von Hans-Ulrich Niemitz

[Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag entstammt VFG 2/94, die generelle Fragestellung ist jedoch immer noch aktuell]

Wenigen Mittelalterarchäologen ist bewusst, dass die Forschungen zur Keramik des Frühmittelalters in einer Dauerkrise stecken. Doch ihre Veröffentlichungen, von der Entdeckung der karolingischen Keramik durch Constantin Koenen am Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, zeigen diese Dauerkrise. Heute, nach mehr als hundertjähriger Forschung, sind noch immer Formulierungen zu lesen, die eigentlich jedem kritischen Wissenschaftler die Haare zu Berge stehen lassen müssten.

Der Beginn jeder historischen Arbeit besteht darin, zunächst eine relative, dann eine absolute Chronologie aufzustellen. Dieser Aufgabe sind die Keramikforscher nicht gewachsen. Sie können keine Jahreszahlen oder Zeitabstände unterscheiden. Selbst der einfachste Schritt mißlingt: Sie können nicht das ‘Vorher’ und ‘Nachher’ unterscheiden, weshalb es nicht einmal gelingt, eine relative Chronologie aufzustellen [Vychitil, 21]. Seit einem Jahrhundert ringen die Keramikforscher trotz ständig steigender Fundmenge darum, ihr Material in elementarer Weise so zu ordnen, “dass späteren Bearbeitern eine Zuweisung neueren Fundmaterials ohne Spezialstudien möglich ist” [Lobbedey, 4]. An dieser Aufgabe scheiterten alle Forscher – von Koenen [1887 und 1895] über Rademacher [1925 und 1927], Hussong [1936 bis 1972], Böhner [50er Jahre], Janssen und Lobbedey [1968] bis hin zu Vychitil [1991]. Stattdessen hören wir Klagen über Datierungsunsicherheiten, die Jahrhunderte umfassen. Dazu kurze Zitate in chronologischer Reihung.

Constantin Koenen, ‘Entdecker’ – vielleicht auch ‘Erfinder’ – der karolingischen Keramik, ging u.a. von Reliefbandamphoren aus, die er über den sie einschließenden Fußboden der Kirche St. Quirin in Neuss datierte. Deren Bau war urkundlich für das Jahr 825 bezeugt; dieses Datum diente allen späteren Funden als chronologische Richtschnur, obwohl es W. Bader viel später – und viel zu spät – angezweifelt hat [Bader 1955, 71-74]. Doch Koenen selbst hatte große Mühe, karolingisches von postkarolingischem Material zu trennen. Er schreibt 1895:

“Die nachkarlingischen Gefässe haben sich fast ausnahmslos aus den karlingischen entwickelt. Es sind zumeist verroherte Arten der Karlingertöpfe. Die Neuerungen sind kaum zu nennen. Auch erhielten sich manche ältere Stücke als Familienstücke und wir finden auch als Handelsware manche in früherer Zeit entstandene Form noch Jahrhunderte [sic!] beibehalten” [Koenen 1895, 145].


Abb. 1: Badorf-Keramik – Typ 1 der Importkeramik in Haithabu
Abb. 2: Reliefbandamphore – Typ 5
Abb. 3: Pingsdorf-Keramik – Typ 7 [Janssen 1987, 171, 174, 176]

Franz Rademacher konstatiert 1925 und 1927, dass die karolingische Keramik verwunderlicherweise die ‘karolingische Renaissance” nicht mitmacht. Außerdem lässt sie sich nicht klar von der folgenden ottonischen Steinzeugkeramik trennen:

“Der Übergang zum Steinzeug hat sich nicht plötzlich und auch nicht überall zu gleicher Zeit vollzogen. Es gibt bereits karolingische Gefäße aus Steinzeug und ebenso solche der späteren Jahrhunderte [sic!] aus ungesintertem Töpferton” [Rademacher 1925, 167].

