Festsaal mit ca. 160 Zuhörern, einem Team aus Kamera- und Tontechnikern sowie fünf Personen auf dem – nicht vorhandenen – Podium. Da die Teilnehmer keine Statements abgelesen, sondern aus dem Stegreif formuliert haben, wurden bei der Verschriftlichung reine Füllworte, nicht weitergeführte Satzteile und Wiederholungen weggelassen, Dialekteinsprengsel ‘übersetzt’ sowie kleine grammatikalische Fehler stillschweigend korrigiert. Korrekturen stehen in eckigen Klammern. Außerdem wurde das eine oder andere „und“ durch einen Punkt ersetzt. Eigentlich notwendige Wortumstellungen wurden nicht durchgeführt.

Pink: Einen wunderschönen guten Abend, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich begrüße Sie recht herzlich zu einem hoffentlich unterhaltsamen und spannenden Abend im Rahmen der Coverstory. Ich darf meine Kollegin vorstellen: [Dr.] Elisabeth Holzer.

Holzer: Und ich darf meinen Kollegen vorstellen: Oliver Pink.

Pink: Bevor wir starten, wie immer das Obligatorische. Wir bedanken uns bei der 7. fakultät, vor allem beim Magister Andreas Schweiger, dass er uns wieder die Möglichkeit gibt, hier eine Veranstaltung im Rahmen der Coverstory zu machen, und auch bei der Bank Austria, die das heute finanziert oder mitfinanziert hat.

Holzer: Ihnen allen erstens herzlichen Dank fürs Kommen, für Ihr Interesse. Ich wünsche uns und Ihnen eine spannende Diskussion heute Abend. Wenn Sie Fragen haben, einfach melden. Wir werden auch Zwischenrufe in den Diskussionsrunden mit den Diskutanten auf dem Podium, Fragerunden einschieben. Vor allem aus einem Grund: Nach der ersten Runde hier am Podium, die eine knappe Viertelstunde dauern wird, werden wir schon die Fragen ans Publikum geben, weil ein Teil von Ihnen relativ bald weg muss zu einer anderen Veranstaltung. Den Kolleginnen und Kollegen möchten wir auch die Chance geben, Fragen stellen zu können.

Pink: Deshalb haben wir das Programm ein bisschen umgestellt. Wie gesagt, Sie können trotzdem zwischendurch, wenn es passt, Hände heben. Wir versuchen das irgendwie einzuschieben.

Wir schreiben heute den 14. Mai 1716 – oder doch nicht? Das behauptet zumindest unser Gast aus Deutschland heute, Dr. Heribert Illig, der vor 17  Jahren ein Aufsehen erregendes Buch veröffentlicht hat, das sich mit dem Thema Zeitfälschung, der Kritik an der Datierung und der Archäologie und überhaupt in der uns bekannten Geschichtsschreibung befasst.

[Aufnahme-Unterbrechung]

[Es hat Aufsehen erregt] nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern erstaunlicherweise auch bei Historikern und Archäologen. Ich darf Ihnen als erstes den Mann vorstellen, der die Geschichte des Mittelalters und nicht nur diese neu schreiben will, Dr. Heribert Illig, herzlich willkommen!

Holzer: Wir haben natürlich auch zwei Gäste hier, die sich ebenfalls gut mit dem Mittelalter auskennen. Sie sind beide Professoren an der Uni Graz. Dr. Manfred Lehner, wenn ich Sie nach vorne bitten darf. Er ist Dozent am Institut für Archäologie der Karl-Franzens-Uni Graz, hat sich habilitiert zum Thema Siedlungskontinuität Binnennoricums/Karantaniens und ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalter- Archäologie. Herzlich willkommen! Auch unser dritter Gast ist ein ausgewiesener Mittelalterexperte, Prof. Dr. Johannes Gießauf. Er ist Assistenzprofessor am Institut für Geschichte der Uni Graz, er ist Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und seine Schwerpunkte sind die Geschichte der Mongolen und der Hunnen. Herzlich willkommen!

Pink: Herr Dr. Illig, Sie haben promoviert in Germanistik, sind also sozusagen keiner vom Fach, kein Historiker. Sie haben erstaunlicherweise in einer Bank gearbeitet, als Systemanalytiker. Das ist ja heute nicht so etwas Positives, wenn man in einer Bank arbeitet, in Zeiten wie diesen. Sie haben sich ab 1988 als Autor und Verleger betätigt, haben eine Zeitschrift herausgegeben, Zeitensprünge, zu Chronologiekritik und haben sehr viele Bücher zum Thema Chronologie und Prähistorie, Ägyptologie und später zum frühen Mittelalter verfasst.

Sie sagen, 300 Jahre sind zu viel, genauer gesagt: 7. bis 9. Jahrhundert hat es nicht gegeben, sie sind keine Geschichte, und Karl der Große hat nie existiert. Herr Dr. Illig, warum ist unsere Geschichtsschreibung, vor allem im Mittelalter, falsch?

