellt als beantwortet. Ein Mönch namens Dionysius Exiguus datierte im Jahre 525 seine Osterterminberechnungen als erster “nach Christi Geburt”, weil ihn gestört haben soll, daß er mit der damals üblichen Diokletiansära (oder Märtyrerära) ausgerechnet einem Christenverfolger die Ehre gäbe. Aber dieser Wechsel des Bezugspunktes beeindruckte in seinem Jahrhundert keinen Menschen. Niemand benutzte seine neue “Epoche”, wie der Startpunkt einer Zeitrechnung von den Spezialisten bezeichnet wird.

Erst Beda Venerabilis, ein englischer Benediktiner (ca. 672–735), benutzte diese Datierungsmethode in seiner Kirchengeschichte des englischen Volkes und gebrauchte sie erstmals auch für Ereignisse vor Christi Geburt, doch das war anno 731 und damit zwei Jahrhunderte später. An ihm orientierten sich die karolingischen Chronisten und Notare, so daß wir in Urkunden des 8. und 9. Jahrhunderts öfters auf Daten n. Chr. stoßen. Im 10. Jh. läßt die Lust daran deutlich nach, um sich erst zur und vor allem nach der Jahrtausendwende über Europa zu verbreiten. So weit reicht das herrschende Wissen.

Nun wurde Beda von dem Astronomen Robert R. Newton 1972 dabei ertappt, daß er in einem seiner Werke die Null benutzt hat. Beda selbst empfand den Gebrauch der Null nicht als sensationell, denn er schrieb so, als ob er die Kenntnis dieser speziellen Zahl und Ziffer bei seinen Lesern voraussetzen könne. Nun ist die indische Null aber erst Ende des 11. oder Anfang des 12. Jahrhunderts über das maurische Spanien nach Europa gelangt, um 1203 Eingang in die Lehrbücher zu finden (liber abaci von Fibonacci). Waren Beda und sein Leserzirkel den übrigen Europäern um 400 oder noch mehr Jahre voraus?

In der herrschenden Historie konnte Newtons Problem in den letzten 24 Jahren nicht beantwortet werden. Stimmt meine These, kann Beda nicht im 7.-8. Jahrhundert gelebt haben, da es diese Zeit ohnehin nicht gegeben hat. Deshalb muß Beda in eine andere, reale Zeit verbracht werden, am besten in eine, die seinem Wissen entspricht. Die Verwendung der Null verlangt das 12. Jahrhundert. Dazu paßt Bedas Einschätzung durch Olaf Petersen, daß “kein wissenschaftliches Werk vergleichbaren Wertes in der lateinisch schreibenden Welt vor Beginn des 13. Jahrhunderts erschienen ist”. So können wir sinnstiftend postulieren, daß die unter Bedas Namen kursierenden Schriften in Wahrheit aus dem 12. Jahrhundert stammen.

Die ebenfalls “nach Christi” datierten “karolingischen” Urkunden müssen nicht mehr von Beda beeinflußt sein, können aber mit Fug und Recht erst aus der Zeit nach 1000 stammen, als diese Datierungsart sich verbreitet hat.

Damit gewinnen wir eine Erklärung für einen ansonsten nicht leicht verständlichen Vorgang. Wer meine Theorie prüft, muß fragen, wie ein Kaiser Otto III. die Uhr um 300 Jahre vordrehen konnte, ohne daß irgend jemand den heilsgeschichtlichen Schwindel kritisch kommentiert hätte. Wenn Otto beim Vordatieren den Bezugspunkt, die Epoche gewechselt hat, dann war dieser Epochenwechsel – im doppelten Sinne des Wortes – nur noch für ausgesprochene Spezialisten erkennbar. Diese wenigen Kenner waren allesamt in der Geistlichkeit beheimatet, die das Monopol auf Schriftkenntnis hatte und ohnehin Träger dieser Umdatieraktion gewesen sein muß.