Ludwig Hussong formuliert als erster klar, dass die Keramik im 7., 8. und 9. Jahrhunderts einfach keine Veränderung zeige. Zur Datierung von Trierer Keramik stellt er 1936 und (posthum) 1972 fest:

“Für die Zeitstellung der fränkischen Keramik aus den Kaiserthermen haben die Fundumstände keine nennenswerten Anhaltspunkte ergeben, sie ließen lediglich in einzelnen Funden erkennen, dass die fränkische Keramik sich an die letzten römischen Formen anschließt; in welchem Zeitabstand sie diesen folgt, ob unmittelbar anschließend oder durch Jahrhunderte [sic!] getrennt, bleibt durchaus unentschieden” [Hussong 1972, 99].

Fritz Tischler äußert 1944 im Rahmen seiner Keramikforschungen in Duisburg seine methodischen Zweifel: Man könne doch nicht an Keramiken, die durchaus zeitgleich sein können, (chronologische) Typenreihen erstellen: Man müsse schon einzelne Fundkomplexe in ihrer Gesamtheit betrachten. Dann erkennt man

“auch leichter, dass die Tönungen der Oberfläche mit den verschiedenen Brenngraden zusammenhängen und keine zeitlichen Unterschiede offenbaren, oder dass eng benachbarte Töpfereien zur gleichen Zeit völlig verschiedene Typen bevorzugt haben, die man ohne Kenntnis der vollständigen Komplexe gern in eine zeitliche Abfolge eingruppieren würde” [Tischler 1944-50, 82].

Werner Haarnagel sinniert 1959 über die Schwierigkeiten der zeitlichen Einordnung von Nordseeküstenkeramik:

“Diese [Altersbestimmung] wird durch das schwer erfaßbare, nicht immer klar gegliederte Formengut, durch die geringe Zahl an datierbaren Beigaben sowie durch den geringen Wandel der Gefäßformen im 7., 8. und 9. Jh. hervorgerufen” [Haarnagel 1959, 41].

Uwe Lobbedey meint 1968 in seinem ‘Klassiker’ der Keramikforschung zum Frühmittelalter zu den von ihm unterschiedenen Keramiktypen:

“… meist aber zeigen die Typen ein erstaunliches Beharrungsvermögen, und ‘typologische Reihen’ erweisen sich oft als aus bloßen Varianten und Mischtypen – ohne jegliche chronologische Bedeutung – zusammengesetzt” [Lobbedey 1968, 97].

Ulrich Dahmlos befindet 1979 zu Keramikuntersuchungen in Hessen:

“Wie der Beginn der Karolingerzeit, so ist auch deren Ende von den archäologischen Quellen her […] nicht genau zu bestimmen” [Dahmlos 1979, 4].

Walter Janssen äußerst sich 1987 resigniert über die Importkeramik von Haithabu:

“Es ergibt sich kein für größere Gebiete gültiges chronologisches System.” Insbesondere tritt in den Siedlungsschichten die Zeitmarke der Normanneneinfälle der 80er Jahre des 9. Jahrhunderts nicht “mit der gewünschten Klarheit” hervor [Janssen 1987, 41].

Peter Vychitil kommentiert 1991 Versuche um eine relative Chronologie:

“Gelegentlich wird über die ‘Mathematisierung’ archäologischer Methoden geklagt. Angesichts der Tatsache, dass die bisherige Vorgehensweise im Bereich der Keramikformen des jüngeren Frühmittelalters nicht zu verwendbaren relativ-chronologischen Abfolgen geführt haben, sollten bisher noch nicht betretene Pfade betreten werden” [Vychitil, 21].

