von Hans-Ulrich Niemitz (aus Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 1/1994)

Feudalismus und Themenreform

Viele Historiker teilen bekanntlich die Geschichte in drei große Epochen ein: das Sklavenhaltertum, den Feudalismus und den Kapitalismus. Für mich war der Feudalismus fest verbunden mit der Vorstellung, daß nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches die Anarchie ausbrach und individualistisch geprägte gewalttätige Ritter – die späteren Adligen – allmählich die Macht übernahmen. Sie kämpften gegeneinander und preßten die schutzlosen Bauern bzw. Leibeigenen wie eine Mafia aus und “schützten” sie natürlich gleichzeitig auch vor der Ausbeutung durch andere Ritter.

Wie war ich überrascht zu hören, daß es neben dieser Form des Feudalismus eine andere Form gab, nämlich die der Byzantiner. Byzanz als ein Fortsetzer, besser als Kern oder Teil des römisches Reiches war nicht untergegangen. Letztlich verschwand mit dem, was wir als Zusammenbruch bezeichnen, nur die alte Struktur, die das römische Reich bestimmte, nämlich die Trennung von ziviler und militärischer Gewalt auf der Verwaltungsebene der Provinzen. Nach dem “Zusammenbruch” verschmolzen beide Gewalten: im Westen – also “bei uns” – chaotisch und dezentral und mit Hilfe des Lehnswesens und der Ritter; im Osten in Byzanz zentral und geplant und langsam reifend. Das geschah mit Hilfe der Themenverfassung.

Die Themengouverneure (die Strategen) besaßen ausdrücklich sowohl die Kontrolle über die zivile Provinzverwaltung, die sie letztlich auflösten und umorganisierten, als auch die über die regionalen Truppen. Diese rekrutierten sie aus ihren Provinzen. Die lokalen Truppen, und das war das entscheidende Neue, waren nun nicht mehr Teil eines im ganzen Reich beweglichen Söldnerheeres, sondern gleichzeitig Soldaten und Bauern. Als landbesitzende Bauern, so hofften die byzantinischen Politiker, müßten die Soldaten besser kämpfen, galt es doch ihr eigenes Land zu verteidigen. Die Provinzen, die sich letztlich auflösten, wandelten sich zu den Themen. Ein Thema hieß anfangs die in einem Distrikt einquartierte Grundeinheit der Armee, die ein Stratege kommandierte [Maier 82] und bekam nun zusätzlich die Bedeutung einer regionalen Einheit. So etwa jedenfalls lautet die Theorie – und die meisten Byzantinisten stimmen dem zu, wenn sie sich auch in  einem entscheidenden Punkt streiten.

Karayannopulos behandelt genau diesen Punkt in seiner 1959 erschienenen Habilitationsschrift, einer Schrift also, mit der man sich zum Professor qualifiziert. Er ist nicht irgendein Byzantinist, sondern gehört zusammen mit seinem Kollegen Günter Weiss, den ich weiter unten noch vorstelle, zu den Autoren eines Standardwerks der Byzantinistik. Beide sind Verfasser einer zweibändigen Quellenkunde zur Geschichte von Byzanz. Karayannopulos’ Habilitationsschrift behandelte das zentrale Problem der Zeit, die die Byzantinisten die mittelbyzantinische Zeit (7. bis 12. Jh.) und wir Mitteleuropäer frühes und hohes Mittelalter nennen. Ihr Titel: “Die Entstehung der byzantinischen Themenordnung“.

Der zentrale Streitpunkt betrifft die Zeit: Wann wurde die Themenordnung eingeführt? Drei Möglichkeiten sind in der Diskussion. Geschah es vor den Kriegen mit der islamischen Welt, nämlich zu Zeiten der Perserkriege (also vor 641), oder als Reaktion auf die Arabereinfälle (nach ca. 675) oder ganz allmählich gleitend ohne große Sprünge in den 500 Jahren von etwa 450 bis 950? Kam also die Themenordnung früh oder spät, schnell oder langsam? War sie Ausdruck eines politischen Willens und schnellen Handelns oder eher unbewußtes zwangsläufiges und sich lange hinschleppendes Reagieren auf Notwendigkeiten?

Alle diese Fragen sind bis heute nicht geklärt [Schreiner 1986, 147]. Aber nicht nur über Zeit und Zeitpunkte wird diskutiert, sondern auch über die Bedeutung des Begriffes Thema überhaupt. Die Diskussion ist deshalb so schwierig, weil für die byzantinische Geschichte von etwa 600 bis 900 die Quellenlage generell sehr schlecht ist und die Themen betreffend sogar noch schlechter. Man weiß im Grunde genommen nichts über diese Zeit. Dies gibt Karayannopulos zu, wenn er schreibt:

“Das Schweigen der Quellen kann nur dann erklärt werden, wenn wir unterstellen, daß der Begriff Thema ursprünglich nur innerhalb der kaiserlichen Zentralverwaltung als Begriff der Dienstsprache bekannt war. Dann könnte er im Verlauf der Zeit und viel später und nur in einem beschränkten Rahmen in die Quellen eingedrungen sein” [Karayannopulos 95].1

Damit ist gesagt, daß die uns bekannten Aussagen über diese Zeit sich auf Quellen viel jüngeren Datums stützen, also auf keine zeitgenössischen Dokumente.

Aber es kommt noch viel toller! Wegen des Quellenmangels zu den Themen schlossen die Byzantinisten indirekt auf das Vorhandensein der Themen. Sie “bewiesen”, daß es Landbesitz der Soldaten gegeben habe – die sogenannten Soldatengüter. Dabei füllte die Phantasie der Historiker die Quellenlücken. Zwei von Karayannopulos genannte bekannte Byzantinisten stützen sich

“auf Nachrichten aus viel späteren Quellen, die sie anachronistisch ins 7. Jh. verlegen, oder sie stützen sich auf überhaupt keine Quellen, so unglaublich dies auch erscheinen mag” [Karayannopulos 15].

So zum Beispiel E. Stein, der nur über die kaiserliche Versprechung, nach dem Krieg Soldatengüter einzurichten,

“die Errettung des Reiches vor der Persergefahr erklären kann. Sonst müßte man in dem Sieg der Byzantiner ein Wunder sehen” [Karayannopulos 15f].