Mit dieser Annahme löst sich ein weiteres Problem. Noch immer sind sich die Historiker uneins, ob das Nahen der Jahrtausendwende für die Christenheit Anlaß für eine wilde Massenhysterie oder ein eher gleichgültiges Ereignis war. Lange Zeit imaginierten sie eine in Panik versetzte Menschheit, der Weltensturz und Höllenrachen vor schreckgeweiteten Augen flimmern. Doch Jose Ortega y Gasset hat schon1904 nachgewiesen, daß “die Legende über das Jahr eintausend vollständig unwahr ist” – aber diese seine Dissertation wurde bezeichnenderweise erst 1992 gedruckt. Allzu “natürlich” erschien es fast allen Historikern, daß zu runden Jahreszahlen hysterische Reaktion ausbrechen, als daß man sich von nüchtemer Betrachtung leiten lassen wollte.

Nunmehr können wir vermuten, daß der christozentrisch denkende Otto III. das heilsgeschichtlich bedeutsame zweite Jahrtausend einläutete, indem er Bezug auf Christi Geburt nahm, was vor ihm nur ein “dürftiger (=exiguus)” Dionysius tat. So hatte das Volk gar nicht die Zeit, vor der Jahrtausendwende zu zittern. Das Zagen setzte erst danach ein, als man – jäh in endzeitliche Gefilde versetzt – apokalyptische Geschehnisse, das Auftreten des Antichrist und das Jüngste Gericht befürchten mußte. So setzen bald nach der Jahrtausendwende Hysterien, Irrlehren und Ketzerverfolgungen ein.

Otto III. konnte also durch den Wechsel der Epoche kaschieren, daß er die Uhr vom Jahr 703 ins Jahr 1000 vordrehte. Noch bessere Kamouflage versprach, den 297-Jahres-Sprung nicht in die eigene Gegenwart zu legen, sondern früher anzusiedeln, am besten noch vor Großvater Otto I. Dann bildeten die letzten 90 Jahre, die ohne schriftliche Fixierung gerade noch von den Lebenden erinnert werden, ein korrektes Kontinuum. Um dieses Kontinuum belegen zu können, mußten Urkunden der nun zum 10. Jahrhundert erklärten Zeit vom 7. in dieses l0. Jahrhundert umdatiert werden. Genau dieser Vorgang ist längst bekannt, aber bislang nicht verstanden worden. Denn viele Urkunden des 10. Jahrhunderts weisen nachträglich veränderte Datumzeilen auf. Dabei sind so haarsträubende Fehler passiert, daß die Urkundenkenner sich wundern, wie kaiserliche Notare vergessen konnten, in welchem Jahr sie eigentlich schrieben. Eine spätere Umdatierung zahlreicher Urkunden läßt gerade solche Fehler erwarten.

Byzantinische Weltära

Wenn wir uns nun anderen, gleichzeitigen Zeitrechnungssystemen zuwenden, dann stoßen wir auf ganz ähnliche Begleiterscheinungen. So hat auch das zweite, noch mächtigere Kaiserhaus Europas justament in den dunklen Jahrhunderten seine Epochenrechnung verändert. Nachdem es die Hauptstadt von Rom an den Bosporus verlegt hatte, mußte früher oder später auch der Wunsch keimen, nicht mehr nach der Gründung Roms (-753) zu datieren, eine keineswegs uralte Methode, sondern erst nach Cäsars Kalenderreform durch Varro eingeführt. Der Bezug auf Roms Gründung ließ sich von Byzanz am besten dadurch übertrumpfen, daß man so weit zurückging, wie irgend möglich, am besten also gleich bis zur Erschaffung der Welt.