Es gilt also:

  • Die Forscher von Koenen (1895) bis Vychititl (1991) sagen, dass zwischen Jahrhunderte auseinanderliegenden Stücken nicht zu unterscheiden ist.
  • Sie äußern methodische Zweifel.
  • Die Keramikforschung des Frühmittelalters hat ein wichtiges Ziel ihrer Arbeit trotz hundertjähriger Forschung verfehlt: Es gelang nicht, ein brauchbares chronologisches System aufzustellen, weder relativ noch absolut.
  • Es gibt laut Janssen [1987, 16] nicht einmal eine anerkannte und standardisierte Fachterminologie für Formen und Warenarten mittelalterlicher Keramik.

Besonderheiten der mittelalterlichen Keramikforschung – das Problem der Warenarten

Üblicherweise ordnet Keramikforschung ihre Funde und Gegenstände in erster Linie über ihre Form und ihren Stil chronologisch ein, erst in zweiter Linie dann über ihre Werkstoffe und Fertigungstechniken [Petrikovits 1972]. Die Forscher des Frühmittelalters verfahren verwunderlicherweise genau andersherum: erst Werkstoff und Fertigungstechnik und dann Stil. Werkstoff und Fertigungstechnik fassen die Archäologen im Begriff Warenart zusammen.

Zwei zeitlich wohl unterschiedene und “unverwechselbare” [Janssen 1987, 16] Warenarten dominieren das Frühmittelalter: die der Karolingerzeit und die der nachfolgenden Epochen.

“Innerhalb der verschiedenen Warenarten entfaltete sich […] die Fülle der Formen von Gefäßen und Gefäßteilen. Weil gleiche Formen in den beiden großen Zeitabschnitten der rheinischen Keramik erscheinen, […] würde man sie, sauber auf Papier gezeichnet, von der Form her gar nicht der einen oder der anderen Epoche zuweisen können, gäbe es nicht die Kriterien der Ware, in denen sie sich dann um so deutlicher unterscheiden” [Janssen 1987, 16].

Solche Unterscheidung in Warenarten funktioniert nur, wenn man, etwas überspitzt formuliert, eine Massenproduktion oder wenigstens Töpfereizentren von überregionaler Bedeutung ausmachen kann. Nur deren Produkte zeigen über eine bestimmte Zeit hin einen gleichartigen Charakter [Lobbedey 1968, 7] und lassen auch nachgeahmte Keramik erkennen. So kennt die römische Keramikforschung unterschiedliche Warenarten, wie zum Beispiel die “Terra sigillata” und die “Terra nigra”. Beide laufen weitgehend parallel, ja konkurrierend gegeneinander, was an Überschneidungen im Stil und Formenschatz erkennbar ist. Anderenfalls, also bei einer Vielzahl lokaler Werkstätten und damit verschiedenen Werkstoffen (Tonsorten) und Arbeitstechniken, müsste man wieder Form- und Stilanalyse treiben; die neuere Keramikforschung tut auch genau das – und verwickelt sich damit in Widersprüche, doch dazu unten mehr.

‘Glücklichwerweise’ fanden die Keramikforscher zwei rheinländische Produktionszentren – übrigens nur wenig mehr als einen Kilometer voneinander entfernt -, die jeweils in ihren ausgegrabenen Töpferöfen zwei “unverwechselbare” Keramik-Warenarten enhielten. Badorf steht als Produktionsort für die karolingische Keramik, Pingsdorf für die nachkarolingische Keramik. Beide Warenarten geben auch den ihnen nachgeahmten Keramiken ihren Namen: Keramik von Badorfer oder Pingsdorfer Art. Der chronologische Schnitt zwischen diesen beiden Warenarten soll bei etwa 900 liegen [Hussong 1944, 80; Böhner 1955/56, 373; Hurst 1969, 94 etc]. Um, neben und zwischen diesen beiden Warenarten gruppieren sich andere, die je nach untersuchter Region verschieden heißen.