Illig: Meine Überlegungen gingen aus von Kalenderbetrachtungen. Der julianisch-gregorianische Kalender hat eine Fehlstelle – das nenne ich mal so –, die 1582 bei der Kalenderkorrektur auftrat. 10 Tage wurden korrigiert, 13 hätten es sein müssen. Das war für mich ein Hinweis darauf, dass es mit der Chronologie vielleicht nicht zum Besten steht. Ich kam von Vorgeschichte, Ägypten, altem Griechenland, Mykene, auf diese Weise zum Mittelalter, übertrug die früheren Überlegungen aufs Mittelalter. Ich fragte  mich: Kann es möglich sein, ist es nicht völlig absurd, dass im frühen Mittelalter, besser gesagt, irgendwo zwischen Cäsar und der Gegenwart, eine Dunkelstelle ist? Dafür bot sich das frühe Mittelalter an, weil es bekannt ist als dark age, als Dunkle Jahrhunderte. Ich fing dort zu bohren an. In Byzanz zeigte sich sehr schnell, dass mehrere Jahrhunderte zumindest durch Bauten überhaupt nicht abgedeckt werden. Dann schaute ich in den Westen, und da störte gewissermaßen Karl der Große. Vor ihm Dunkelheit, nach ihm Dunkelheit, und er dazwischen als leuchtender Blitz, wie das Gregorovius ausgedrückt hat. Also habe ich mich mit Karl dem Großen beschäftigt, stellte fest, dass es eklatante Differenzen gibt zwischen dem, was Urkunden und Chroniken berichten und was uns der Archäologe und der Bauhistoriker zeigen kann. Daraus erwuchs diese These: Ich entscheide mich empirisch-heuristisch dafür, die Jahre 614 bis 911 zur Disposition zu stellen. Das hat gewisse Auswirkungen, wie Sie sich vorstellen können, nicht nur auf Karl den Großen und Tassilo III. Es geht weiter mit byzantinischen Kaisern, römischen Päpsten, Harun al-Raschid, und so geht die Kette bis zum Pazifik, bis China, dass wir aus unserer Sicht – uns ist in diesem Fall die Autoren der Zeitschrift Zeitensprünge –, den Eindruck bekamen, es ist tatsächlich eine durchgehende Dunkelzone, die sich im Lauf der Gesamtchronologie darstellt. So ist diese These [19]92 im kleinen Rahmen, 94 im mittleren, 96 dann nicht von einem Fachverlag, sondern von einem großen Verlag aufgelegt worden. Inzwischen sind wir bei 21 Auflagen und über 100.000, was für ein durchaus mühselig zu lesendes Buch nicht schlecht ist. Ich hatte das Glück, ein Millennium endigte und da kam die Frage, die Sie ja stellten: Leben wir heute 1713, 1716 oder wann immer? Ich bin jetzt freudig überrascht, dass vor Ende des dritten Millenniums diese Frage wieder aufgeworfen wird, und bin noch freudiger überrascht, dass über uns Chronos persönlich seine Sense schwingt, um hier über die Chronologie zu wachen [Hinweis auf das Deckenfresko im Saal].

Holzer: Herr Professor Gießauf, was sagt der Mittelalterexperte zu diesen Theorien?

Gießauf: Prinzipiell muss ich dem Autor ein großes Kompliment machen, weil er eine Unzahl von Anregungen für das Fach geliefert hat, eine Diskussion losgetreten hat, die, wenn man von einigen Polemiken absieht, durchaus eine interessante Richtung genommen hat. Und er hat im wahrsten Sinn des Wortes aus dem – wenn Sie jetzt schon bei 100.000 Auflage sind – Kapital geschlagen, was der Mediävistik ein bisschen Bauchweh bereitet, und er hat sehr geschickt in seiner Art zu formulieren und Dinge darzustellen, seine Finger in offene Wunden gelegt.

Es gibt nichts daran zu beschönigen, dass das Frühmittelalter viele Problemzonen hat, jetzt nicht von seiner äußeren Erscheinungsform her, sondern von der Quellensituation, von der Frage, wie gewisse Dinge interpretiert werden können. Aber es ist nicht diese große Dunkelheit, die bei Heribert Illig unterm Strich – glaube ich – herauskommt, sondern es sind doch deutlich wahrnehmbare Flashlights in dieser Zeit erkennbar, die jetzt quellenkundlich auf einem Fundament stehen, das es mir nicht ermöglicht, seiner These zu folgen und einiges gänzlich zu streichen oder andere Dinge in Frage zu stellen.

Wo ich ihm wohl folge, ist, dass das Frühmittelalter und die Forschung des Frühmittelalters ihre Probleme hat, wenn es Diskontinuitäten zu erklären gilt, wenn es darum geht, quellenarme Zeiten mit Inhalt zu befüllen, denn das ist letztlich das, was Leser und Leserinnen, Schüler und Schülerinnen haben wollen, dass alles klar, eindeutig und ohne größere Probleme rezipierbar ist. Für die vielen Studierenden, die ich sehe, ist es natürlich auch eine Wohltat, wenn sie bei mir statt 1.000 Jahren nur 700 Jahre zur Prüfung bekämen. Das ist auch der Grund, warum, nachdem ihr Buch erschienen ist – da habe ich gerade an der Universität zu lehren begonnen – die meisten Fragen, obwohl das Buch nicht von allzu vielen in seiner Gesamtheit gelesen worden war, die meisten Fragen in die Richtung gingen: Brauchen wir das wirklich nicht? Und ich musste dann enttäuschen, vielleicht bin ich nur zu konservativ. Von meiner Perspektive und von meinem eigenen Forschungszugang her sehe ich zu viele Dinge, die den Karl als historische Figur mir erscheinen lassen.