Frühere Betrachtungen zum Mittelalter zeigten schon, daß die Worte Wunder und Anachronismen höchste Alarmstufe auslösen müssen; diese Worte weisen auf ungelöste Forschungsprobleme hin. Ostrogorsky, der übrigens ein klassisch zu nennendes Geschichtswerk über Byzanz geschrieben hat, kommt die Meinung von E. Stein unwahrscheinlich vor. Deshalb behauptet er, die Soldaten hätten ihre Güter schon vorher bekommen. Aber, sagt Karayannopulos:

Weder der eine [Stein] noch der andere [Ostrogorsky] führt jedoch irgendeine Quelle für seine Ansicht an” [Karayannopulos 16].

Wenn die Quellenlage so verzweifelt schlecht ist, daß gestandene Historiker für das Problem der Themenentstehung Anachronismen und freie Erfindungen schaffen, dann ist zu vermuten, daß auch hier – in der byzantinischen Geschichte – ein schwerwiegendes chronologisches Problem vorliegt.

Ein längeres Zitat zum Problem der Themenreform weist auf ein Spezialproblem hin, das die Phantomzeit-Hypothese elegant lösen kann. Für die Zeit vor dem 10. Jahrhundert finden sich keine Hinweise, daß die Schaffung der Themen und die Schaffung der Soldatengüter in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Nimmt man diesen Informationsstand ernst, dann müßte verwunderlicherweise etwa 300 Jahre lang die wesentliche Schöpfung der  Themenreform nichts mit der Themenreform zu tun gehabt haben. Hier das Zitat von Lilie aus seiner Studie von 1976 zum Vordringen der Araber und der Reaktion der Byzantiner.

“Vor dem Eingehen auf die Gliederung des byzantinischen Reiches im 7. und 8. Jhd., d.h. in diesem Zusammenhang vor allem auf die sog. ‘Themenreform’, ist allgemein zu sagen, daß sich in den Quellen dieser Zeit weder ein Hinweis für das punktuelle Einsetzen dieser neuen Ordnung findet noch irgendeine Aussage über das Aussehen, die Gestaltung und den Inhalt der neuen Provinzen, d.h. der Themen. Informationen dieser Art setzen frühestens in der zweiten Hälfte des 8. Jhd. ein und fließen auch in dieser Zeit noch sehr spärlich. Reichere Nachrichten finden sich erst im 9. und 10. Jhd. Insbesonders der oft postulierte Zusammenhang zwischen der Schaffung der Themen und der Entstehung der Soldatengüter – der stratiotika ktemata – findet in den Quellen zumindest des 7. Jhds. keinerlei Stütze, Grund genug für viele, einen solchen Zusammenhang überhaupt abzulehnen” [Lilie 287ff].

Man kann noch nicht einmal entscheiden, ob der Terminus Thema zu der vermuteten Entstehungszeit um etwa 650 eine Verwaltungseinheit, also Provinz, oder nur eine militärische Abteilung benennen soll.

“Wenn nun aber, um auf die Entstehung der neuen Provinzordnung zurückzukommen, diese sich tatsächlich in so vielen und wesentlichen Punkten von der früheren Ordnung unterscheidet, wie es von der Forschung allgemein angenommen wird, so ist das Schweigen der Quellen über ihre Entstehung äußerst merkwürdig und läßt, methodisch gesehen, nur den Schluß zu, daß die Themenorganisation nicht in einem einzigen Schöpfungsakt gezeugt worden ist, sondern daß sie das Produkt einer längeren Entwicklung aus kleinen Anfängen heraus darstellt. Gleiches gilt für die Frage der stratiotika ktemata”, also der Soldatengüter [Lilie 289].

Dreihundert gestrichene Phantomjahre erklären sowohl den Quellenmangel als auch das scheinbare lange Nebeneinanderherlaufen von Themen und Soldatengütern. Phantomzeiten erzeugen keine echten Quellen und gestatten keine echten Entwicklungen!

Noch ein Blick auf die Quellen, die die Historiker benützen. Das sind die Schrift de thematibus (Über die Themen) von Konstantinos Porphyrogennetos, dem späteren Kaiser Konstantin VII. (913-959) – also eine sehr späte  Schrift -, und eine Chronik für die Jahre 284 bis 813, verfaßt von dem Chronisten Theophanes Confessor (ca. 750-817). In dem Werk de thematibus des Konstantin stehen Nachrichten – so Karayannopulos -,

“die derart verworren sind, daß man in ihnen durchaus keine unmittelbare und wesentliche Hilfe zur Aufstellung einer exakten Chronologie der Themenordnung finden kann” [Karayannopulos 24].

Die Widersprüchlichkeit in allen Angaben zu den Themen sei

“Ausdruck der Unsicherheit des Autors, dem konkrete Grundlagen für seine Bericht fehlen und der sich deshalb bemüht, auf syllogistischem2 Wege zu seinen Schlüssen zu kommen. Das ergibt sich auch daraus, daß Konstantin VII. sich einige Zeilen weiter selbst widerspricht …” [Karayannopulos 27].

Wußte Konstantin nicht, worüber er schrieb? Und wenn er nichts wußte, warum schrieb er dann? Karayannopulos kommt zu dem Schluß:

“Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Zeugnisse des Konstantinos Porphyrogennetos keine genügende Grundlage für eine sichere Datierung der Anfänge der Themenordnung darstellen” [Karayannopulos 28].

Und was weiß man über Theophanes und seine Chronik? Er ist der einzig uns bekannte Historiker, der über das 7. Jahrhundert berichtet [Schreiner 1986, 109]. Was er über die Themen zu berichten hat, bringen heutige Historiker mit dem Begriff “Anachronismus” in Verbindung. Schreiner schreibt 1986:

“Der Ausdruck [Thema] begegnet uns erstmals 622 und 626/27 im Geschichtswerk des Theophanes und kann nach den Ausführungen von OIKONOMIDES […] nicht mehr als anachronistische Interpolation abgetan werden” [Schreiner 1986, 118].

Oder vielleicht doch? Karayannopulos bemerkt, daß Theophanes mit einer unklaren Terminologie arbeitet und deshalb nicht erkennbar ist, ob er die seiner Zeit oder die seiner Quellen benutzt. Theophanes ist jedoch nicht der einzige, wie Schreiner darstellt:

“Eine besondere Schwierigkeit bei der Auswertung [schriftlicher Quellen] stellt für uns der rhetorische Sprachgebrauch der Byzantiner dar, der es weitgehend vermeidet, zeitgenössische Fachausdrücke zu verwenden und stattdessen Sachverhalte umschreibt oder sich einer veralteten, antiken Terminologie bedient. Diese Erscheinung beschränkt sich keineswegs auf die “Schöne Literatur” im engeren Sinne, sondern macht auch vor Historikern und Juristen nicht halt und wirkt sich bisweilen erheblich auf das Verständnis sozial-, wirtschafts- und verwaltungsgeschichtlicher Vorgänge aus” [Schreiner 1986, 112].