Man muss hier anmerken, dass die zeitlichen Einordnungen der frühmittelalterlichen Warenarten bei den verschiedenen Forschern sehr stark schwanken, und daß insbesondere die eben genannte leicht zu merkende Einteilung – ‘Badorf’ laufe bis 900 und sei karolingisch und ‘Pingsdorf’ laufe ab 900 und sei nachkarolingisch – keineswegs von allen Forschern akzeptiert wird. Die sich ständig widersprechenden Fundergebnisse und folgenden Interpretationen sorgen für ständige Verwirrung – wie weiter oben ja schon zitiert [Lobbedey 1968, 74f].

Werfen wir zuerst einen Blick auf die Keramik der Badorfer Art: Sie gilt heute als die typische karolingische Keramik; sie ist hellgelb, nicht hart gebrannt und wird von 700 bis 900 angesetzt (Abb. 1). Eine Sonderform der Keramik in Badorfer Art sind die sog. Reliefbandamphoren – große Gefäße, die als Fässer oder Schallgefäße dienten (Solche Gefäße fanden sich unter Kirchenfußböden und sollten wohl die Akustik verbessern; Abb. 2). Die Reliefbandamphoren weisen eine deutlich längere Laufzeit auf als der Rest dieser Keramik, nämlich bis fast 1100. Walter Bader veröffentlichte 1962 seine Funde der Ausgrabungen aus St. Viktor in Xanten [Bader 1962]. Zur Reliefbandamphore X291 schreibt er: “Da die Reliefbandamphore als Schallgefäß bei der Anlage des Fußbodens VIII2 eingesetzt wurde, ist sie […] in die Jahre 1081-83 datiert. Es besteht kein Grund, sie als älter anzunehmen, denn sie zeigte weder Benutzungs- noch Abnutzungsspuren. Im übrigen wiederholt sich der gleiche Befund in Neuss [St. Quirin]” [Bader 1962, 204]. Koenes Datierung auf 825, an der er seine ‘karolingische Keramik’ festgemacht hatte, bezweifelt Bader in seiner eigenen Untersuchung St. Quirins [Bader 1955, 69ff].Anfangs ließ man diese Reliefbandamphoren auch nur bis 900 laufen. Später, nach unabweisbaren Keramikfunden in für das 11. Jahrhundert zu datierende Kirchenböden, galt:

“Eine Ausnahme bilden die Reliefbandamphoren, die die übrige Badorfer Ware noch eine zeitlang überdauern” [Lobbedey 1968, 74].

Dieses “zeitlang” umfasst gut 250 Jahre und erscheint bei der starken Ähnlichkeit beider Keramikarten rätselhaft.

Die Keramik von Pingsdorfer Art läuft von 900 (manche sagen auch von 700, man streitet sich) bis etwa 1200 [Lobbedey 1968). Sie ist härter gebrannt als ‘Badorf’; charakteristisch ist ihre Bemalung mit Klecksen oder Strichen und ihr Wellenfuß [Lobbedey 1968, Tafel 2,4]. Der Wellenfuß, also ein wellenförmiger unterer Fußabschluß, ist gleichwohl auch bei Badorfer Keramik zu finden [Hussong 1939/44, 187], wenn auch nicht so oft wie bei Pingsdorfer Keramik.

“Die Datierung der Pingsdorfer Ware ist ein in der Forschung heftig umkämpftes Problem. Das Auslaufen zu Anfang des 13. Jahrhunderts liegt fest. Die Aufeinanderfolge von Badorfer und Pingsdorfer Ware und der Überschneidungshorizont der Hunneschans-Ware ist im Bachbett von Haithabu sehr deutlich abzulesen” [Lobbedey 1968, 74].

Im Klartext: Der zeitliche Beginn dieser Ware ist heftig umstritten. Beide Warenarten – Badorfer und Pingsdorfer Keramik – müssen länger, als vielen Forschern lieb ist, zur selben Zeit gehandelt und benutzt worden sein.