Heribert Illig hat für mich eines getan, was bei den Historikern und Historikerinnen vielleicht die größte Gefahr darstellt, wenn sie sich den Quellen annähern. Er ist mit Maßstäben an die Quellen herangegangen, die von modernen, extrem kritischen, reflektierten, in einer Zeit von Medienvielfalt und Informationsaustausch geprägten Prämissen ausgeht und zu wenig den Zeithorizont, die Mentalität und vor allem die Gegebenheiten des Frühmittelalters in Betracht zieht, wie Menschen miteinander kommunizierten, interagierten, wie sie darüber reflektierten, und was vor allem für sie wichtig war, späteren Generationen vielleicht mit auf den Weg zu geben. Nichtsdestotrotz habe ich das Buch mit einigem Wohlgefallen gelesen und ziehe auch meine Lehren daraus, wo ich Punkte ansetzen muss, um meinen Studierenden vielleicht ein bissel mehr Sensorium für diese Zeit mit auf den Weg zu geben.

Pink: Was sagt der Archäologe, Dr. Lehner zu den dreihundert Jahren? Gibt es Funde in der Zeit überhaupt? Wir haben gerade gehört, es gibt anscheinend zu wenige.

Lehner: Ich kann mich der ersten Reaktion von Gießauf nur anschließen.  Damals hat das vielleicht irgendwie Entrüstung oder Kopfschütteln ausgelöst, in der Mitte der 90er Jahre. Heute, retrospektiv betrachtet, ist es aber so, dass dieses Buch mit Sicherheit, gerade in der Archäologie, einen Forschungsimpetus ausgelöst hat, weil Illig mehr oder weniger gesagt hat: Liebe Leute, die Ihr Frühmittelalter forscht, bzw. die Ur- und Frühgeschichtler eigentlich – nicht die klassischen Archäologen, wie ich einer bin – zeigt mir: Was habt Ihr aus der Zeit? Mit dieser Forderung hat er gewissermaßen in eine Lücke gestoßen bzw. sogar eine offene Tür eingerannt, weil wir wirklich nicht besonders viel vorzuweisen haben aus dieser Zeit. Es gibt jede Menge Fundgegenstände, Monumente, die in diese Zeit datiert werden. Aber wenn man sich jetzt fragt: Wenn es diese Zeit nicht gibt, könnten die nicht theoretisch auch in eine andere Zeit passen, dann ist es bei vielen so, dass sie theoretisch auch in eine andere Zeit passen könnten, weil gerade Karl der Große, die Karolingerzeit eine Zeit des Rückgriffs auf die Antike ist und weil dann spätere Zeiten im frühen Hochmittelalter auf Karl den Großen zurückgreifen. Insofern würde sich das von der Sachkultur her mehr oder weniger im Kreis drehen.

Retrospektiv ist der Zugang, den man heute zu dieser Phantomzeittheorie hat – wenn das Wort bisher noch nicht gefallen ist –, so, dass man eigentlich dankbar sein muss, weil sie gerade in der Mittelalter-Archäologie oder in der Archäologie des Frühmittelalters einen Forschungsimpetus ausgelöst hat, vor allem in Deutschland. Deutschland ist, was das betrifft, schon ein bissel unser Vorreiter auch immer, wo es – damals noch, heute ist es nicht mehr ganz so – mehr Geld gegeben hat für die Forschung u.s.w. Herr Illig hat mir gerade vorher gesagt, ein Archäologe hat zu ihm gesagt: Danke, arbeite du und schreibe du nur, und wir bekommen die Förderungsgelder für unsere Projekte, um das Gegenteil zu beweisen. Insofern ist das als Tatsache, als Theorie, als Phantomzeittheorie retrospektiv nicht schlecht zu betrachten.

Die Frage ist jetzt, wie geht man als Archäologe mit so etwas um? Entweder sagen wir: Ja, Illig hat recht und es würde uns einiger Probleme, einiger Datierungsprobleme, einiger chronologischer Unzulänglichkeiten [entheben], die wir ja haben, auch in der Typologie der Gegenstände. Wir haben auch in der Stratigraphie, die unser Gottseibeiuns in der Datierung, in der relativen Datierung ist, oft Schwierigkeiten. In römischen Städten: Die sind im frühen Mittelalter wohl besiedelt oder vielleicht auch nicht und im Hochmittelalter dann doch wieder, und dazwischen hätten wir gern die Schichten mit den schönen Kulturfunden, wenn Sie so wollen, mit den Funden des täglichen Lebens, mit dem Müll, den wir ja ausgraben. Leider ist dann dort die berühmte schwarze Schicht, terre noire auf Französisch oder black oder dark earth auf Englisch, dazwischen drinnen, die zwar  eine gewisse Mächtigkeit hat. Aber Mächtigkeit kann man nicht direkt auf Chronologie umlegen. Wir könnten sagen; Ja, wir sind dankbar, wir brauchen jetzt keine Dinge in diese Zeit zu datieren und können die vorher und nachher auf Grund ihrer Erscheinungsform durchaus unterbringen.