Genau so ist man vorgegangen, und es traten Phänomene auf, die uns bereits vertraut sind. Denn die Alexandrinische Weltärarechnung ist von Panodoros und dann Anianos bereits vor 412 n. Chr. erfunden worden, indem sie beschlossen, daß die Erschaffung der Welt rund 5.900 Jahre zurückliege. Als neue Epoche (Startdatum) wählten sie – umgerechnet – den 25.3.5493 v. Chr. Panodoros’ Zeitgenossen hat das nicht weiter bewegt, und so kam diese alexandrinische Weltära bei den byzantinischen Geschichtsschreibern erst ab dem 7. Jahrhundert an stärker in Gebrauch. Diese Auskunft durch Altmeister Ginzel hat ihre Schwächen, kennen wir doch keinen byzantinischen Geschichtsschreiber des 7. Jahrhunderts. Denn gegen 610 scheinen die Kaiser demütig geworden zu sein: Sie verzichteten auf ihren Hofgeschichtsschreiber und damit auf ihren Nachruhm, obwohl ihnen Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert mit Prokop ein überzeugendes Vorbild geliefert hatte. Auch übergreifende Historien waren nicht mehr gewünscht, so daß deren Tradition mit ein oder zwei kümmerlichen Ausnahmen erst im 10. Jahrhundert wieder aufgenommen wurde. Diese seltsame Bescheidenheit auf dem byzantinischen Thron wird erstmals durch die These der Phantomzeit verständlich: Hier wurden erst rückwirkend Leerzeiten mit Geschichte gefüllt.

Das stolze Byzanz gab sich mit einer Datierungsmethode nicht zufrieden, sondern bekam auch noch eine spezielle Byzantinische Ära. Ihr Startdatum lag auf dem 1.9.5509 v. Chr., griff also noch 16 Jahre weiter zurück. Erstmals benutzt wurde sie laut Ginzel im Jahre 691 n. Chr., doch sie verbreitete sich keineswegs zügig, das heißt ihre Benutzung im 7., 8., und 9. Jahrhundert ist kaum nachzuweisen. Erst im 10. Jahrhundert erhielt sie den Vorzug vor der etwas kürzeren Alternativrechnung und blieb dann bis zum Untergang von Byzanz im Gebrauch.

Wir finden also dasselbe Phänomen wie im Westen: Neue Bezugspunkte für die Zeitbestimmung werden definiert, aber zunächst kaum oder gar nicht benutzt. Die faktische Durchsetzung ist schwer datierbar. Gravierend ist hier: Obwohl die Reihe der römisch-byzantinischen Kaiser kontinuierlich von Augustus bis Konstantin XII., von -30 bis + 1453 reicht, läuft die Zeitrechnung nicht kontinuierlich, sondern wird gleich zweimal umgestellt, wobei die Umstellungen in dunkle Zeiten fallen. Offenbar sollte hier genauso wie im Westen etwas verschleiert werden.

Jüdische Zeitrechnung

Es bleibt uns noch eine Zeitrechnung, die weiterhelfen könnte. Jüdische Gelehrsamkeit hat seit Abfassung der Genesis unentwegt Geschichtsschreibung betrieben, immer auf Schriftlichkeit gesetzt. So glaubten wir zu wissen – tatsächlich aber finden wir im frühen Mittelalter ein konträres Phänomen. Nachdem der babylonische Talmud im 6. Jahrhundert seine Endredaktion erfahren hatte, setzte keineswegs die Auseinandersetzung mit diesem Werk ein, erschien keine Flut von weiteren Kommentaren und Disputen. Statt dessen verzichteten die Juden für mehrere Jahrhunderte auf das Schreiben. Ausgerechnet die große Zeit der Schriftgelehrten, die Zeit der Gaonim, muß ohne Werke auskommen. Nur aus späteren Zeiten wird das eine oder andere Zitat tradiert.