Koenen um 1900 und Rademacher um 1927 hielten noch die Pingsdorfer Keramik für typisch karolingisch – vor allem wegen ihrer formgeschichtlichen Nähe zu merowingischer Keramik. Eine 1914 veröffentlichte Datierung Loeschkes, die diese Keramik um mehrere Jahrhunderte später plazierte, schmetterte Rademacher mit diesem Argument ab. Aber Hussong ‘erkannte’ 1936 durch genauere Betrachtungen der Trierer Hospitalkeramik, daß “die von Koenen und anderen gern als eigentlich karolingisch angesprochene Pingsdorfer Keramik” erst nach 881 einsetzen kann. Denn die jüngere Hospitalkeramik mit ihren Pingsdorfer Scherben sei durch eine große Zerstörung in die Erde gelangt:

“881 wurde Trier von den Normannen gänzlich verheert; es liegt nahe, diese Ereignisse zu verbinden” [Hussong 1936, 87].

Hussong, wie schon vor ihm Koenen [Koenen 1887, 363; 1895, 141; 1898, 122] und nach ihm viele andere Mittelalterarchäologen, schiebt den Normannen jede gefundene Brandschicht unter – ohne über zugeordnete Fundstücke zeigen zu können, dass es wirklich die Normannen waren. Damit verbinden sie in zweifelhafter Weise ein ‘historisches Ereignis’ mit ihren Keramikdatierungen. Die Faustregel, das Jahr 900 trenne ‘Badorf’und ‘Pingsdorf’ lautet inhaltlich: Die Normannenzerstörungen trennen die beiden Keramikarten. Und was von den Normannenstürmen und ihrer archäologischen Evidenz zu halten ist, hat das obige Zitat von Janssen (s.S. 43) schon gezeigt [Janssen 1987, 41; s.a. Illig 1992, 85].

Kurt Böhner ‘bestätigte’ zu Beginn der 50er Jahre diese auf Warenarten beruhende Trennung von ‘Badorf’ und ‘Pingsdorf’: Er habe beim Ausgraben einer Dorfkirche und ihres Friedhofes fast nur Keramik Badorfer Art gefunden [Böhner 1950, 207f] – und das zeige, daß dieser Friedhof bis etwa 850 genutzt worden sei. Er stützt sich also auf Hussongs Datierungsvorschlag. Dass anderswo beide Keramikarten zusammengefunden wurden, irritierte Böhner sowenig wie Hussong, obwohl Böhner selber anmerkte:

“Die Angabe H. Lehners [Bonn. Jahrb. 136/137, 1932, 186], daß Pingsdorfer Scherben in karolingischen Schichten des Bonner Münsters gefunden worden seien, beruht darauf, daß zu Lehners Zeit Badorfer und Pingsdorfer Keramik noch nicht getrennt wurden” [Böhner 1951, 119].

Lehner wiederum hatte sich auf die Ausgrabungen in Dorestad bezogen, “wo massenhaft Scherben dieser Keramik [‘Pingsdorf’] zusammen mit Reliefbandamphorenresten gefunden wurden” [Lehner 1932, 186]. Und lagen die nicht in einer Schicht zusammen? Warum trennt sie Böhner nun einfach per definitionem? Und auch sein Zeitgenosse Walter Lung stellte 1955 fest, daß ‘Badorf’ und ‘Pingsdorf’ zusammen gefunden werden [Lung 1955/1956, speziell 368, Anmerk. 32, 33].