Wenn man Fälschungen unterstellt, dann klären sich dieses terminologischen Problem; wie soll ein Fälscher für eine erfundene Zeit zwei Terminologien – die seiner Zeit und die der zu fälschenden Zeit – sauber auseinanderhalten? Karayannopulos faßt 1959 zusammen:

“Kein Zeugnis der Quellen erlaubt sichere Schlüsse in bezug auf die genaue Datierung der Anfänge der Themenordnung” [Karayannopulos 35].

und Schreiner bestätigt 1986:

“Die Themenadministration ist erst aus Quellen des 10. Jh. besser bekannt, und Rückschlüsse auf frühere Jahrhunderte sind kaum möglich” [Schreiner 47].

Wie ansonsten die Byzantinisten Quellen dieser Zeit großzügig zeitlich einordnen, verrät eine Fußnote bei Frank Thiess in seinem Buch Die griechischen Kaiser. Dort erwähnt er das “Nomos Georgikos”, ein Gesetz, das “unzweifelhaft” [Schreiner 1986, 146] auf ein freies Bauerntum hinweist, also auf eine Überwindung der Sklavenhaltergesellschaft. Ostrogorsky ist dafür

“eingetreten, daß dieses Gesetz in der Regierungszeit Justinians II. [685-711] erlassen sei. Von der Zuweisung an Justinian I. [527-565] oder Leon III. [717-741] ist man abgerückt. […] Die Kodifizierung setzt Dölger […] in das Jahr 740” [Thiess 917].

Die Unsicherheit umspannt einen Zeitraum von 527 bis 740, also gut 200 Jahre! Bei Schreiner, der nicht zweifelt, lautet es dann kühn zum Nomos Georgikos:

“Obwohl Ort und Zeitpunkt seiner Entstehung in der heute vorliegenden Form weithin offen bleiben, da eine Reihe von Rechtsvorschriften des 4. und 5. Jahrhunderts aufgenommen sind […], spiegelt der Text doch überwiegend Verhältnisse des 7. Jahrhunderts wider” [Schreiner 146].

Vielleicht, so mahnen wir vorsichtig an, gehört dieses Gesetz – wenn es denn  keine Fälschung ist – doch in das 5. Jahrhundert, weil es das 7. Jahrhundert gar nicht gegeben hat.

Nun folgt der angekündigte Lösungsvorschlag zur Einführung der Themenordnung. Wie Karayannopulos richtig bemerkte, gelang es Byzanz im Gegensatz zu Westrom, seine Armee nicht überfremden zu lassen und den barbarischen Anteil in der Armee zurückzudrängen – ein Prozeß, der schon ab etwa 450 beginnt und dazu führt,

“daß unter diesem Kaiser [Justinian I., 527-567] das einheimische Element in der Armee gegenüber dem barbarischen das Übergewicht bekommt” [Karayannopulos 44].

Die Entwicklung der Entbarbarisierung der Armee und zu den Themen und der Einrichtung von Soldatengütern hin verlief zwar langsam und ist als allmähliches Zurückdrängen oder zumindest Eingrenzen der adligen Großgrundbesitzer zu verstehen, ist aber – so unsere Meinung – etwa 80 Jahre nach Justinian I. soweit abgeschlossen, daß sich schon die Gewohnheit herausgebildet hat, die Soldatengüter einzutragen [Karayannopulos 87] und damit – zur Freude des Historikers – Dokumente zu erzeugen. Allerdings befindet man sich 80 Jahre nach Justinian I. schon etwa im Jahre 945, da für uns die Zeit von etwa 614 bis etwa 911 als Phantomzeit gilt. Alle Irrungen und Wirrungen der Datierung und Bewertung der Einführung der Themen können damit entfallen. Die Themen sind planvoll und recht schnell eingeführt worden.

Im Grunde genommen hat die Themenordnung versagt, weil sie die alte Größe des Reiches nicht retten konnte – die östlichen Provinzen gingen bald nach dem Tod des Justinian I. verloren. Sie bewahrte aber im Kern das Reich. Diese Einsicht führte damals die Kaiser dazu, nach den Verlusten der wichtigsten Ostprovinzen die Themenordnung und die Rolle der Soldatengüter eindeutig juristisch zu fixieren, um das Volk auf ihre Seite zu bringen und zu militärischen Höchstleistungen anzuspornen. Im 11. Jahrhundert – also relativ bald – verschwand die Themenordnung wieder, weil sich die militärische Situation entspannte und die Adligen (als die Großgrundbesitzer) die Soldatengüter wieder unter ihre Kontrolle bringen konnten.

Kontakte und Kämpfe mit den Arabern und anderen Völkern
Das historische Panorama von Byzanz aus gesehen

Peter Schreiner behauptet 1986 in seinem Buch Byzanz – Grundriß der Geschichte:

“Das Vordringen der Araber auf byzantinisches Territorium ist von den Fakten her dank einer verhältnismäßig umfassenden Quellenlage relativ gut bekannt” [Schreiner 1986, 137],

muß dann aber zugeben, daß die Kernfragen dieser Zeit für den Historiker unbeantwortet sind: Worauf beruht der rasche Siegeszug der Araber? Mit welchen Mitteln antworteten die Byzantiner? Wie erklärt sich die erfolgreiche byzantinische Offensive seit der Mitte des 9. Jahrhunderts? Und er beklagt, daß über Handelsbeziehungen mit den Arabern in den frühen Jahrhunderten nicht geforscht worden ist [Schreiner 1986, 138]. Er sagt damit indirekt, daß man für diese Zeit bei einer Faktengeschichte (Dynastien und Kriege) steckengeblieben ist.

Ralf Johannes Lilies Aussagen zur Quellenlage in seiner schon oben genannten Studie, die sich mit der Reaktion der Byzantiner auf die Ausbreitung der Araber beschäftigt, scheinen Schreiner Lügen zu strafen:

“Allgemein ist zu sagen, daß das 7. und 8. Jhd. in der Auswertung der Quellen große Schwierigkeiten auferlegen, nicht nur wegen des Mangels an Material, sondern auch, weil es nur sehr begrenzt möglich ist, Quellen der früheren und der späteren Zeit zu verwenden. Eine solche Heranziehung setzt zumindest einen einigermaßen linearen Verlauf der geschichtlichen Entwicklung voraus, der hier nicht gegeben ist” [Lilie XXII].