Der Begriff der Dunklen Jahrhunderte bezieht sich auch bei den Juden auf Textquellen und auf die Fundlage. Jüdisches ist im Europa des 7., 8. und 9. Jahrhundert nicht zu greifen. Zwar saßen Juden schon im 4. Jahrhundert am Rhein, doch eine Kontinuität jüdischen Lebens bis ins 2. Jahrtausend ist nirgends nachweisbar. So werden jüdische Gemeinden erst im 10. Jahrhundert wieder greifbar. Weil nichts über Vertreibungen oder Pogrome bekannt ist, wird Kontinuität gemutmaßt. C. Roth und I. Levine haben ihr einschlägiges Buch The Dark Ages genannt und gleich eingangs festgehalten, daß sie die Zeitumstände in drei Jahrhunderten allein durch Interpolation erhellen konnten. Indem sie die Zeit vor 600 mit der nach 900 verglichen, schlossen sie auf die Zeit dazwischen. Diese rätselhafte Lücke bei Funden und Schriften konnte bislang allenfalls durch langanhaltende Schreibfaulheit motiviert werden – die These der Phantomzeit erklärt diese Dunkelzeiten erstmals befriedigend.

Aber haben die Juden nicht schon immer ab der Weltschöpfung gerechnet? Besitzen wir nicht seit biblischen Zeiten ein Zeitgerüst, das seitdem ständig ausgebaut worden ist und deshalb keine Diskontinuitäten zuläßt? In Wahrheit haben die Juden fast ein Jahrtausend lang nicht nach ihrer Bibel, sondern nach der Seleukidenära gerechnet. Das war die Datierung für Geschäftskontrakte, die eine Schlacht zwischen Diadochen (-312) zur Basis hatte.

Im Jahre 358/59 n. Chr. bezeichnete Rabbi Hillel das Jahr 670 der Seleukidischen Ära als das Jahr 4119 annus mundi (=Jahr der Welt), schuf also vielleicht die erste Jahreszählung ab der Erschaffung der Welt. Doch damit war die Weltära keineswegs eingeführt. Die Jerusalemer Encyclopedia Judaica erachtet Hillels Anteil als ziemlich dunkel und sieht die Ära-Einführung erst um 500 n. Chr. Für die Berliner Encyclopedia Judaica ist die Weltschöpfungsära erst im 8. Jahrhundert eingeführt und erst 921 in ihre endgültige Fassung gebracht worden. Andere glauben, daß sie sich in diesem 10. Jahrhundert auch durchgesetzt habe, während ihr ein Kenner wie Arno Borst überhaupt erst im 12. Jahrhundert Akzeptanz zugesteht.

Mit anderen Worten: Wir haben wieder einen Ära-Einführer, der lange unbeachtet blieb. Seine Idee soll sich im besten Fall nach 600 Jahren, vielleicht noch später durchgesetzt haben. Das erinnert seltsam an Dionysius Exiguus und an Panodoros und belegt, daß auch die Einführung der jüdischen Weltära hinter geschlossenen Vorhängen stattfand.

So gibt es in Europa keine Kalenderrechnung, die kontinuierlich durch die Zeiten läuft. Alle vier Ären, die christliche, die beiden byzantinischen wie die jüdische setzen so ein, daß ihre eigentlichen Anfänge nicht greifbar sind. Die verfügbaren Quellen führen zu so widersprüchlichen Aussagen, daß diese Widersprüche geradezu für die Phantomzeit bürgen.

Im Wissen um drei Jahrhunderte Phantomzeit läßt sich noch eine Spekulation anfügen. Wir haben bereits von der Alexandrinischen Weltära gehört. Es gab nun zwei weitere, fast identisch benannte Ären. Zwölf Jahre vor der Seleukidenära startete die Ära nach dem Tode Alexanders, auch Philippinische Ara benannt. 294 Jahre nach dieser Epoche, anno -30, eroberte der spätere Kaiser Augustus die Weltstadt Alexandria. Der Tag der Einnahme wurde als Epoche der Ära des Augustus definiert, eine Zeitrechnung, die auch Alexandrinische Ära genannt wurde. Wer auch immer einen Zeitsprung plante, fand hier die beste Deckung. Indem er Daten der alexandrinischen Ära in solchen der alexandrischen Ära ausdrückte, drehte er die Geschichtsuhr um 294 Jahre vor. Wenn er dann noch in einer alexandrinischen Weltära weiterrechnete, war die Verwirrung vollkommen und ein Zeitsprung verdeckt, der den von mir errechneten 297 Jahren auffällig nahe kommt.