Seit Hussong und Böhner hat sich diese Trennung in Warenarten durchgesetzt – und bereitet viele, viele, kleine Schwierigkeiten. Allerdings löst sie ein großes Problem, nämlich das Problem, fundarme (Phantom-)Zeiten mit Funden zu versehen: Hauptsächlich die Badorfer Keramik füllt die Zeit von etwa 700 bis 900. Dies, so ist wohl deutlich geworden, ist einer fälschlich vorgenommenen Trennung dieser beiden Warenarten zu verdanken. Statt die beiden Warenarten zeitlich und räumlich zugleich nebeneinanderlaufen oder zumindest viel schneller und verzahnter als bisher angenommen aufeinander folgen zu lassen, hat man sie chronologisch getrennt. Wahrscheinlich hat die Badorfer Ware einen geringen zeitlichen Vorsprung vor der Pingsdorfer, was die genauen Aufarbeitungen der Höhenverteilungen dieser Scherben mit Hilfe von statistischen Verfahren zeigen. Stratigraphisch sind diese beiden Scherbenarten, wenn sie beide an einem Ort vorkommen, selten voneinander getrennt; wie schon erwähnt, verhindern dies schon die langlebigen Reliefbandamphoren.

Kleine Schwierigkeiten sind dazu da, nicht gesehen werden – oder wie der Forschungsprozeß so läuft

Zu welchen Schwierigkeiten im Forschungsprozess die falsche Chronologie führen kann, zeigt die 1988 erschienene Dissertation Studien zur mittelalterlichen Keramik in Niederhessen von Michael Mathias. Er hat wegen fehlender Stratigraphien große Probleme, die Keramik chronologisch zu ordnen. Deshalb bedient er sich der Methode der Seriation [Ihm 1983; Goldmann 1974]. Diese Methode läuft darauf hinaus, die Häufigkeit von Stilmerkmalen bei den Fundstücken zu analysieren. Wenn man davon ausgeht, dass sich immer nur ein Stilmerkmal beim Übergang von einer älteren zu einer jüngeren Keramik ändert, kann man die relative zeitliche Abfolge rekonstruieren, sobald man über genug Stilmerkmale und Fundstücke verfügt.

Mathias findet fünf Warengruppen (d.h. Warenarten), denen er die Zahlen 100 bis 500 für die Gruppen 1 bis 5 zuordnet. Jede Warengruppe unterteilt er in Unterwarengruppen und bezeichnet sie so, dass zum Beispiel 231 eine von 230 und diese eine von 200 ist. Diese Unterteilung ist für die Kritik, die ich hier leisten will, eher verwirrend – sie verwirrt auch Mathias selber und verschleiert ein Rätsel, wie wir gleich sehen werden.


Abb. 4: Beispiel für Computer-Seriation. Durch optimale Anordnung erhält man eine relativ-chronologische Abfolge [Goldmann 89]

Abb. 5 gibt die über eine Seriation gewonnene ‘Kontingenztafel’ von Mathias wieder. Sie zeigt, welche Warenarten bzw. Unterwarenarten an welchen Fundorten auftraten. Die Fundorte stehen links (die zweistelligen Zahlen, jedem Fundort ist eine Zeile zugeordnet), die Unterwarengruppen stehen oben (die dreistelligen Zahlen, jeder Unterwarengruppe ist eine Spalte zugeordnet).

Mathias (bzw. der Computer) hat diese Kontingenztafel aus einer anderen Tabelle gewonnen, bei der – in willkürlicher Reihenfolge – jedem Fundort seine Warengruppen zugeordnet waren. Die neue Tafel entstand durch Zeilen- und Spaltentausch mit dem Ziel, hauptsächlich um die Diagonale herum die Felder zu besetzen. Was geschieht bei dieser Diagonalisierung? Die Voraussetzung, dass sich bei der Typenevolution von Fundstück zu Fundstück jeweils nur ein Stilmerkmal ändert, bringt in die Feldbesetzungen ein “vorher – nachher”, also ein Moment relativer Chronologie. Durch die Umordnung kann diese Chronologie sowohl für die Fundorte als auch für die Warenarten hervortreten [vgl. Goldmann 1974, 89]. — Kann! — Doch besagt eine gelungene Diagonalisierung nicht, dass die gefundene Ordnung tatsächlich eine chronologische ist [Ihm 1983, 8].