Hiermit erklärt Lilie, daß es aus den wenigen Quellen der Zeit heraus nicht möglich ist, die Geschichte dieser Zeit zu schreiben! Kurz vor dieser Textstelle sagt er:

“Die nichtschriftlichen Quellen sind für uns kaum von Wert: Numismatik und ähnliches ist kaum anzuwenden bzw. auszuwerten, die Gefahren einer Fehlinterpretation sind hier m.E. größer als der Nutzen, wie ja auch die verschiedenen Kontroversen beweisen, die aus demselben Material völlig gegensätzliche Schlüsse ziehen. Archäologische Arbeiten dagegen wären sehr brauchbar und wünschenswert, besonders als Ergänzung zu den literarischen Quellen (für Stadtgeschichte: Rückschlüsse vom ummauerten Areal auf die Bevölkerungszahl; Lage, Verteilung und Zustand der Kastra, vor allem der Grenzregion u.s.w). aber leider exis tieren bis auf wenige Ausnahmen bisher kaum Arbeiten dieser Art. Sie würden unter Umständen einige strittige Fragen klären können” [Lilie XXII].

Das sind deutliche Worte zur Quellenlage. Und das ist das Eingeständnis, daß man fast alles “Wissen” über diese Zeit – eigentlich verbotenen! – Interpolationen verdankt, also Rückschlüssen aus Quellen, die vor oder nach dieser Zeit liegen.

Was nun soll zwischen Byzantinern und Arabern passiert sein? Die Byzantiner sollen, nachdem sie eingesehen hatten, daß es nur noch galt, ihre Kernlande zu verteidigen, eine von der Bevölkerung entleerte Grenzzone (Kilikien) zwischen die beiden Reiche gelegt haben, die sie nur militärisch besetzten. Die beinahe alljährlich durchgeführten Kriegszüge der Araber, die immer tief ins Landesinnere vordrangen und sehr oft in Blickweite Konstantinopels gelangten, sollten schon im Keim erkannt werden, um die Bevölkerung evakuieren und um militärisch reagieren zu können. Eine Quelle aus dem 10. Jahrhundert (Nicephori Augusti 117, col. 925-1002) inspiriert Lilie zu folgender Schilderung dieser Vorgänge: Spione und Kundschafter ergründen, wann wieder ein arabischer Angriff bevorsteht.

“Hatte man dies erfahren, wurden die Themata zusammengezogen und marschierten an die Kleisuren [Grenzfestungen], während die Invasoren von ausgesuchten Truppen überwacht wurden. Konnte das Heer nicht rechtzeitig zur Abwehr zusammengezogen werden, wurde die Bevölkerung mit Hab und Gut in sichere Plätze evakuiert, [so die Quelle, in der …] alle diese Maßnahmen aufgeführt werden, immerhin zu einer Zeit, als Byzanz eindeutig die vorherrschende Macht in Vorderasien darstellte und kaum Angriffe zu fürchten hatte. Um wieviel intensiver werden diese Vorkehrungen dann im 7. und 8. Jhd. gewesen sein?” [Lilie 306/Fn.].

Byzanz ging also in die Defensive. Lilie faßt das Ergebnis seiner gesamten Studie so zusammen:

“Byzanz reagierte auf den Verlust seiner Orientprovinzen, in denen das ökonomische Schwergewicht des Reiches gelegen hatte, und auf die fortgesetzen arabischen Angriffe und Eroberungsversuche im 7. und 8. Jhd., indem es sich auf eine vollständige Defensivkonzeption zurückzog. Es fand in den Nordwestgebieten Kleinasiens und in den Pontusprovinzen südlich des Schwarzen Meeres den notwendigen Ersatz für die verloren gegangenen Provinzen Syriens und Ägyptens und es richtete sein Hauptaugenmerk darauf, diese Gebiete auszubauen und, so gut es ging, gegen die arabischen Einfälle abzuschirmen. Im übrigen wurde den Provinzen eine größere Freiheit und Selbständigkeit als bisher zugestanden, dies freilich kompensiert durch die übermächtige Position der Hauptstadt Kpl. [Konstantinopel], die in nahezu jedem Bereich zum Mittelpunkt des Reiches wurde, unterstützt von den neuen Kerngebieten in der kleinasiatischen Nachbarschaft der Hauptstadt. Sicher, die neue Verteidigungskonzeption des byzantinischen Reiches verzichtete völlig auf spektakuläre Erfolge und sie ermöglichte es den Arabern, immer wieder tief in das byzantinische Gebiet hinein vorzustoßen, zu rauben, zu plündern und Byzanz bisweilen zu demütigenden Zugeständnissen zu zwingen, aber sie verhinderte letztendlich jeden dauerhaften Erfolg der Invasoren, und man wird kaum übertreiben, wenn man das Überleben des byzantinischen Reiches im 7. und 8. Jhd. und damit auch seinen schließlichen Wiederaufstieg im 9. und 10. Jhd. in letzter Konsequenz auf die Befolgung dieser Verteidigungskonzeption, gepaart mit dem festen Willen zu überleben, zurückführt” [Lilie 359f].

Dieses schöne Bild bekommt Risse, sobald man Lilies eigene Studie gründlich durchliest und die von ihm geäußerten Verwunderungen ernst nimmt. Dabei ist zu beachten, daß Lilie nur bis in das Jahr 800 schaut. Seine Studie überstreicht also nicht die ganze Phantomzeit. Er kann deshalb in seinen Verwunderungen wenig Hinweise für das Ende dieser Zeit geben – bis auf eine Bemerkung, die bestätigt, daß eigentlich zwischen etwa 720 und 950 nichts passierte:

“Die Grenzlinie selbst aber blieb ungefähr ab 720 a.d. konstant und änderte sich kaum mehr, bis die großen byzantinischen Offensiven des 10. Jhds. sie wieder weit nach Osten vorrücken ließen” [Lilie 189f].

Die Fischer Weltgeschichte formuliert es so:

“Dagegen gab es an der byzantinischen Ostgrenze keine erheblichen territorialen Veränderungen mehr; die Tauroslinie […] bewahrte für Jahrhunderte den status quo mit einem genau durchdachten System flexibler Verteidigung” [Maier 81].

