Unter dem Titel „Multikulti in Ur-Wien“ fand sich am 2.8.2010 ein Beitrag von Herbert Lackner zur Geschichte Wiens in der Zeitschrift profil (ein Fund von Peter Mikolasch). Der Untertitel des Beitrags lautet:

Archäologie. Historiker schreiben die Geschichte Wiens neu: Anders als bisher angenommen, war die Stadt zu Beginn des Mittelalters 300 Jahre lang eine menschenleere Ruinenlandschaft.

Zusammengefasst besagt der Beitrag folgendes:

Nach der bisherigen Lehrmeinung hatte ein kleines Grüppchen Menschen nach dem Ende der römischen Besatzung in den Trümmerm des Lagers ausgehalten und so die Völkerwanderungszeit überstanden. Nach und nach (aber ganz langsam) hatte sich die Bevölkerung vergrößert und immer neue Teile des verfallenen Lagers wieder in Betrieb genommen.

Diese Meinung vertritt heute so gut wie kein Wissenschaftler mehr, der sich mit der Geschichte Wiens befasst. Die Ausgrabungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass es keine nennenswerte Siedlungstätigkeit in und um das alte römische Lager gegeben hat. Der Neubeginn erfolgte erst im 9./10. Jahrhundert. Das bedeutet, dass das alte Vindobona für 300 Jahre menschenleer war. Die Menschen nach der Römerzeit haben sich nicht lange halten können.

Während der Römerzeit zeichnen die Funde eine hochentwickelte, multikulturelle Gesellschaft nach, ab dem 4. Jahrhundert zog man sich offenbar immer mehr hinter die Mauern des Römerlagers zurück, ab 450 übernahmen die Ostgoten das Kommando, 100 Jahre später zogen die Langobarden durch. Danach wird es still in Vindobona. Erst ab dem 9. Jahrhundert haben sich dort wieder Menschen neu angesiedelt. Woher sie kamen ist ungewiss.

Ein derartiger Beitrag (Audio) verlangt natürlich einen Leserbrief, denn es gibt keinen Grund und es macht keinen Sinn, dass das fruchtbare Donautal 300 Jahre unbewohnt gewesen sein soll:

Zu dem Artikel „Multkulti in Ur-Wien“ von Herbert Lackner in profil 31 vom  2. August

300 Jahre fiktive Geschichte

Es freut mich, dass jetzt für das frühmittelalterliche Wien eine klare Linie vertreten wird: „Mehr als 300 Jahre lang war das alte Vindobona menschenleer … Wölfe suchten in den Trümmern nach Beute.“

Es freut mich doppelt, dass sie Prof. Ferdinand Opll vertritt, hat er doch früher gegen meine These argumentiert, dass 300 Jahre Frühmittelalter im späteren Mittelalter erfunden worden sind. Dies wurde von mir öffentlich auch mit den Professoren Karl Bauer, Heinz Dopsch und Hermann Fillitz in Wien und Salzburg diskutiert. Stein des Anstoßes war meine ab 1996 verbreitete These, dass 300 Jahre Frühmittelalter im späteren Mittelalter erfunden worden sind. Die jetzt für Wien konstatierte Fundleere gilt für ganz Europa und noch darüber hinaus. Allerdings wird sie üblicherweise als dramatische Fundarmut gesehen, weil notgedrungen immer einige Artefakte die fiktiven Zeiten belegen sollten. Diesen gordischen Knoten zerschlägt nun Prof. Opll für Wien.

Jetzt kann man wählen: Entweder 300 Jahre lang Wölfe und schriftliche Dokumente, die uns Bären aufbinden oder: 300 erfundene Jahre werden von der Zeitachse gestrichen, die schriftlichen Dokumente bleiben gefälscht, aber das Leben in Europa geht nahtlos weiter, abgesehen von humusbildenden Arealen, die in den Umbruchszeiten unbewohnt geblieben sind. So entfällt das unlösbare Problem, sinnvoll zu begründen, warum Wien, warum das ganze fruchtbare Donautal zwischen Linz und Baden für drei Jahrhunderte unbewohnt geblieben wäre. Und die Archäologin Ladenbauer-Orel behält mit ihren Befunden fürs 9./10. Jh. recht. Wie hätte sie damals wissen sollen, dass die Jahre 614 und 911 direkt aneinander grenzen? Deshalb findet auch die ungarische Landnahme nicht 896, sondern um 600 statt, so dass die kurz zuvor eingedrungenen Awaren kaum Zeit hatten, ihre Anwesenheit mit Funden zu belegen.

So stößt die Mediävistik offene Türen auf und beendet Jahrzehnte unergiebiger Fundverwischung.

Dr. Heribert Illig

Die wesentlichen Buchtitel:

H. Illig: Das erfundene Mittelalter; Berlin (seit 1996 in der 21. Auflage)

H. Illig: Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Mittelalter erfunden wurden (seit 1999 in der 7. Auflage)

Im Jahr 2000 schrieb Prof. Opll (wie oben bereits angedeutet) noch ganz anders. Am 16./17. 10. 2000 fand die Tagung “Zeitbegriff, Zeitmessung und Zeitverständnis im städtischen Kontext” statt. Der  Illig Vortrag: “Zum städtischen Zeitverlust im frühen Mittelalter” wurde abgedruckt auf den Seiten 1-19 des gleich betitelten Tagungsbandes (Zeitbegriff, Zeitmessung und Zeitverständnis im städtischen Kontext, 2002, Linz), herausgegeben durch Willibald Katzinger im Auftrag des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung. Auf Seite 5 schrieb Illig:

“Beginnen wir mit Wien, um von dort einen großen Bogen nach Westen zu schlagen. Drei Tage vor diesem Referat fand dort eine Podiumsdiskussion an der Wiener Volkshochschule über meine Thesen statt, bei der sich [Prof.] Karl Brunner und der Autor gegenübersaßen. Die Suche im Internet nach einer aktuellen Information über Wien erbrachte folgenden Satz von Ferdinand Opll:

Aus der Epoche vom 5./6. bis zum 9. Jahrhundert haben sich keinerlei schriftliche Nachrichten über das Schicksal dieser Siedlung an der Donau erhalten, dennoch haben Untersuchungen auf der Basis von archäologischen und namenskundlichen Hinweisen ergeben, dass man mit dem Fortbestehen zumindest einer ‘Restsiedlung’ rechnen muß.

Dies lässt sich als Umschreibung dessen einschätzen, dass es mit der Kontinuität zu Wien zwischen römischer und romanischer Zeit nicht zum besten steht. Brunner war dadurch keineswegs irritiert, sieht er doch das Land zwischen Enns und Donauknie in der fraglichen Zeit ohnehin als unbesiedelt.”