Die Mitte des Diagonalenbandes ist auffallend dünn. Genauso sehen Tabellen (bzw. Matrizen) aus, die falsche – und zwar verdoppelte! – Chronologien vortäuschen können, wie Peter Ihm 1983 in seinem Grundsatzartikel zu den mathematischen und interpretatorischen Tücken der Seriation vorführt. Abb. 6 zeigt einen Ausriss dieses Artikels mit den Beispielmatrizen – die zweite Matrix ähnelt mit ihrer Einschnürung im Diagonalenband der Tabelle von Mathias [Ihm 1983, 19f). Man erkennt sogar noch eine zweite Stelle (links oben), an der das Diagonalenband sehr dünn wird; dieser Effekt muss auftreten, wenn man eine Phantomzeit in die Chronologie eingeschmuggelt hat!

Mathias postuliert in Anlehnung an seine per Seriation erhaltene relative Chronologie und in Anlehnung an die Literatur bestimmte Laufzeiten für die Warenuntergruppen. Das heißt, er versucht den Schritt von der relativen zur absoluten Chronologie. Abb. 8 zeigt seine Darstellung. Scheinbar lückenlos füllt er die Zeiträume. Stellt man jedoch die einzelnen Unterwarengruppen entsprechend ihrer Warengruppe nebeneinander, so tun sich beträchtliche Lücken auf, wie Abb. 9 zeigt.


Abb. 5: Kontingenztafel, bei der die Warenarten den Fundorten so zuordnet sind, dass hauptsächlich das Diagonalenband besetzt ist. Zeilen sind Fundorte, Spalten Warenunterarten [Mathias 1988, Tafel 9]

Die 100er-Gruppe (Handgemachte Kumpf- und Kugeltopfware) schiebt sich ‘von unten’ nur mit der Untergruppe 110 voll in die Phantomzeit hinein. Mathias sagt selber, dass die Unterscheidung zwischen der Untergruppe 110 und 120 kaum gerechtfertigt ist [Mathias 1988, 44]. Deshalb kann man entgegen Mathias die Untergruppe 110 der Untergruppe 120 zuschlagen. Generell ähneln sich die Untergruppen sehr stark:

“Da diese Waren vorgeschichtlicher und kaiserzeitlicher Keramik ähneln, ist die Ansprache als frühmittelalterliche ohne Fundzusammenhang bisweilen schwierig” [Mathias 1988, 188].

Also ist es sehr gut möglich, daß die 100er-Gruppe nur bis etwa zum Jahre 600 gedauert hat.

Die 200er-Gruppe (Uneinheitlich gebrannte Irdenware) ist – wie ihre Bezeichnung schon sagt – die uneinheitlichste Gruppe. Gerade die Datierung für die Untergruppe 230 entspricht nicht der Seriation, sondern ist Übernahmen aus der Literatur zu verdanken. Dabei ist zu bemerken, daß die von Mathias zitierten Autoren sich streiten: Lothar Süss datiert für Bad Nauheim vergleichbare Keramik auf 780 bis 950 – also früh [Süss 1978, 174ff], H.-W. Peine für Minden dagegen auf 950 bis 1250 – also spät [Peine 1988, 145]. Mathias Ansatz ist – wie er auch selber zugibt – sehr zweifelhaft.

Die 300er-Gruppe (Oxydierend gebrannte Irdenware) – eigentlich die karolingische Ware! – wird am stärksten von allen Warengruppen von Datierungskonflikten der früheren Forscher berührt [Mathias 1988, 220]. Die Untergruppe 310 bestimmt er über Stamms Arbeit zu Frankfurt [Stamm 1962]. Die Untergruppe 321 erkennt er als Badorfer Ware und datiert sie trotzdem über 900, nämlich bis 1050. Die Untergruppe 330 datiert er aus der Literatur, ohne sich in dem dortigen, von ihm erwähnten Datierungsstreit zu entscheiden: H.-G. Stephan datiert im Weserbergland gefundene Ware auf etwa 750 – also früh [Stephan 1978, 58ff], H.-W. Peine datiert in Minden Gefundenes etwa 1250 – also spät [Peine 1988, 145]. Wenn man die Seriation ernst nehmen will, dann liegt der Schwerpunkt dieser Keramik nach etwa 900.