Dieser “status quo” zeigte eine innere Dynamik, und man stellte ihn oft gewaltsam wieder her. Ich frage mich, ob die Gewalt auf Seiten der kämpfenden Soldaten oder auf Seiten der schreibenden Historiker lag. Wir lesen zum Beispiel bei Lilie von der Stadt Mopsuestias, die die Araber schon früh  eingenommen haben sollen, nämlich um etwa 703 [Lilie 114]. Doch dann, etwa zwei Generationen nach der Einnahme der Stadt durch die Araber zeigen die Einwohner um ca. 775 byzantinischen Patriotismus und töten 1.000 Araber wie eben erst eingefallene Besatzer. Lilie bezieht sich auf Theophanes (a.m. 6264, 446; Kederenos II 17) und schildert den Vorgang so:

“Theophanes berichtet, daß die Einwohner Mopsuestias von den Arabern 1.000 Mann töteten. Die Nachricht mutet etwas merkwürdig an, da die Stadt schon seit langer Zeit in festem Besitz der Araber und auch gut befestigt war (s.o. S.114f.). Von einer byzantinischen Rückeroberung in der zweiten Hälfte des 8.Jhds. [ca. 775] ist nichts bekannt, auch früher nicht, ebensowenig wie von einer nochmaligen Einnahme durch die Araber, die dann später ja auch stattgefunden haben müßte, denn am Ende des Jhds. [ca. 800] war die Stadt arabischer Besitz. Möglicherweise handelt es sich um eine Verwechslung des Theophanes, oder der Name wird von ihm als pars pro toto für Kilikien überhaupt benutzt” [Lilie 171/Anmerk. 36].

Möglicherweise – so die Hypothese bei einer Chronologierevision – handelt es sich aber um Inkonsistenzen in der Beschreibung erfundener Zeiträume.

Massenumsiedlungen ohne Proteste

Im Zusammenhang mit den Araberkriegen veranlaßten die byzantinischen Kaiser große Umsiedlungsaktionen. Zum einen, um – wie oben schon erwähnt – Gebiete aus militärisch-taktischen Gründen zu entvölkern, zum zweiten, um durch Kriege und Pest entvölkerte Regionen wieder zu besiedeln und zum dritten, um aufständische Bevölkerungen in ihnen fremden Gebieten zu isolieren und zu befrieden.

So ließ angeblich Konstantin V. im Jahre 763 aus Bulgarien 208.000 Slawen nach Bithynien – dem Konstantinopel gegenüberliegenden Teil Kleinasiens – umsiedeln.

“Diese Ansiedlung scheint ohne jede Komplikation vonstatten gegangen zu sein, auch von Reibereien zwischen den alteingesessenen Bewohnern der Provinz und den Neuankömmlingen ist nichts bekannt” [Lilie 245],

wundert sich Lilie – und er wundert sich so gründlich, daß er an anderer Stelle die Glaubwürdigkeit seiner Quelle glaubt beweisen zu müssen:

“es fällt auf, daß Theophanes, unsere ausführlichste Quelle, bei den gro ßen Umsiedlungen sowohl Justinian II. als auch Konstantin V., in deren Verlauf einmal 30.000 Familien und später weiter 208.000 Slawen in Bithynien angesiedelt worden sind, keine Klagen der anderen Einwohner der Provinz erwähnt. Daraus kann man nur schließen, daß es eben keine gegeben hat, denn bei der Feindseligkeit, die der Chronist gegen beide Kaiser hegt, würde er wohl doch kaum solche negativen Begleitumstände verschwiegen haben” [Lilie 253].

Ich wage anderes daraus zu schließen: Theophanes ist ein erfundener Theophanes (ein Pseudo-Theophanes) und seine Erfinder waren sich solcher Widersprüche, die erst heute deutlich werden, nicht bewußt, als sie ihn mitsamt seiner Chronik schufen.

Peter Schreiner hat noch ein anderes Problem der Umsiedlungen zu bieten – die Rebyzantinisierung Griechenlands (eigentlich des ganzen Balkans) um etwa 850. Nach dem Einfall der Slawen, der schon um 590 begonnen und um 650 dazu geführt haben soll, daß praktisch die Griechen verdrängt waren, soll nach 200 Jahren Slawenzeit durch Umsiedlungen (oder wer weiß wodurch) die Bevölkerung wieder zu waschechten Griechen geworden sein. Komplizierte linguistische, toponymische, also ortsnamenbezogene, und archäologische Untersuchungen brachten keine Klarheit, wie und warum das alles geschehen konnte [Schreiner 1986, 134]. Letztlich haben wir hier wieder das Phänomen, daß nach etwa dreihundertjähriger historischer Entwicklung derselbe Zustand erreicht ist wie zu Beginn – als ob nichts passiert wäre. Da aber doch etwas passiert sein muß, wenn man an die überlieferte Chronologie glaubt, gestalten sich die Untersuchungen für diesen Zeitraum so schrecklich unübersichtlich …

Zypern, ein neutrales und gemeinsam besteuertes Niemandsland?

Da Nachrichten über die Mittelmeerinsel Zypern extrem rar sind, spekulieren die Historiker auch hier und kommen zu einer ganz besonders überraschenden Lösung. Eigentlich muß diese Insel ständig zwischen den Arabern und den Byzantinern umkämpft gewesen sein. Das nahmen die ersten Forscher, die sich mit der Geschichte des Mittelmeers, der Seefahrt und den Seekriegen dort beschäftigten, auch an. Sie mußten sich aber eines besseren belehren lassen durch eine Spezialstudie von Jenkins [Jenkins 1953], die besagt:

“Diese Insel, seit 689 vertraglich ausgehandeltes Niemandsland zwischen Arabern und Byzanz, entwickelte sich zu einer Art Freihandelszone und handelspolitischer Drehscheibe zwischen Ost und West” [Schreiner 1986, 43].

“Sie scheint […] den Status eines neutralen Niemandslandes eingenommen zu haben, das beiden Seiten Tribut zahlte” [Lilie 242],

bis dann 965 Zypern wieder byzantinisch wurde [Schreiner 1986, 204/Zeittafel]. Es soll schon zuvor Verträge von 659 zwischen den Arabern und den Byzantinern gegeben haben, die die Teilung des Steuereinkommens sowohl für Zypern als auch für Armenien und Iberien regelten [Thiess 729]. Später – im Jahre 688 – gab es einen Vertrag zwischen Justinian II. und dem Kalifen Abd-el-Malik bezüglich Zypern, der “bestätigt” ist von dem arabischen Historiker Macudi (oder Mascudi – gestorben 956; nach Endreß 202), von dem uns schon bekannten und in seiner Existenz angezweifelten Theophanes (um 800) und schließlich von Konstantin VII. (um etwa 940) [Jenkins 1007]. Das bringt also für das Jahr _800 eine zweifelhafte und zwei sehr späte und gleichzeitig auftretende Bestätigungen aus schriftlichen Quellen.