China und Indien

Außerhalb Europas verschwimmt alles noch mehr, falls dies im angeblich so überaus präzisen Kalenderwesen noch möglich ist. Immerhin läßt sich festststellen, daß China und der ganze Ferne Osten nicht hinreichend mit der Welt im Westen synchronisiert sind. Vor dem 10. Jahrhundert ist nur eine einzige relevante Berührung mit dem Westen bekannt: 751 sollen in der Schlacht bei Samarkand arabisch geführte Truppen gegen chinesische Verbündete gesiegt haben. Aus diesem schwächlichen Bindeglied – 2.100 km von Bagdad, 4.200 km von Peking angesiedelt – kann nicht abgeleitet werden, daß die chinesische Tang-Dynastie (618–907) eine Phantomzeit ist und deswegen ihre staunenswerten Funde abgeben muß. Aber es wird sich auch hier empfehlen, den Kalender kritisch zu prüfen. Möglicherweise resultiert Chinas jahrhundertelanger Vorsprung auf vielen Gebieten schlicht und einfach daher, daß östliche und westliche Historie falsch synchronisiert worden sind.

Das östlichste Gebiet, das im frühen Mittelalter noch mit der abendländischen Geschichte abgestimmt werden kann, ist Indien. Nun stammen aus diesem Subkontinent zwar unsere Ziffern samt der Null und wichtigen Rechenregeln, aber die dortige Kalenderrechnung kann wenig erhellen.

So haben die Versuche, Buddhas Todesdatum festzulegen, nur eine Sicherheit gebracht: Die indischen Zeitrechnungssysteme widersprechen einander allesamt. Schwierigkeiten macht nicht nur der Nachweis von Buddha als historischer Person, sondern vor allem sein Einfügen in die Geschichte. Die “lange Chronologie” des südlichen Buddhismus datiert Buddhas Tod auf -544, die “korrigierte ceylonesische Chronologie” auf -486, die “kurze Chronologie” auf 368 v. Chr.; heutige Berechnungen nennen sogar 290 v. Chr. Diese Daten – tibetische gar nicht beachtet, die Buddha schon im -3. Jtsd. sterben lassen – schwanken in einem Ausmaß, das den Dunklen Jahrhunderten gleichkommt. Die Fundmengen der verschiedenen indischen Epochen lassen die Möglichkeit offen, daß hier bestimmte Zeiträume überdehnt worden sind, um eine Korrelation mit griechisch-hellenistischen Angreifern und Kolonisatoren zu ermöglichen.

Persische und parsische Zeitrechnung

Das sassanidische Persien, lange Zeit der mächtigste Gegner von Byzanz, hat in zwölfter Stunde eine neue Zeitrechnung eingeführt. Ihr letzter König, Yezdegird III., soll den Tag seiner Thronbesteigung 632 zum Beginn einer neuen Zeitrechnung bestimmt haben. Warum hätte sie die arabische Eroberung überdauert, die schon ein Jahr später einsetzt und 641 die Sassaniden stürzt, zumal die Araber doch eine eigene Zeitrechnung mitbrachten? Gleichwohl soll sie jahrhundertelang benutzt worden sein, bis im 11. Jahrhundert Großsultan Dschelaleddin den nach ihm benannten Kalender einführen ließ.

