von Gunnar Heinsohn

Eine Antwort auf “Wie man Karl den Großen aus der Geschichte tilgt” (Die Welt 16.11.2009)

I.

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Lucas Wiegelmann!

Der von uns allen gelernte Zeitrahmen für die Geschichte der Menschheit ist das härteste Dogma der Geisteswissenschaften. Man kann über fast alles innerhalb der Geschichte kontrovers diskutieren, aber die Platzierung der Ereignisse auf der Zeitskala gilt als unumstößlich. Die Chronologie ist heilig.

Jeder Gebildete versteht sich als Kenner der Chronologie. Die besten Köpfe zeichnen sich dadurch aus, dass sie die wichtigsten Daten der Geschichte auswendig hersagen können – und das bereits seit der Schulzeit. Wer die Jahreszahlen nicht im Kopf hat, kennt zumindest renommierte Geschichtswerke, in denen er sie schnell und – so glaubt er – zuverlässig nachschlagen kann.

II.

Nirgendwo auf der Welt gibt es Studiengänge oder wenigstens Fachinstitute, die sich mit den Grundannahmen und Kontroversen aus den Zeiten der Erstellung der heute gelehrten Chronologie befassen. Standardvorlesungen über die Geschichte der Chronologiebildung werden nicht angeboten. Selbst Blicke auf einzelne Aspekte der Chronologie durch sogenannte Hilfswissenschaftler bilden die seltene Ausnahme. Zentralprobleme wie die Diskrepanz zwischen Menge und Länge der historischen Epochen in den Lehrbüchern und der Anzahl und Mächtigkeit der wirklich ergrabenen Stufen der Geschichte in der Erde bleiben ohne systematische Behandlung.

III.

Wenn jeder über Chronologie genau Bescheid weiß, obwohl niemand sie systematisch studieren kann, wird der Zweifler an der Zuverlässigkeit des von allen Gewusstem provozieren und im Extrem Scharlatanerieanwürfe auf sich ziehen. Schließlich muss dann er sich fragen lassen, warum gerade seine Ergebnisse etwas taugen sollen, die er doch bestenfalls im Eigenstudium, also ohne öffentliche Kontrolle und Kritik erarbeiten konnte.

IV.

Nehmen wir an, es tritt jemand mit dem Befund vor die Öffentlichkeit, dass die Geschichte seit Christi Geburt um drei Jahrhunderte verlängert werden müsse, weil ihm etliche Listen von Herrschern sowie zahlreiche Berichte über Kriegszüge auf Erden und ungewöhnliche oder gar erschreckliche Ereignisse am Himmel in die Hände gefallen seien. Nehmen wir also an, jemand will Ihnen nahe bringen, dass wir nicht erst im Jahre 2009, sondern bereits im Jahre 2309 leben.

Was würden Sie tun? Gewiss würden Sie nach der Herkunft und Echtheit der Königslisten und Berichte fragen. Darüber würde Einigkeit nicht leicht zu erzielen sein. Papier sei geduldig, bekäme der arme Mann sehr schnell zu hören. Sie würden dann jedoch eine Reihe weiterer – sogenannter harter – Fragen stellen – soweit Sie überhaupt bereit wären, eine Geschichtsverlängerung ernsthaft zu prüfen.