Wie diese Teilung in der politischen Realität ausgesehen haben soll, ist unklar. Man hat keine dokumentarischen oder archäologischen Quellen, die den doch notwendigen sowohl arabischen als auch byzantinischen Verwaltungsbeamten und Polizeitruppen einen Wohn- und Arbeitsplatz zuweisen [Jenkins 1010]. Dagegen lassen sich bei Jenkins etwas verworrene Hinweise finden, daß auch Kriegsflotten beider Parteien in Zypern Station gemacht haben sollen, wobei es dann kriegerische Auseinandersetzungen in Inselbuchten und um Häfen gegeben haben soll bis hin zu Plünderungen der Insel [Jenkins 1012f]. Zypern war also doch umkämpft. Mir scheint, daß dieses widersprüchliche und damit unglaubwürdige Bild entstehen muß, wenn Historiker kurzfristig geltende Verträge (wenn sie denn echt sind – das kann ich von hier aus nicht prüfen) wegen dreihundertjähriger Phantomzeiten strecken mußten.

Allerdings hat man auf Zypern doch Archäologisches gefunden: ein einziges Siegel für die Zeit von etwa 700 [Schlumberger, Sigillographie, 304, laut Jenkins 1009]. An der korrekten Datierung zweifele ich. Meiner Meinung nach geht man viel zu optimistisch mit den Siegeln um; Schreiner merkt an:

“Die quellenkundliche Problematik der Siegel liegt vor allem in ihrer  Datierung, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nur auf das Jahrhundert eingegrenzt werden kann” [Schreiner 1986, 111].3

Arabische und byzantinische Quellen, eine sehr kurze Kritik

Jede Quelle zu prüfen, die Lilie in seiner Studie herangezogen hat, übersteigt den Rahmen dieses Aufsatzes. Den Mangel an Quellen legt er selber offen. Die Bestätigung der von ihm postulierten Geschichte der Entstehung des Defensivkonzeptes und der Themen durch Abgleich der arabischen mit den byzantinischen Quellen ist nicht gelungen. Bevor ein längeres Zitat aus Lilies Schlußkapitel diese Behauptung bestätigt, noch eine Betrachtung, die auf den allen Lesern des Bulletins schon bekannten “Erzfälscher” Konstantin VII. verweist [Illig 1992]. Lilie zweifelt in seinem Schlußkapitel eine arabische Hauptquelle an – nämlich die Berichte des persischen Postmeisters und arabischen Historikers Ibn Khordabeh (ca. 820 – ca. 912). Lilie schreibt:

“Allerdings ist der Wert der Quelle doch fraglich, da sie – zumindest im asiatischen Bereich – einen engen Zusammenhang mit der Aufstellung Konstantins VII. über die Themen zeigt […], diese jedoch nicht den Stand des 9. bzw. 10. Jhds. widergibt, sondern sich weitgehend auf die Liste des Hierokles stützt […], also wenig Aussagewert für das 8. bis 10. Jhd. hat.4 Vielleicht hat auch Ibn Khordabeh in irgendeiner Weise auf diese byzantinische Statistik zurückgegriffen” [Lilie 348f, Anm. 15].

Zum Schluß der Betrachtung des Werkes von Lilie hier das längere Zitat, das im Klartext offenbart, daß die Entstehung des Defensivkonzeptes mitsamt der Themenordnung über Quellen nicht belegbar ist.

“Es wäre falsch anzunehmen, dieses Defensivkonzept wäre schon zu Beginn der arabischen Invasionen erdacht und ins Werk gesetzt worden, es ergab sich vielmehr aus der vorgegebenen historischen Situation, quasi von selbst, die dann allerdings m.E. mehr und mehr erkannt und schließlich bewußt gefördert worden ist, was sich freilich – wie meist bei solchen grundlegenden und lange Zeiträume in Anspruch nehmenden Entwicklungen – nicht in den Quellen niederschlagen konnte, die ihrem Charakter nach mehr auf punktuelle und offen vor Augen liegende Entscheidungen und Wechselfälle fixiert sind” [Lilie 350].

(“Für wie dumm hält Lilie eigentlich die byzantinischen Generäle!”, hatte ich bei Auswertung seiner Arbeit sofort in mein Exzerpt geschrieben.)

So scheint es also zwei Lösungen zu geben, wenn keine Quellen auszumachen sind: Entweder hat das Ereignis bzw. die Kette von Ereignissen nicht stattgefunden (dafür plädiere ich) oder die Entwicklung verlief so langsam, daß keine historisch faßbaren Quellen entstanden; wenn man zum Beispiel dreihundert Jahre zuviel in die Chronologie einer Geschichte hineinzaubert, dann bevorzugt man verständlicherweise letzteres als Lösung.

Kein Bilderstreit?

Die von uns postulierten dreihundert Phantomjahre sollen unter anderem mit einem wichtigen historischen Geschehen, dem Bilderstreit bzw. Bildersturm (Ikonoklasmus), gefüllt sein. Gab es ihn wirklich? Oder, in H. Illigs eine Antwort bereits gebender Fragestellung: Erfolgte der Bildersturm bereits im 6. Jh.? [Illig/Niemitz 41]

Der Bildersturm hat nicht stattgefunden! Das jedenfalls wäre die Schlußfolgerung, die man aus Peter Schreiners Aufsatz von 1976, Legende und Wirklichkeit in der Darstellung des byzantinischen Bilderstreites ziehen kann, wenn man vom chronologischen Schema befreit ist. Angeblich spaltete von 717 bis 842 eine schwere Auseinandersetzung über die Rolle der Ikonen im religiösen Kult das Byzantinische Reich [Maier 90]. Durfte man Christus und Maria (als Ikone) bildlich darstellen und diese Bilder verehren  oder nicht? War diese Verehrung heidnischer Götzendienst? Der Streit soll 843 mit einem Sieg der Ikonenverehrer und mit der Verbrennung aller Schriften der Bilderstürmer geendet haben. (Man hat bis heute keine dieser Schriften, aber auch keine einzige gefunden!)