Abb. 6: Ausriss aus einer Betrachtung zu Kontingenztafeln bzw. Matrizen, die verdoppelte Chronologien ‘erzeugen’ [Ihm 1983, 20]. Typisch für diese Phänomene ist das eingeschnürte Diagonalband.
Abb. 7: Ungefähre Laufzeiten von Keramik nach der Literatur [Stamm 1962, Lobbedey 1968, Janssen 1987]
Abb. 8: Laufzeit der Warenuntergruppen – von Mathias geschlußfolgert aus der Seriation [Kontingenztafel, Abb. 5] und aus Datierungsangaben anderer Forscher – scheinbar ein lückenloses Bild [Mathias 1988, Tafel 11]

Abb. 9: Laufzeit der Warenuntergruppen, entsprechend Abb. 8, aber umgruppiert nach Warenarten. Nun werden die Lücken innerhalb der Warenarten sichtbar.

Die 400er-Gruppe (Reduzierend gebrannte Irdenwaren) zeigt eine Lücke von 680 bis 1050 (370 Jahre). Die Untergruppe 410 erkennt Mathias als Export, also als von außen nach Hessen eingebracht. Deshalb datiert er sie Autoritäten zitierend so früh. Er erkennt nicht die Lücke, die ‘410’ von den anderen Unterwarengruppen trennt.

Die 500er-Gruppe (Faststeinzeuge) schließlich zeigt ein Lücke von 920 bis etwa 1200 (280 Jahre). Ihre Untergruppe 510 steht völlig isoliert und endet 280 Jahre vor Beginn der nächsten 500er-Gruppen. Mathias ignoriert diese Lücke und problematisiert sie deshalb auch nicht. Er fühlt sich (unbewusst) im Recht, denn die Datierung der Untergruppe 510 ist durch Abgleich mit den Frankfurter Arbeiten von Stamm [Stamm 1962; vgl. Niemitz 1993] – es handelt sich eben um “karolingische steinzeugartige Mayener Ware” – abgesichert.

Vereinfacht gesagt zeigt sich:

  • Das Ende um 700 bei der 100er-Gruppe;
  • eine unseriöse Datierung der 200er-Gruppe;
  • eine zu alt datierte 300er-Gruppe (Datierungsstreit Peine contra Stephan).
  • eine Lücke von 680 bis 1050 in der 400er-Gruppe (370 Jahre);
  • eine Lücke von 920 bis 1200 in der 500er Gruppe (280 Jahre).

Dass die Lücken nicht genau der Phantomzeit von etwa 600 bis 900 entsprechen, liegt daran, dass die Kontinuität aller Warenarten an irgendeiner Stelle ‘reißt’, worauf sie dem Prokrustesbett der falschen Chronologie angepasst werden können.

Man erkennt an diesem Beispiel, dass die Forscher die Lücken, die sie mit diesen Analysen aufreißen, gar nicht mehr sehen. Man erkennt weiter, dass bei der augenblicklich gültigen Chronologie die verschiedenen Keramik-Warenarten ihre angeblichen Laufzeiten nur ganz unzulänglich besetzen können.

Ergebnis

Die Keramikforschung kann die These von der Phantomzeit nicht erschüttern [Illig – Niemitz 1991; Illig 1994]; im Gegenteil, sie stützt diese These. Das Nichterkennen dieser Phantomzeit verwirrt die Forscher seit den ersten Anfängen – also seit mehr als hundert Jahren. Auch in den nächsten hundert Jahren wird die Keramikforschung nicht aus ihrer Dauerkrise herauskommen, wenn es die Forscher nicht wagen chronologisch radikal umzudenken.

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