Das Geschehen in Persien ist schwer ausleuchtbar, so daß wir nur zwei Streiflichter auf bislang Unverständliches fallen lassen können. Trotz der frühen arabischen Eroberung von 641 und der sofort einsetzenden Verdrängung des Zoroastrismus ist Persien, zumal sein Osten, im 10. Jahrhundert noch keineswegs islamisiert. Als Erklärung wird die wohl gleichzeitig einsetzende Toleranz der Moslems in religiösen Dingen bemüht. Diese Toleranz muß im Falle von Persiens berühmtestem Dichter noch mehr strapaziert werden. Firdausi lebte von 939 bis 1020 und beschrieb in 60.000 Doppelversen die Geschichte des iranischen Reichs bis zur arabischen Eroberung (das Schah-Name oder Königsbuch). Warum er es sich leisten konnte, dieses Epos seinem Sultan zu widmen, obwohl es weder die arabischen Heldentaten seit 651 erwähnt noch den Islam noch Allah, ist bislang unerklärt. Erst wenn die Islamisierung des Irans – beim Auskehren der Phantom-Jahrhunderte – ins 10. Jahrhundert rückt, dann klärt sich auch die persische Geschichte.

Im Iran lebten im übrigen auch die Parsen. Schon im letzten Beitrag ist erwähnt worden, daß diese Religionsgemeinschaft bis heute nicht verstanden hat, warum der Kalender ihrer Glaubensbrüder in Indien von dem im Iran geltenden um 300 Jahre differiert. Auch hier stiftet die These von den Phantom-Jahrhunderten Sinn.

Hidschra, der arabische Kalender

Unser bislang frustrierender Rundgang endet bei der islamischen Kalenderrechnung. Bekanntermaßen verließ Mohammed im Jahre 622 Mekka in Richtung Medina. Diese Übersiedlung (Hidschra) wurde von Kalif Omar I. (633-644) – für eine Ära-Epoche erstaunlich früh – zum Startpunkt der islamischen Zeitrechnung erklärt. Trotzdem fehlt diesem Kalender das für uns Wesentliche: Er verbindet nicht Antike und Mittelalter, überbrückt nicht die ganze Phantomzeit (618-911). Seine frühe Einführung ist – wen wird es noch wundern – wiederum schlecht überliefert. Da es aber Münzen mit zweistelligen Hidschra-Daten gibt, führt diese Zeitrechnung immerhin von heute bis nahe den Beginn der Dunklen Jahrhunderte zurück. Nachdem dieser Kalender ab vielleicht 640 durchgängig belegt scheint, müssen andere Überlegungen angestellt werden. Zunächst fallt auf, daß die frühe arabische Zeit ähnlich dunkel wirkt wie die entsprechende Zeit im christlichen Europa. So ist das maurische Spanien vor 930 kaum faßbar. Die Kunstgeschichte kann nur auf einige Wandbögen in der Moschee von Cordoba verweisen, die ganz allein die maurische Architektur von 711 bis fast 950 repräsentieren müssen. Dabei soll Cordoba gegen 800 n. Chr. 500.000 bis 1.000 000 Einwohner gezählt haben, die in ihrer hochzivilisierten Stadt den primitiven Germanen vormachten, wie man riesige Bibliotheken anlegt, Straßen pflastert, Straßenbeleuchtung unterhält und zahllose Badeanstalten betreibt. Diese Weltstadt hat uns leider keine Scherbe hinterlassen, genausowenig wie die Millionenstadt Bagdad, in der Harun al-Raschid nächtens durch die Straßen gehuscht sein soll. Nachdem wir auch die großen geistigen Kulturleistungen des frühen Islams nur in Form von Zitaten kennen, die spätere Schriftsteller und Historiker berichtet haben, gilt der Verdacht, daß auch die arabische Welt bis ins 10. Jahrhundert hinein fiktiv ist.

Die Folgerungen daraus sind kaum absehbar. Wir wissen etwa, daß die islamischen Historiker des 11. bis 13. Jahrhunderts nach der Hidschra und nach Christi Geburt datiert haben. Wenn sie sich nach Otto III. der christlichen Zeitrechnung angeschlossen haben, hätten sie sich auch die Zeitlücke eingehandelt, die sie dann mit Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht füllten. Da in Phantomzeiten keine gemeinsame Geschichte von Ost und West geschehen sein kann, passen die Erfindungen des Abendlandes und des Morgenlandes nicht immer zueinander. So gibt es keine arabischen Belege jener Gesandtschaften, die Karl der Große und seine Nachfolger nach Bagdad geschickt haben sollen, keine arabischen Berichte zur Kaiserkrönung von 800 und zu Haruns Krönungsgeschenken wie Elefant oder Orgel. Von arabischen Historikern wurde auch die epochale, europarettende Niederlage gegen Karl Martell übersehen, was die westlichen Historiker verdroß, die doch mehr als 200.000 Sarazenen südlich der Loire hatten liegen sehen wollen.