Schreiner zeigt, daß viele zeitgenössische Berichte den Bilderstreit völlig übergehen (das wäre etwa so, als ob Militärgeschichten des späten 20. Jahrhunderts die Atombombe nicht erwähnten). Erst die spätere Legendenbildung – beginnend etwa mit dem Jahr 850, dann entscheidend im 10. Jh. durch Johannes von Damaskus gefördert und weiterlaufend bis zu modernen Arbeiten heutiger Historiker [Schreiner 1976, 167, 171] – haben diesem Streit eine Wichtigkeit zugeschrieben, die er sogar bei den (erfälschten, muß ich hinzufügen,) “Zeitgenossen” niemals gehabt hätte. Die Quellenlage sei so, daß das politische Agieren der Bilderfeinde im historischen Ablauf nicht zu rekonstruieren sei, weil nur bilderfreundliche Quellen überlebt haben. Schreiner schlußfolgert nach der Analyse seiner wichtigsten Quellen für die Zeit bis 787 – also der ersten Phase des Bilderstreites:

“Eine systematische Durchführung bilderfeindlicher Maßnahmen ist nicht anzunehmen” [Schreiner 1976, 170].

Die zweite Phase nach 800 ist sehr unklar. Theophanes als Zeitgenosse des Bilderstreites widerspricht sich selber – er weiß nicht, ob das niedere Volk oder die durch Geburt oder Bildung Hervorragenden sich durch die Bilderstürmer unterdrückt fühlten. Das wissen im weiteren auch für andere gesellschaftliche Gruppen alle späteren Historikern nicht – auf welcher Seite standen die Mönche, auf welcher die Soldaten -, so daß Schreiner sich letztlich darauf zurückzieht, daß

“bestimmend allein die persönliche bilderfeindliche Haltung des Kaisers Leon [III.] war” [Schreiner 1976, 178],

und die, fügen wir hinzu, läßt sich für einen einzelnen, vielleicht auch noch erfundenem Kaiser schneller als eine ganze wasserdichte Historie des Bilderstreites erdichten. Archäologisch soll es

“auch hier nur drei Monumente geben, die nachweislich den Eingriff der Bilderstürmer verraten” [Schreiner 1976, 178];

es handelt sich um Kreuzdarstellungen an Kirchenwänden (in den Apsiden), deren Datierung bau- bzw. kunstgeschichtlich erfolgen mußte und die damit bezüglich der Datierung der Gefahr des Zirkelschlusses unterliegen.5

Die Kontinuitätsdebatte der Byzantinisten

Nachdem also eine Reihe von Merkwürdigkeiten der byzantinischen Geschichte aufgezeigt sind wie

  • eine Themenreform, die 300 Jahre zu pausieren schien,
  • eine Kriegsführung mit den Arabern, die eine dreihundertjährige Statik bzw. Wiederholung des immer selben und dabei durchaus widersprüchlichen Geschehens auszeichnet,
  • Massenumsiedlungen ohne Proteste in der Bevölkerung in den 300 Jahren zwischen 650 bis 950,
  • eine strategisch wichtige Insel Zypern, die etwa dreihundert Jahre lang zur selben Zeit neutral, gemeinsam besteuert und militärisch umkämpft gewesen sein soll,
  • einen Bilderstreit, den erst spätere Legendenbildung zu einer wichtigen historischen bzw. politischen Angelegenheit hochstilisierte, und
  • für die dreihundert Jahre “dark ages” eine Quellenlage, die nur als katastrophal zu bezeichen ist,

stellt sich noch einmal generell die Frage, wie die Historiker mit den Merkwürdigkeiten umgehen. Wie auch in der westeuropäischen Mittelalterforschung gibt es dieser Merkwürdigkeiten wegen eine sogenannte Kontinuitätsdebatte, für die ich Günter Weiss und seinen 1977 veröffentlichten Artikel zur Frage Antike und Byzanz, die Kontinuität der Gesellschaftsstruktur stellvertretend vorstelle.

Die umstrittene Frage lautet: Gab es einen Bruch, eine Diskontinuität, einen schnellen Wandel oder gab es keinen Bruch, also Kontinuität und kei nen schnellen Wandel zwischen Antike und mittelalterlichem Byzanz? Weiss schlägt sich eindeutig auf die Seite derer, die Kontinuität favorisieren. Einen Strukturwandel (den er übrigens merkwürdigerweise in Gegensatz zur Kontinuität sieht – dabei hat doch die Diskontinuität diese Position)

“kann ich [Weiss], wie im folgenden zu zeigen ist, in keinem Bereich der byzantinischen Gesellschaftsentwicklung zwischen Antike und mittelalterlicher Epoche erkennen, wohl aber im Laufe der Antike selbst (Übergang zum ‘Feudalismus’, Rückgang der patria potestas, Übergang vom Heidentum zum Christentum)” [Weiss 530]

und weiter an anderer Stelle:

“Das Kontinuitätsproblem im Bereich der Gesellschaftsentwicklung wird verwischt durch die Tatsache, daß in der Forschung viel zu wenig nachdrücklich betont wird, daß die entscheidenden Wandlungen sich auf fast allen Bereichen des Gesellschaftslebens bereits vom 4.-6. Jh. vollziehen, teilweise sogar noch früher” [Weiss 533].

Alle Probleme in den verschiedenen Forschungsbereichen, die er aufzählt, können eine einfache Lösung finden, indem man die etwa dreihundert Jahre Phantomzeit streicht! Stagnation und Dürftigkeit der Quellen erklären sich dann wie von selbst.

Seitdem Heribert Illig und ich diese These der Phantomjahre veröffentlicht haben [Illig/Niemitz 1991], überfällt mich oft die Verzweifelung, wenn ich lesen muß, wie die Byzantinisten sich mit dem Kontinuitätsproblem abquälen, wenn sie dabei wider aller Logik zu Formulierungen greifen müssen wie

“Als sicher darf man annehmen, daß …” [Weiss 547],

sicher oder Annahme, was denn nun? – oder

“Der große Einschnitt liegt im 7.-8. Jh., als die Provinzialstruktur langsam in die Themenverfassung überging” [Schreiner 1986, 46],

langsam oder Einschnitt, was denn nun? – oder zur historischen Tat Konstantins VII.,

“die seit der Spätantike kaum unterbrochene Kontinuität wieder mit Leben zu erfüllen” [Maier 206];

Kontinuität oder Unterbrechung, was denn nun?

