von Heribert Illig

Saltzwedel, Johannes (Hg. 2012): Karl der Große. Der mächtigste Kaiser des Mittelalters; in Der Spiegel Geschichte, Nr. 6/2012, Hamburg, erschienen am 27.11. 2012, 146 S., [= S.]

Bei einem derartigen Heft darf man davon ausgehen, dass es das aktuelle Wissen einer ganzen Disziplin bündelt. Wenn es aber bei der Schilderung Karls des Großen von Fragezeichen nur so wimmelt, dann muss die zuständige Wissenschaft massive Probleme haben. Es geht ja nicht um irgendeinen Held schriftloser Vorzeit; es geht hier um „den mächtigsten Kaiser des Mittelalters“ [S. Titelbild], der sowohl im westlichen Europa wie in Byzanz wie im Morgenland bestens bekannt gewesen sein muss, gab es doch angeblich imperiale Heiratspläne und Gesandtschaften bis Bagdad. Da sollte es – Jahrhunderte nach den Römern – vor materiellen Überresten und schriftlichen Quellen nur so wimmeln. Was aber wird uns in dem Karlsheft berichtet?

„Historiker und Archäologen haben mit viel Mühe allerhand Überreste und Dokumente aus der Zeit vor 1200 Jahren zusammengetragen. Aber eigentlich ist es furchtbar wenig.“ [S. 16]

„Seine [Karls] realen Spuren dagegen sind oft so unscheinbar wie das Häkchen, mit dem er Urkunden abzeichnete.“ [S. 7]


Liegt das Schwergewicht eher auf den Schriftdokumenten? Aber bei ihnen scheint die Situation ebenso schwierig wie bei den materiellen Überresten. So ergibt sich rings um die Vorbereitungen zur Kaiserkrönung:

„Historiker stochern im Nebel der kargen Halbwahrheiten, die einige wenige Zeitgenossen so notierten“ [S. 81].

„So fischen Historiker wieder in ihren trüben Quellen nach Plausibilität“ [S. 82].

Welche trüben Quellen stehen überhaupt zur Verfügung? Primär natürlich Einhard mit seiner Karlsbiographie. Aber auch er ist keine klare Quelle: „Hier trickste und manipulierte Einhard“ [S. 60], während er vieles andere ohnehin verschweigt. Karl ließ auch die Heldenlieder der damaligen Zeit sammeln, wie Einhard uns berichtet: „Leider ist vom Resultat dieser Anstrengungen – wenn es überhaupt eins gab – nichts überliefert“ [S. 113]. Die anderen Geschichtsquellen sind ohnehin vergessenswert:

„In den »Annales Regnis Francorum«, der wichtigsten Chronik dieser Zeit […] Mit dem, was wirklich geschehen ist, hat der Text oft kaum mehr etwas zu tun; er ist fast reine Propaganda“ [S. 26].

„Schön zu lesen, wenn auch historisch wertlos, entfalten die »Gesta Karoli Magni« beachtliche Langzeitwirkung.“ [S. 17].

Sie stammen von Notker Balbulus aus St. Gallen: „Eine farbige Ansammlung von Anekdoten über Karl den Großen, die viel gelesen wurde, aber einen Schönheitsfehler hatte: Sie war frei erfunden“ [S. 136]. Wenn diesem Notker Quellen fehlten, „schrieb er die Geschichte in seinem Sinne um“ [S. 137].

Rabanus Maurus verfasste sogar eine Enzyklopädie, doch er war „ein »öder Kompilator«, […] ja ein Plagiator“ [S. 121], hat er sich doch über weite Strecken bei einem Vorgänger bedient.

Was trotz allem Geschichte sein soll, kann gerade von Mediävisten kaum geglaubt werden. So etwa anno 773 der Zug über die Alpen, die Belagerung Pavias, die Niederkunft der Königin im Lager – „Unglaublich“ [S. 28]. Wenn es um die alles überragende Kaiserkrönung geht:

„Die Vorgeschichte und Hintergründe, die Bedeutung, die Folgen der Krönung – fast alles ist umstritten“ [S. 80], türmen sich doch „Rätsel über Rätsel“ [S. 81].

Geht es um die Logistik von weit verstreuten Pfalzen angesichts weniger Einwohner des Reiches, dann setzen heutige Kenner auf „die große Organisationsfähigkeit seiner Hofmannschaft – obgleich es keinen einzigen konkreten Beleg gibt“ [S. 28], nur eine wirklichkeitsfremde Domänenverordnung [vgl. S. 94]. Wird schließlich in den Quellen völlig anachronistisch von Karl als vom „Haupt Europas“ [S. 29] gesprochen, obwohl Europa damals noch keine Denkkategorie war, dann heißt es: „Solche Rhetorik blieb auf wenige Schreibstuben beschränkt“ [S. 28]. Das ist selbstverständlich keine Erklärung, weil damals in keiner Schreibstube derartige Metaphern gedacht werden konnten. Allenfalls 300, 400 Jahre später.

Und wo saß Karl als Kaiser? Auf seinem Thron zu Aachen? Dieses ‘Möbel’ schätzt der Leiter der Domschatzkammer so ein: „Wir wissen nicht einmal sicher, ob dieser Wolpertinger wirklich aus karolingischer Zeit stammt“ [S. 101]. Höflicher formuliert, scheint es bei dem kaiserlichen Gestühl um eine Art „Mischwesen“ zu gehen [ebd.], dessen Entstehungszeit umstritten ist.