  • Wo sollen die drei Jahrhunderte eingeschoben werden? Kommen sie in einem Stück hinzu oder müssen verschiedene Zeitblöcke an mehreren Stellen der Zeitachse eingeschoben werden?
    Nehmen wir nun an, unserer Forscher will die 300 Jahre in einem einzigen Block innerhalb des 1. Jahrtausends nach Christus hinzufügen. Nun wissen Sie bereits, dass die Bevölkerungshistoriker für jeden beliebigen Zeitpunkt des 1. nachchristlichen Jahrtausends die Erdbevölkerung auf etwa 200 Millionen Einwohner schätzen. Bei einer Lebenserwartung von – sagen wir – 60 Jahren, erleben somit eine Milliarde Menschen diese zusätzlichen drei Jahrhunderte. Für diese Milliarde Erbauer, Köche, Esser, aber auch Schreiber oder Musikanten und schließlich Beerdigte muss ein gewaltiges Volumen materieller Funde beigebracht werden.
    Diese Funde müssen wirklich hinzugewonnen und dürfen den auch bisher schon akzeptierten Jahrhunderten davor und danach nicht einfach wegstibitzt werden. Überdies müssen Sie Ihre Fragen für die ganze eurasisch-afrikanische Welt stellen, weil ja von Portugal bis Japan die Chronologien mit Querverbindungen arbeiten, so dass die Hinzufügung von 300 Jahren in Westeuropa eine entsprechende Hinzufügung bis nach Ostasien erzwingt.
  • Wie viele Gräber, so fragen Sie, hat diese Milliarde hinterlassen? Wenigstens einige Zigmillionen würden sie schon erwarten. Auch die Skelette von Haustieren würden sie nicht entbehren wollen
  • Wie viele steinerne Häuser haben eine Milliarde Menschen in den drei neuen Jahrhunderten gebraucht? Wenigstens die Fundamente oder Herdstellen von einigen Millionen Gebäuden würden Sie gerne gezeigt bekommen. Insbesondere würden Sie auf die Überreste vieler tausender von repräsentativen Bauten – Burgen, Schlösser, Rathäuser und Tempel aller Art – fest rechnen. Sie würden also im stratigraphischen Grabungsschnitt durch das 1. nachchristliche Jahrtausend sehr deutlich sichtbare – und bisher unerkannt gebliebene – Schichten mit Schuttmassen für drei Jahrhunderte sehen wollen, bevor Sie neue Geschichten in den Lehrbüchern akzeptieren.
  • Wo sind die Werkzeuge, Gerätschaften und Waffen aus Stein, aus Kupfer, Bronze und Eisen. Nach solchen Artefakten würden Sie besonders unbarmherzig fahnden, weil sie sich so gut erhalten und jeder sie braucht.
  • Hat man die zu erwartenden Großmengen an Geschirr gefunden, die zahllosen Formen und Farben der Keramik?
  • Wie viele Plastiken und Bilder hat diese Zusatzmilliarde hervorgebracht? Wo sind die Schmuckstücke und Schminktöpfe? Auch hier würden Sie auf sehr beträchtlichen Zahlen beharren.
  • Wo sind die zahllosen Schriftstücke dieser Hekatomben von Menschen, ihre Privatbriefe, ihre Manuskripte, ihre Verträge, Rechnungen und Schuldscheine? Wie Textilien erhalten sich solche Dokumente schlechter als Stein, Keramik und Metall, aber wo eine Milliarde gelebt hat, würde man sich mit einer bloßen Handvoll von Funden aus beiden Bereichen kaum zufrieden geben. Schnell käme die Vermutung auf, dass so Weniges sehr gut aus der Zeit vor oder nach den zusätzlichen 300 Jahren stammen könnte und in sie hinein gezogen worden ist.
  • Tausende von Münzhorten mit womöglich Millionen von Münzen werden Sie einfordern.
  • Etwas verschämt würden Sie auch nach den Latrinen fragen, in denen an jedem beliebigen Tag der 300 Jahre 200 Millionen Menschen täglich ihren Kot abgesetzt haben. Das wissen sie ja schon, dass gerade die Mittelalterarchäologie viele ihrer schönsten Funde aus den Abtritten holt.
  • Wenn unser revolutionärer Geschichtsverlängerer am Ende statt der erwarteten Millionen oder doch vielen hunderttausend Artefakte nur einen minimalen Bruchteil davon vorweisen kann, dieser sich problemlos aber auch in der Zeit vor oder nach den neu vorgeschlagenen 300 Zusatzjahren unterbringen ließe, würden Sie wohl unüberzeugt bleiben und zuversichtlich bei der alten Chronologie ohne drei Zusatzjahrhunderte bleiben.

V.