Zum Schluß lasse ich Günter Weiss noch einmal zu Wort kommen mit knappen Zitaten zu den Themen Heer, Kirche und Städte. Die Bedeutung dieser Zitate für die Hypothese der zu streichenden 300 Jahre ist nun von alleine ersichtlich.

“Stärke, Zusammensetzung und Stationierung des byzantinischen Heeres im 7. und 8. Jh. müssen wegen der Dürftigkeit der Quellen weitgehend erschlossen werden. Das Erscheinungsbild, das die neueste Forschung von diesem Heer vermutet, nähert sich immer mehr dem Erscheinungsbild des Heeres der Spätantike” [Weiss 539].

“Die Bauernsoldaten treten in den erzählenden Quellen im 9., in der Gesetzgebung im 10. Jh. auf. […] Die späteren Nachrichten über die Bauernstratioten sind in der Forschung bisher allzu schnell auf das 7. und 8. Jh. übertragen worden” [Weiss 540].

“Über die Lebensbedingungen und das Zusammenleben einzelner Bevölkerungsschichten in den byzantinischen Provinzstädten nach dem 6. Jh. haben wir nur ganz vereinzelte Nachrichten, die keine Verallgemeinerung zulassen” [Weiss 547].

Die Byzantinisten diskutieren darüber, ob es eine Weiterexistenz der Städte und der urbanen Kultur über die dunklen Jahrhunderte hinweg gab. Die historisch orientierten Forscher sagen ja, die archäologisch Orientierten sagen nein [Schreiner 1986, 120]. Diese Diskussionen kennen wir auch für das europäische Frühmittelalter unter dem Stichwort “Kontinuitätsdebatte” und wir vermuten mit starken Argumenten, daß die falsche Chronologie, die Phantomzeit, diese Debatte verschuldet.

“Alle Erscheinungen, die die Kirche zu einem äußerst wichtigen gesellschaftlichen Faktor werden lassen, haben sich bereits in der Antike herausgebildet” [Weiss 555].

Die Zwickmühle, in die die Forscher wegen der Phantomzeit bzw. der Zeitstreckung kommen, ist immer wieder zu erkennen. Man kann etwa dreihundert Jahre aus der Geschichte herausnehmen, und es entstehen kaum Probleme, ganz im Gegenteil! Die Geschichte verläuft dann ohne Diskontinuitäten und wirft kein Kontinuitätsproblem mehr auf. Weiss als Vertreter der Kontinuität hat recht, nur weiß er selber nicht wie sehr, weil er die Chronologie nicht anzweifelt. Aber auch die anderen argumentieren im guten Glauben, wenn sie Diskontinuitäten, Brüche also, und Lücken sehen; auch sie täuscht die falsche Chronologie.

Anmerkungen

1 Hervorhebungen in fetter Schrift innerhalb von Zitaten stammen von H.-U. N.

2 Der Syllogismus ist eine besondere Form des indirekten logischen Schlusses bzw. Argumentierens. Er ist der problematischste Schluß innerhalb der Logik und führt nicht selten zum Zirkelschluß.

3 Im übrigen tritt hier wieder das bekannte Phänomen auf, daß für eine bestimmte Zeit nur ein Teil der Überlieferung sichtbar zu sein scheint (hier zum Beispiel Siegel) und dann für eine andere Zeit der andere Teil der Überlieferung (hier zum Beispiel Urkunden) – so Schreiner:
“Statt der Urkunden hat der Boden in weitaus größerer Zahl (mehr als 60 000) deren dazugehörige Siegel (überwiegend in Blei, selten Gold oder Silber) bewahrt, die vor allem für die mittelbyzantinische Zeit eine unschätzbare Quelle … darstellen” [Schreiner 1986, 111] – unschätzbar deshalb, weil eben leider die Urkunden dazu fehlen …

4 Um es ganz deutlich zu sagen: Informationen von Hierokles kennen wir nur aus der Schrift de thematibus von Konstantin VII. Diese Liste des Hierokles ist also keine unabhängige Quelle!

5 Die drei Kirchen sind die Hagia Eirene in Konstantinopel, die Koimesis-Kirche in Nikaia und die Hagia Sophia in Thessaloniki. Zur Hagia Eirene sagt Rice:
“Interessant ist das Mosaik in der Südost-Apsis, weil es nur aus einem großen Kreuz besteht. Wir wissen, daß die figürlichen Kompositionen einer früheren Zeit in verschiedenen Kirchen während des Bildersturmes durch solche Dekorationen ersetzt worden sind, und alles spricht dafür, daß das Mosaik in Hagia Eirene aus der Zeit des Bildersturmes stammt” [Rice 46].
Warum – frage ich mich – bleibt keine einzige Schrift der Bilderstürmer übrig, bleiben aber all-sonntäglich zu sehende Kreuze als Symbol des Bildersturms bis heute erhalten?

Literatur

Endreß, Gerhard (1991): Der Islam; München

Jenkins, R.J.H. (1953): “Cyprus between Byzantium and Islam A.D. 688-965”; in Studies Presented to D.M. Robinson, St. Louis/USA, 1006-1014.

Illig, Heribert (1992): “Vom Erzfälscher Konstantin VII. Eine ‘beglaubigte’ Fälschungsaktion und ihre Folgen”; in Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart IV (4-5) 132-139

Illig, Heribert / Niemitz, Hans-Ulrich (1991): “Hat das dunkle Mittelalter nie existiert?“; in Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 3 (1) 36

Karayannopulos, Johannes (1959): Die Entstehung der byzantinischen Themenordnung; München

Lilie, Ralf-Johannes (1976): Die byzantinische Reaktion auf die Ausbreitung der Araber. Studien zur Strukturwandlung des byzantinischen Staates im 7. und 8. Jahrhundert. (In der Reihe Miscellanea Byzantina Monacensia, Heft 22); München

Maier, Franz Georg (1973): Byzanz (Band 13 der Fischer Weltgeschichte); Frankfurt am Main

Rice, David Talbot (1959): Kunst aus Byzanz; München

Schreiner, Peter (1976): “Legende und Wirklichkeit in der Darstellung des byzantinischen Bilderstreites”; in Saeculum XXVII (1) 165-179

– (1986): Byzanz; München (Band 22 der Reihe Oldenbourg-Grundriß der Geschichte)

Thiess, Frank (1992): Die griechischen Kaiser, Die Geburt Europas; Augsburg

Weiss, Günter (1977): “Antike und Byzanz, die Kontinuität der Gesellschaftsstruktur”; in Historische Zeitschrift Bd. 224, 529-560