Die zweite Möglichkeit wäre, dass man sagt, in dieser Zeit haben wir deswegen keine Funde, weil ein gewisser Siedlungshiatus besteht, weil einfach keine Leute da waren, weil keine Kultur im weitesten Sinn passiert an dieser Stelle, an welcher Stelle man auch immer gräbt oder an welcher Stelle man auch immer forscht. Ich spreche jetzt natürlich hauptsächlich von Mitteleuropa. Da hat die Forschung Bedarf, etwas zu tun.

Die dritte Möglichkeit wäre die Herangehensweise, die ich vertrete, offensiv daran heranzugehen, aus der Not eine Tugend zu machen und zu sagen: Es gibt da etwas in der Zeit, nur wir sind noch nicht so weit, dass wir das Zeug erkennen. Wir müssen noch Parameter finden, um die Sachkultur wirklich genau datieren zu können und darin sozusagen einen Forschungsauftrag für die Zukunft zu sehen. Es ist gerade mit dieser Awaren-Chronologie, die in den späten 90er und 2000er Jahren sich ergeben hat und mit den naturwissenschaftlichen Absicherungen, mit den Datierungsmöglichkeiten doch mittlerweile relativ weit fortgeschritten ist. Aber Zeug haben wir immer noch wenig, das gebe ich zu.

Pink: Vielleicht geben wir Herrn Dr. Illig die Möglichkeit zu einer Replik, bevor wir zu Fragen aus dem Publikum kommen, zu dem, was Sie gerade gehört haben.

Illig: Zum einen würde ich Ihnen widersprechen, wenn Sie auf die finanziellen Vorteile des Chronologiekritikers kommen. Wäre ich bei der Bank geblieben, hätte ich das zehnfache Gehalt.

Pink: Und weniger Ansehen.

Illig: Weiß ich nicht. Wenn ich die Vorwürfe aufsummiere, die sich über mich ergossen haben, bin ich mir nicht sicher, ob das ein echter Vorteil war. Gut, aber zum anderen. Man ließ jetzt beide Sachpunkte hier zusammentreten. Sie haben die Urkunden verteidigt, dann bemängelt, dass ich die nicht aus der damaligen Sicht sähe; Sie haben die Lücken gezeigt.

Es gibt eine Zahl, die nicht von mir stammt, sondern von Albrecht Mann. Der hat alle Urkunden und Chroniken gewissenhaft aufgelistet und stellte fest: Karl der Große hat 313 Großbauten errichtet, also Kathedralen, Klöster und Pfalzen, insbesondere darunter 232 Klöster. Bis jetzt ist mir kein Kloster bekannt, das aus der Karolingerzeit ausgegraben worden ist. Das ist nicht ein Mangel, sondern das ist grausam, das ist einfach für diese Zeit grausam.

Ich persönlich komme aus München. Wir träumen von einer Agilolfingerherrlichkeit, von unseren Herzögen, die nicht zuletzt in Salzburg regiert haben und in Österreich. Sie sollen auch ungefähr 40 Pfalzen besessen haben. Noch immer kann der Archäologe keinen einzigen Stein einer einzigen Agilolfingerpfalz zeigen. So dramatisch steht die Sache.

Also es geht nicht darum: Wir schieben ein bisschen, strecken oder tun sonst etwas, sondern da sind wir hart am Vakuum. Ein Vakuum verlangt eine Erklärung, und meine Überlegungen waren immer: Wenn ich eine so vor sich hin dümpelnde Zeit hätte, denken Sie an Völkerwanderung oder so etwas, wo keine guten Staatssysteme entstehen, würde ich das ohne Weiteres akzeptieren. Aber wir sprechen ausdrücklich von einer Karolinger-Renaissance. Da geht es auf allen Gebieten los, da soll gebaut werden, da wird ein Bau gebaut wie der Aachener Dom, mit einer Kuppel, die weder vorher gebaut worden ist noch nachher, die Wissenschaften blühen auf, die Literatur blüht auf und – zackbumm – 900 ist alles vorbei. Das Abendland fängt ganz von vorne an. Das ist erklärungsbedürftig, und da habe ich Ihnen die Möglichkeit gegeben, noch viele Forschungsgelder einzufahren.

Holzer: Ich schaue ins Publikum, falls es schon irgendwelche Fragen geben sollte. Jetzt wäre die Möglichkeit, ansonsten machen wir hier vorn einfach weiter.

Pink: Keine bis jetzt.

Holzer: Doch, dahinten, eine.