Damit kommen wir zu dem Rätsel, wie die Araber so schnell die halbe Welt erobern konnten. Binnen 99 Jahren (633–732) stoßen sie im Westen bis zur Loire vor, binnen 118 Jahren (633–751) erreichen sie Zentralasien –eine überdimensionale Zangenbewegung mit einem Ausgriff von 7.500 km. Bei diesem unaufhaltsamen Vordringen werden die ersten vier Kalifen und der Sohn des vierten ermordet (634, 644, 656, 661, 680). “Normalerweise” hätten immer neue Blutfehden die Araber ins finsterste Chaos stürzen müssen – statt dessen fanden sie erstmals richtig zusammen.

Die frühe arabische Geschichte muß deshalb insgesamt überprüft werden. Ist sie ganz anders verlaufen, ist sie eher persische Geschichte, lebte Mohammed schon im 4. Jahrhundert, was aus religionsgeschichtlicher Sicht möglich wäre und die Hidschra-Daten bestätigen würde? Erst dann wird sich auch das Rätsel unserer Abbildungen lösen. Bislang ist schwer verständlich, warum arabische Münzen des 8. und 9. Jahrhunderts den islamischen Vorgaben – unter anderem keine Darstellung von Menschen und Tieren – rigid entsprechen, während im frühen 10. Jahrhundert sehr wohl Pferde, Reiter und musizierende Personen abgebildet werden, als ob der endgültige Kanon islamischer Kunst noch gar nicht definiert war.

Doppeltes Fazit

Wir sind zu zwei Ergebnissen gekommen. Zum einen müssen wir akzeptieren, daß unser bisheriges Geschichtsbild des frühen Mttelalters keiner kritischen Betrachtung standhält. Selbst die verschiedenen Zeitrechnungen, die doch das Rückgrat aller Geschichte bilden, verschleiern mehr, als sie klarstellen können. Wo wir Gewißheit und Prüfbarkeit erhoffen, stoßen wir nur auf Fehlstellen und Dunkelzeiten.

Andererseits löst die auf den ersten Blick abstrus wirkende These dreier Phantom-Jahrhunderte Probleme, die bislang unlösbar waren und obendrein aus ganz verschiedenen Bereichen stammen. Dank ihr verstehen wir die Fundleere in Italien genauso wie die in Spanien oder Bagdad; wir verstehen, warum die Zeitrechnungssysteme der Parsen oder der Inder nicht einmal untereinander kompatibel sind; wir verstehen, warum ein alter Engländer sehr “voreilig” die Null verwendet und eine berühmte irische Handschrift wie das Book of Kells afghanische Farben aufweist, obwohl um 800 kein Fernhandel möglich gewesen sein soll (das berühmte Manuskript stammt in Wahrheit aus der Zeit um 1000); wir begreifen die Jahrtausendwende-Hysterie in Frankreich und die Datumsänderungen in “deutschen” Urkunden, die bislang kaiserlichen Notaren fortgeschrittene Verblödung attestierten. Wir verstehen jetzt auch, warum die Juden zeitweilig das Schreiben vergessen haben und während des frühen Mittelalters “untertauchen”; wir verstehen, daß die Araber einfach Karl Martell übersahen; wir verstehen, daß ein Perser des 10. Jahrhunderts nur eine sassanidische Vergangenheit schildern konnte und daß der Iran damals noch kaum islamisiert war. Wieviel Sinn muß eine These stiften, bevor auch die zuständigen Fachgelehrten ihren Wert erkennen?