Erlauben Sie mir, das soeben vorgetragene Argument für eine Überprüfung zusätzlicher Geschichtsepochen umzukehren. Diesmal tritt jemand vor Sie hin, der die herrschende Chronologie im 1. nachchristlichen Jahrtausend nicht etwa um 300 Jahre verlängern, sondern im Gegenteil um 300 Jahre verkürzen will. Heribert Illig versucht das seit 1991. Das Welt-Feuilleton vom 16. November 2009 hat ihm dazu gehörig die Ohren lang gezogen.

Was hat er eigentlich getan? Er hat sich im Kern genauso wie Sie verhalten, als Sie den Verlängerer der Geschichte um 300 Jahre umgehend mit Fragen nach der harten Beweislage für eine solche Zusatzepoche in die Enge getrieben haben. Illig hat seine Fragen allerdings nicht an einen erst heute und plötzlich auftretenden Geschichtsverlängerer gestellt, sondern an die seit einem Jahrtausend arbeitende Zunft der Mittelalterforschung.

Illig vermutet, dass gegen Ende des 10. Jahrhunderts Versuche begonnen haben, 300 zusätzliche Jahre in das erste nachchristliche Jahrtausend einzufügen. Als dieses Vorhaben – aus millenaristischen oder welchen Gründen auch immer – begann, gab es eine systematisch grabende Archäologie, deren Kritik man hätte fürchten müssen, noch nicht. Es konnten deshalb auch die Fragen nach den vielen Millionen Artefakten für eine so lange Zeit nicht sinnvoll gestellt werden.

Mittlerweile aber haben wir viele tausend auf das frühe Mittelalter zielende Ausgrabungen hinter uns. Das wissen Sie, ohne natürlich die Grabungsbefunde im Einzelnen zu kennen. Dennoch sind Sie sich recht sicher, dass die Fundlage für die drei Jahrhunderte imponierend ausgefallen ist. Sofort also beginnen Sie den Epochenkürzer mit ebenso harten Fragen zu bedrängen wie zuvor den Epochenverlängerer. Wieder stellen Sie an den Anfang die Urkunden oder minutiösen Listen, auf denen die Namen von Königen mit ihren Taten, aber auch Ereignisse am Himmel verzeichnet sind. Sie räumen dann womöglich ein, dass da in der Tat vieles ganz unstrittig gefälscht ist und auch der Rest oft genug ungereimt wirkt.

Der windige Textbefund lässt Sie aber nicht gleich aufgeben. Denn Sie haben ja noch die Artefakte: Wie wollen die Geschichtskürzer denn die Millionen von Münzen, Gräbern, Werkzeugen, Speiseschüsseln, Waffen und Schminktöpfe, Herde und Latrinen für eine Milliarde Menschen zwischen Portugal und Japan eliminieren? Wie wollen sie die nach vielen Tausenden zählenden Burgen, Kirchen, Klöster, Ratshäuser und Stadtmauern aus hartem Stein wegbringen. Wo also sollen Millionen Tonnen von Material entsorgt werden?

Sie warten – und das sehr ungeduldig – auf Antwort. Die aber fällt ganz anders aus, als Sie sich gedacht haben. Die Geschichtskürzer bombardieren Sie nämlich ganz dreist mit Gegenfragen. Und die kennen Sie sehr gut, denn es sind Ihre eigenen scharfsinnigen Fragen, mit denen Sie soeben noch selbst den Geschichtsverlängerer aus dem Felde geschlagen haben. Widerwillig müssen Sie die Gegenfragen also schlucken: Wo sind denn – kriegen Sie ganz sanft zu hören – die Millionen von Münzen, Gräbern, Werkzeugen, Schüsseln, Waffen und Schminktöpfe für die 300 Jahre vom frühen 7. bis zum frühen 10. Jahrhundert? Wo kann man die vielen Tausend Tempel, Kirchen, Burgen, Rathäuser, Klöster und Stadtmauern besichtigen oder wenigstens ihre Fundamente anschauen? Wo hat man denn Dinge, die vor 600 und nach 900 so unstrittig und reich angeschaut werden können, in der Periode dazwischen?