1. Frage: Ich würde gleich die Frage aufwerfen, wie es mit dem Raum außerhalb von Europa ausschaut. Wir haben jetzt Mitteleuropa, zumindest den Bereich Frankreich-Deutschland, wenn wir Karl den Großen hernehmen. Aber wie schaut es außerhalb von Europa aus? Aber wenn die Jahre in Europa fehlen, dann müssen sie woanders auch fehlen. Jetzt haben wir 614, Arabien. Mohammed lebt noch, er ist noch nicht verstorben, wenn man die normale Zeitrechnung nimmt, erst 632. Und 911 gibt es in Spanien eine doch sehr ausgeprägte islamische Kultur. Das heißt, wir haben eine islamische Expansion, die innerhalb dieser 300 Jahre viel kürzer vonstatten geht. Da ist die Frage, was ist dann wirklich von 614 bis 911? Wie kann das in einem Jahr funktionieren?

Die andere Seite. Wenn man jetzt östliches Mitteleuropa hernimmt: 614 gibt es noch Awaren, 911 war bereits vier Jahre nach der Schlacht von Pressburg, wo der baierische Heerbann vernichtend von den Ungarn geschlagen wurde. Die Magyaren haben sich festgesetzt und haben danach jedes Jahr Raubzüge durch Mitteleuropa gemacht und 911/12 sind sie bei der Rückkehr nach Ungarn, in der ungarischen Ebene von den Baiern auch wieder geschlagen worden. Das heißt, Sie haben hier plötzlich ein  Volk, das hier agiert, anders als die Awaren noch um 614.

Wie schaut es aus mit der Religion, also mit dem Konstrukt der Kirche? Salzburg, 614, gibt es kein Domkapitel, es gibt keine Kirche, es gibt kein christliches Salzburg. 911 haben wir eine doch sehr ausgeprägte kirchliche Organisation, die von Salzburg den Alpenraum überzieht. Das sind nur ein paar Gedankengänge, die ich einbringen wollte.

Pink: Herr Doktor, bitte.

Illig: Da kann ich ungefähr zwei bis drei Bücher referieren; ich versuche mich kürzer zu fassen. Ich fange im Westen an. Sie haben Spanien angesprochen. 711 sollten die Araber die spanische Halbinsel zu erobern beginnen. Faktum ist wiederum: gähnende Leere, was die Archäologie anbetrifft. Die ersten guten Funde gibt es etwa 937, wenn Abd ar-Rahman III. vor Córdoba seine Sommerresidenz errichtet. Sie konnte ausgegraben werden. Ab da sind die Spuren vorhanden. Aber zwischen 711 und – sage ich einmal – 920 bedenklich wenig. Einfach bedenklich wenig: Das kann man immer vielleicht auch anders erklären.

Dann fragen Sie: Wie steht es mit dem Islam als solchen? Ich erinnere daran, ohne die Position zu vertreten: Derzeit gibt es durch [Karl-Heinz] Ohlig und [Volker] Popp in Deutschland eine Richtung, die Mohammed schlicht streicht. Da gehe ich merkwürdigerweise nicht mit, ich streiche nicht alles, was sich anbietet. Sondern wir gehen davon aus: Mohammed dürfte etwas früher gelebt haben. Wir streiten noch, ist er 544 geboren oder war da der Zug von Mekka nach Medina. Da hätten wir eine Vorlaufzeit für den Islam. Das eigentliche Geschehen stellt sich dann einfach dar. Wir müssen bedenken: Etwa gegen 610 ziehen die Perser wieder einmal gegen das byzantinische Reich, alte Kampfzone, die da immer wieder ausgebrochen ist. In diesem Fall ziehen die Perser durch Ostanatolien, Syrien, Palästina. Es passiert das Furchtbarste, was den Christen passieren konnte: Die allerheiligste Kreuzreliquie wird 614 in Jerusalem geraubt. Danach ziehen die Perser weiter bis Ägypten, angeblich sogar bis Tunesien, Libyen, in diesen Bereich hinein.

Hier würde ich ansetzen: Die Perser ziehen schlicht und einfach bis zur Meerenge von Gibraltar und dort setzen sie mit ihren verschiedenen Hilfsvölkern über, erobern Spanien. Dann passen auch die Omayyaden wiederum dort in Spanien [mit denen im Osten] zusammen. Damit würde beispielsweise geklärt, dass es islamische Münzen gibt im frühen 10. Jahrhundert, die noch Personendarstellungen tragen – in der herkömmlichen Lehre völlig unvorstellbar. Damit würde erklärt, dass der Islam Iran überhaupt erst im 10. Jahrhundert erreicht. Das wird bislang damit erklärt: Die Araber waren tolerant, sie haben Steuern auferlegt; wer den Glauben nicht annehmen wollte, habe mehr Steuern gezahlt. Aber de facto ist im Iran im  frühen 10. Jahrhundert noch kein Islam zu finden, im östlichen Iran noch später. Das wäre also ein Modell, das zugleich erklären würde, dass wir in Spanien keineswegs eine arabische Kultur haben, sondern eine persische. Es ist zu unterscheiden: Was dort gebaut wird, ist von der Architektur her syrisch-persisch; eine arabische Baukultur in dem Sinn fällt uns sehr schwer zu definieren. Die Mosaike waren ohnehin byzantinisch. Also so wäre die Abdeckung dieses Raumes.