Aachen „hat Karls prächtigste Bauten beherbergt, einiges steht noch – und trotzdem machen die Überreste alles erst recht seltsam. Die Lage von Karls persönlichem Wohnort? Kennt keiner. Die Herkunft des berühmten Karlsthrons? Ist ungeklärt. Dass Karl in der Marienkirche, die den Thron beherbergt, beigesetzt wurde, gilt immerhin als bestbelegtes Faktum seiner Vita. Bloß: Wo lag das Grab“ [S. 98].

Einhard hat von ihm gesprochen [S. 104], aber auch hier erfunden. Geht es um die Geschenke zur Krönung, dann auch um den berühmten weißen Elefanten von Harun al-Raschid. Leider läuft die Frage nach den Geschenken und den damit verbundenen fränkischen Gesandtschaften ins Leere: „In arabischen Quellen jener Zeit: nichts“ [S. 88]. Es gibt also unausräumbare Widersprüche zwischen West und Ost. Aber es gab doch Verhandlungen:

„Das sei zwar »nicht ganz ausgeschlossen oder undenkbar«, urteilte Bjorkman 1965, könne aber angesichts der dürftigen Dokumente nicht »schon jetzt« entschieden werden“ [S. 88].

Da niemand erwartet, dass in Mesopotamien das Verwaltungsarchiv Harun al-Raschids ausgegraben wird, soll offensichtlich das peinliche Urteil – West und Ost wissen damals nichts voneinander, bestätigen sich in keiner Weise – auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben werden. Das entspricht einem verschleppten Offenbarungseid.

Oder die „folgenreichste Entscheidung“ des neuen Karls-Kalenders: „Das Jahr beginnt am 1. Januar“ [S. 113]. Dabei lassen die »Annales Regnis Francorum« das Jahr am ersten Weihnachtsfeiertag beginnen – nach den Kalenderklimmzügen. Wie schreibt Herausgeber Saltzwedel: „geradezu lachhaft simpel“ [S. 113] …

Bislang war nur von den textimmanenten Problemen dieses Geschichtshefts die Rede. Die Widersprüche würden sich beim Abgleich dieser Texte mit anerkannten Forschungsergebnissen vervielfachen. So stoßen wir einmal mehr auf den Vergleich von Karls Heer vor Pavia mit einem „eisernen Saatfeld“, aus dem Karl als gepanzerter Ritter auf ebenso gepanzertem Ross herausragt [S. 74]. Die Archäologen können das nicht einmal ansatzweise bestätigen, sind doch eiserne Gegenstände aus Gräbern der Karolingerzeit ausgesprochen rar, bei Panzern liegt die Ausbeute bei Null. Oder es ist im Karlsheft wieder einmal von dem auch körperlich überragenden Karl „mit seinen etwa 1,90 Metern“ die Rede [S. 59]. Jüngere Untersuchungen sprechen von 1,82 m und damit von keinem Übermenschen. Und wenn Otto III. angeblich die Kaisermumie findet [S. 19], dann gibt es fast so viele Meinungen wie Forscher.

Es gibt zum Dritten auch noch die Forschungsergebnisse jener Gruppe, die in dem Karlsheft verhöhnt wird [S. 105]. Sie liegen auf Tausenden von Seiten vor – zum größten Teil unwiderlegt. Da aber die Konsequenzen daraus zwangsläufig wären – ‘ein solcher Karl hat so wenig wie die Karolinger je gelebt’ –, antworten die Autoren darauf gar nicht erst, sondern versuchen mit Spott und Hohn zu bemänteln, dass der Kaiser genauso wie die Mediävistik nackt dastehen. Natürlich klingt es für Unbeteiligte erschreckend, wenn in einem Schauermärchen von mangelnder Berücksichtigung der Urkunden oder unzureichenden methodischen Kenntnissen (siehe auch http://www.fantomzeit.de/?p=3530) des „Chronologie-Rebellen“ die Rede ist [S. 105]. Viel erschreckender ist es, dass sich die Fachwelt hinter solchen Verleumdungen verstecken muss. Versucht sie es konkreter, etwa mit dem „leicht ausräumbaren Verdacht“ beim Kalenderargument, so scheitert Saltzwedel genauso wie jene seiner Kollegen, die sich eingehend damit beschäftigt haben (siehe http://www.fantomzeit.de/?p=4171). Auch eine offensichtlich unzureichende technische Entwicklung im Bereich der Eisenringanker muss ignoriert werden, damit ein karolingischer Karl die Aachener Pfalzkapelle gebaut haben kann (http://www.mantis-verlag.de/?page_id=2401).

Dieses Karlsheft lässt sich mit seinen eigenen Worten zusammenfassen: „So konnte sich schon früh jeder genau jenes Bild von Karl entwerfen, das er brauchte. Begonnen hat damit Notker“ [S. 137], fortgesetzt wird es von den Fachgelehrten und den Vertretern Aachens bis heute. Immerhin sind sie der Meinung, die karolingischen Gelehrten „führten ein Zeichen ein, das sogleich unentbehrlich wurde und bis heute als Ursymbol kritischer Neugier gelten kann: das Fragezeichen“ [S. 115]. Gäbe es kritische Neugier auch bei den Mediävisten, stünde über allen Karolingern und vor allem über Karl ein riesiges Fragezeichen. Dann würde dieses Karlsheft sofort als Hochglanzpräsentation eines Fakes verstanden.