Sie werden jetzt einen Moment zögern. Sie erinnern sich daran, dass diese Zeit in der Tat als eine dunkle gilt. Womöglich haben Sie sogar vernommen, dass die Dunkelheit dieses dunklen Zeitalters aus dem Einschlag von Meteoritenschauern erklärt worden ist. Diese seien dafür verantwortlich, dass man so wenig gefunden habe. Das hat Sie nicht überzeugen können, weil ja Art und Form der kulturellen Spitzenleistungen aus der Zeit um 600 in der Zeit nach 900 einfach fortgesetzt werden, weil römische Spätantike (bis 600) und Romanik (nach 900) – wie jedermann bloßen Auges sehen kann – hoch evolutionär verbunden sind. Eine vom Himmel her dezimierte Bevölkerung hätte diese Kontinuität über 300 verlorene Jahre ja gar nicht aufrecht erhalten können, sondern sich in Höhlen verkrochen, um überleben zu können. Aber nicht einmal solche Höhlen mit primitiven Artefakten für ein Existenzminimum sind gefunden worden.

Jetzt werden Sie sich auf die ganz berühmten Artefakte konzentrieren – vor allem auf die Aachener Pfalzkapelle, die nun einmal – so beharren Sie – von 792-799 erbaut worden sei. Die Kürzer sind auf dieses Argument natürlich am allerbesten vorbereitet. Ein eigenes kleines Buch im dickleibigen Illig-Band Das erfundene Mittelalter widmet sich den zahllosen Ungereimtheiten, die diesen Bau merkwürdig aussehen lassen, wenn er im 8. Jahrhundert errichtet worden sein soll.

Und nun haben Sie von den jüngsten Ausgrabungen gehört, dass von Karls Hochadel, Hochklerus und Hochakademien, die in Aachen mit zig Palästen vertreten gewesen sein sollen, nicht einmal eine einzige Scherbe gefunden worden ist.

Die Untersuchung Aachens liefert geradezu das Muster dafür, wie wir uns – von Portugal bis Japan – quälen, die wenigen Artefakte, die wir für die fraglichen 300 Jahre überhaupt ins Auge fassen, dort auch sicher zu verankern. Glücklich haben wir da etwas für 850 bis 900, stehen dann aber von 900 bis 950 in der Leere. Oder wir zeigen zwar nicht Millionen, aber doch vier oder fünf Stücke für die Zeit 600 bis 700 und müssen doch bekümmert bekennen, dass sie kaum anders ausschauen als die zwischen 550 und 600 platzierten Stücke.

Auch der hier das Wort an Sie Richtende beobachtet die dazu gehörigen Kontroversen seit über fünfzehn Jahren und mischt sich mit eigenen Versuchen zur materiellen Widerlegung Illigs ein. Dafür als Sektierer hingestellt zu werden, ist am Ende weniger aufregend, als das Scheitern, den Chronologiekürzer Illig schlagend, also mit zahllosen Artefakten zu widerlegen. Bisher erstreckt sich das diesbezügliche Scheitern auf Polen und Spanien, Sizilien und Armenien, Israel und Deutschland oder auch Apulien und Schweden. Kein wuchtiger Bau oder auch nur irgendein mobiles Objekt ist sichtbar geworden, von dem zweifelsfrei gesagt werden könnte, dass er oder es in das von Illig zur Disposition gestellte Frühmittelalter gehört, also weder in der davor liegenden römischen Spätantike noch in der danach einsetzenden romanischen Zeit untergebracht werden kann. Der sich hier Meldende ist bereit, zu allen angesprochenen Gebieten die öffentlich Debatte anzunehmen, also auch den endgültigen Verriss zu akzeptieren. Aber Debatte muss schon sein. Denn bisher – so stellt es sich von der harten Evidenz her dar – ist Illig zwar wortreich und durchaus gefühlsstürmig angegangen, aber eben nicht fachgerecht falsifiziert worden.