Sie fragten dann mit der Kirche. Da wird es unendlich. Wir Baiern stellen sofort fest: Wir sind viel zu oft christianisiert worden. 390: Wir gehörten zu Noricum und Raetien, gleich betrachtet. Wir hatten eigentlich Staatschristentum ab 390, grosso modo. Dann kommt Theoderich, der zumindest de nomine über Bayern und Österreich regiert hat. Da hätten wir Arianismus gehabt. Dann kommen ab 600 die Iren; die kommen dicht gestaffelt: Iren, Angelsachsen, die Schotten, die dann auch Salzburg befruchten – Virgil, Rupert. Wann die Bischofsordnung tatsächlich eingetreten ist, ist durchaus fraglich. Der erste Brief, den der Papst 709 [recte: 716] darüber schrieb, wurde als Fälschung bezweifelt; nicht von mir, sondern in der allgemeinen Forschung; das ist dann wieder zurückgewiesen worden. Aus unserer Sicht wäre es möglich, dass man die Bistumsordnung im frühen 10. Jahrhundert sich manifestieren lässt. Denn wir haben ein Problem: Die Ungarn, die Sie genannt haben, haben angeblich, vor allem in Bayern, alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Wir haben de facto auch kein agilolfginisches Kloster, keine Kirche, selbst Herrenchiemsee, Frauenchiemsee, die geschützt lagen auf dem See, sollen bei zugefrorenem See von den Hunnen [recte: Ungarn] attackiert worden sein. Dann gab es auch dort keine Überreste mehr, in Herrenchiemsee. Der Kirchenbau beginnt in Mitteleuropa ziemlich präzise mit der Schlacht auf dem Lechfeld. Ab 955 können wir Kirchen zeigen, davor ist es sehr, sehr dünn. Wenn Sie also da, in diesem 10. Jahrhundert, sich vorstellen, eine Bistumsordnung unterzubringen, denke ich, hätten wir eine Chance, das zu bewerkstelligen.

Jetzt fehlt mir noch ein Stichwort, Sie hatten noch eines gegeben

[Kein Anwesender erinnert sich mehr an Awaren und Ungarn.]

Wir hatten also Spanien, Islam, Kirche, Konstruktionen bei der Kirche. Da muss ich anfügen: Die Kirche hat den großen Vorteil: Sie war der Sieger, der die Chroniken geschrieben hat. Nur die Mönche konnten grosso modo schreiben, selbst in den Kanzleien der Kaiser, Könige, Herzöge saßen als Schreiber Priester. Priester konnten verfassen, was sie wollten. Die Kirche besteht bis heute. Wir können davon ausgehen, dass wir ein Modell haben, das mit Rom konform war. Wem das zu spekulativ ist: Wir – mit wir meine ich mich – ich habe in der Schule nichts über Byzanz gelernt. Byzanz war irgendwo außen vor, ein geheimnisvolles Riesenreich, das aber nicht weiter zu behandeln war. Wie die Staatsreligion dort war, wie man sich Kaiser, Patriarch etc. vorstellen muss, das war alles völlig ausgeblendet. Das zeigt: 1054 gab es nun einmal das Große Morgenländische Schisma. Ich habe die Zahl nicht genau im Kopf, aber ich glaube 1969 [recte: 1965] ist es offiziell beendet worden. Da hatte ich schon mein Abitur hinter mir; insofern gab es für mich in der Schule nichts über Byzanz zu lernen. Das heißt, die Kirche hat durchaus Einfluss, selbst auf curriculare Umstände.

Holzer: Um es einmal kurz zusammenzufassen, vielleicht für die, die in diesem Bereich keine Experten sind, so wie Sie. Wenn ich Sie richtig verstanden habe: Sie verteidigen Ihre Theorie dadurch, dass Sie einfach sagen, alle anderen Daten sind auch falsch. Also kann Ihre Theorie nicht falsch sein. Habe ich das richtig verstanden?

Illig: So würde ich es nicht sehen. Ich ging ja davon aus, dass ich sagte: Ich vermisse beispielsweise immens viele Bauten aus einer Zeit. Das ist das Faktum. Diese Bauten fehlen, angeblich eine Hochkultur, die überall blüht, und wenn ich in den Boden schaue: gähnende Leere. Da brauche ich eine Erklärung. Das war mein Antrieb. Ich habe keine Interesse, der Kirche etwas auszuwischen oder sonst etwas. Das war einfach die Diskrepanz. In den Urkunden stehen ungeheuer viele Dinge. Jede Urkunde, die verteidigt wird, ist nie oder fast nie auf der grünen Wiese geschrieben worden, sondern in einem überdeckten Raum. Und von diesen zahllosen überdeckten Räumen müsste doch ein Prozentsatz oder wenigstens ein Promillesatz zu finden sein. Also: Hier, wo dieser Notstand am größten ist oder, hier sind wir uns alle einig, im anschließenden Mittelalter ist es auch noch nicht die tolle Wucht, was wir an Bauten haben. Aber hier ist es besonders eklatant. Deswegen habe ich gesagt: Ich schneide gewissermaßen ein Stück aus der Zeitachse heraus, nämlich diese genannten 297 Jahre, belasse grosso modo die Zeiten davor und danach gleich. Es ist natürlich logisch, dass, wenn ich die Zeiten [neu] zusammengebunden habe, dass da Säume entstehen müssen, die angepasst werden, mehr oder weniger gut. Aber das sind wir von den Urkunden sowieso gewohnt.

Nur als ein Gag. Es gibt drei Meinungen zur Krönung Karls in Rom. Die einen sagen, er hat die Krönung planmäßig über Jahre hinweg vorbereitet, Stichwort: Er empfängt den Papst in Paderborn, 799. Die anderen sagen, er ist heimtückisch, hinterrücks am Weihnachtstag 800 gekrönt worden; der Papst hat ihn überfallen, gewissermaßen mit der Krone. Und die dritte Richtung hat Cusanus, also Nikolaus von Kues vertreten, der sagte: Mir ist von einer Kaiserkrönung nichts bekannt. Drei Dinge, die allesamt im Mittelalter spielen, wo ich die Gelehrten bemitleide: entweder krönen oder nicht; ein bisschen Krönung – keine gute Sache. Deswegen muss diese  kritische Zeit, die ich genannt habe, die muss ganz raus. Dann kann es Verschiebungen geben wie im Islam, weil der nun anders läuft, eine Geschichtsschreibung, die vermutlich erst später über Byzanz influenziert wurde von den Maßnahmen, die hier im Abendland getroffen worden sind. Aber nicht, dass ich sage: Alles ist falsch. Das nicht.

Holzer: Fühlen Sie sich bedauernswert als Mittelalterforscher, Herr Professor Gießauf? Bemitleidenswert hat Herr Doktor Illig gerade die Forscher genannt.

Gießauf: Ich bin jetzt nicht auf Mitleid aus. Ich bin selbst schuld, dass ich diese Zunft gewählt habe. Manche halten Mediävistik für etwas Ansteckendes und weichen aus, wenn man sagt, man hätte das. Dabei ist das eine Zugangsweise zu einer interessanten Zeit, wie ich glaube. Ein paar Dinge möchte ich aus meiner Perspektive gerade rücken, wenn Sie hier argumentieren. Zum einen fällt es mir schwer anzunehmen, dass, wie Sie in der letzten Erklärung und im letzten Statement angedeutet haben, die islamische Geschichtsschreibung einen byzantinischen Impetus gebraucht hätte, um überhaupt in Gang zu kommen und deswegen von den dort fehlgeleiteten oder bewusst gefälschten Datenkonstrukten aus sich seine eigene Geschichte gebaut hätte. Da unterschätzt man die arabischen Kenntnisse, die jetzt nicht aus den europäischen und den byzantinischen Kontakten resultieren, die diese Kultur, diese neue Religion genommen hat, sondern die letztlich auf östliches Vorbild des indischen Raums und dann wieder über Vermittlung dieses indischen Raums bis in die selbstdefinierte Nabelmitte der Welt, ins Chinesische hinein reicht. Ich traue den arabischen Historiographen, Theologen und Schriftstellern nicht zu, dass sie sich eine eurozentrierte und byzanzzentrierte, falsche Geschichtsschreibung selbst oktroyieren lassen und von dort aus ihre eigene Zeit fehlzuberechnen, was ja der logische Schluss wäre, der aus dem zu ziehen ist, wenn man sich hier anpasst oder anlehnt.

Das Zweite ist: Ich kann von mir aus mit Ihrer These leben, dass wir den Kalender korrigieren, auch wenn wir von unterschiedlichen Prämissen bei dieser Chronologie-, dieser Kalenderkorrektur ausgehen. Sie wollen zurück bis Cäsar, ich will nur bis ins frühe 4. Jahrhundert mit dem Ostertafelstreit, der hier auf dem ersten Konzil in Nicäa geklärt wurde, wenn auch nicht in einer befriedigenden Art und Weise, aber jedenfalls der Ausgangspunkt dafür war, was dann Gregor XIII. 1582 bei seiner Kalenderreform als zu reparierendes Übel in das Blickfeld genommen hat, letztlich auch seine Gelehrten hat darüber entscheiden lassen, wie viele Tage im Oktober des Jahres 1582 zu streichen sind. Da haben wir unterschiedliche Ausgänge bei der Theorie, der Forschungslage.

Was mich ein bisschen weniger wohlgestimmt macht, ist, dass Sie mir den  Karl wegnehmen wollen. Ich habe eine unglaubliche Sympathie für Karl den Großen. Ich halte ihn für einen extrem durchtriebenen Politiker, aber Historiker sollten nicht werten, sie sollten eher versuchen, den Dingen auf die Spur zu kommen, einen objektiven Zugang, vielleicht ein bisschen deskriptiv zu arbeiten. Aber wenn Sie sagen, dass es hier Widersprüche in den Quellen gibt, so finde ich das geradezu spannend, das ist für mich geradezu ein stichhaltiges, überzeugendes Argument, dass es nicht eine Linie gibt, nicht einen Mainstream, eine Überlieferungsvorgabe, wie es denn gewesen sein muss, sondern dass es hier unterschiedliche Perspektiven, auch zu unterschiedlichen Zeiten gegeben hat, auf diese Ereignisse zu blicken. Die einen sagen, Karl hat sich gegen die Krönung gesträubt. Sie nehmen die Vita Karoli Magni des Einhard her, der natürlich pro-karolisch schreibt. Er verehrt diesen Mann, er schreibt eine Kaiserbiographie in Anlehnung an die Vorbilder des Sueton, also eine kaiserlich orientierte Biographie, die wir literarisch in dieser Zeit eigentlich sonst nicht haben. Nicht, weil es diese Zeit nicht gegeben hat, sondern weil es einfach nicht en vogue war, so zu schreiben, wie in dieser Zeit, die sich auf die Antike erstmals rückzubesinnen begann und auch die faktische Macht hatte, diese karolingische Correctio – ich nehme den Begriff Renaissance nicht in den Mund –

[Aufnahme-Unterbrechung]

… tatsächlich ideologisch umzusetzen, was sich dann letztlich auch in den Bauten manifestiert hat. Aber dazu möchte ich Manfred Lehner sprechen lassen, ich will nicht wildern.

Sondern hier gibt es diese Perspektive und auch die andere Perspektive, wenn wir andere Quellen beobachten und anschauen und sehen, dass Karl ganz offensichtlich, ganz sukzessive auf eine Rangerhöhung hingearbeitet hat. Der Mann hat über Jahrzehnte an seinem Image gearbeitet, er ist – wie so viele wohl charismatische Heerführer, Könige, Fürsten, wie immer wir sie nennen wollen – langsam, aber sicher offensichtlich mit dem Erfolg in eine Vision hineingewachsen. Da ist das Wiederbeleben – als Hegemonialmacht, wie es sein Königtum darstellt – eines alten, übersteigerten Titels, der in Konkurrenz zur einzigen damals existierenden Weltautorität, des oströmischen Kaisertums, stand, ein durchaus konsequenter Schritt und auch die Konflikte, die sich daraus ergeben haben. Das zu verschleiern war natürlich sehr viel mehr im Interesse Karls als hinzuschreiben: Rom, das ist meines, das hole ich mir, die Krone brauche ich. Sondern hier wird diplomatisch gearbeitet, hier wird letztlich auch Propaganda geschrieben, hier wird etwas dargestellt, das letztlich die Sieger geschrieben haben. Das war zu diesem Zeitpunkt das karolingische König tum, das sich selbst übersteigert und überhöht hat. Ich glaube, gerade aus dieser Diskrepanz der Quellen, aus der Widersprüchlichkeit können wir so viel interessante Reibungswärme gewinnen, die uns dann ein bisschen Behaglichkeit im finsteren Frühmittelalter verschafft.

Pink: Da frage ich Dr. Lehner, wie schaut es denn wirklich mit Bauten im frühen Mittelalter aus?

Lehner: Ich knüpfe an und zwar an die Behaglichkeit. Es ist ja nicht so, dass es in einem Holzhaus unbequemer zu wohnen wäre als in einem Steinhaus, wahrscheinlich sogar im Gegenteil, teilweise. Mit der Holzarchitektur ist es so: Wir sind zum Glück in der Lage, mittlerweile Holzarchitektur nachweisen zu können, weil nichts dauerhafter ist als ein Loch im Boden. Aber insgesamt erhält sich das schon schlechter.

Es sind a priori die Erhaltungsbedingungen so, dass man das nicht immer findet, diese Promille schon, aber die Prozente wahrscheinlich nicht, die Sie postuliert haben. Zusätzlich ist es so, dass wir natürlich Chance hätten, Holzarchitektur zu finden, dass gerade aber auf den Burgen – da meine ich jetzt nicht die Krähennester, die Höhenburgen auf steilem Felsengrat, sondern die Burgen, die durchaus auch auf bequemen Bergen liegen, wie der Schlossberg – für die Einheimischen – hier, dass dort im Hochmittelalter Burgen gebaut wurden, ab dem 11. Jahrhundert mit Sicherheit; 10. Jahrhundert ist in der Keramik noch zu fassen, das wäre auch in Ihrem Sinn, und davor wird es dünn. Das Problem ist, dass diese Steinburgen, die gebaut werden – mittlerweile gibt es zwei Steinburgen in Österreich, die vielleicht sogar ins 10. Jh. zu datieren sind, vielleicht drei –, dass, bevor man eine Mauer baut, entweder einen Fundamentgraben macht. Auf den steilen Felsbergen ist kein Platz für Fundamentgräben, da baut man die Burg direkt auf den Felsen bzw. in die Gesteinsspalten hinein die Mauer. Zu diesem Zweck sind dann die Steinburgen gebaut werden im späten 11., im 12., vor allem im 13. Jahrhundert. Es ist unser Problem, dass die Burgberge vollständig hinuntergeputzt werden. Da wird der Felsen nackt gemacht. Wir finden das immer wieder, dass die erste Mörtelfläche direkt am geputzten Felsen ist, d.h. wir hätten nur eine Chance, dort etwas Früheres zu finden, wenn etwas da ist.

Unter vielen Burgen gibt es auch spätantike Höhensiedlungen, die sehr wohl Mauerreste hinterlassen haben und wo dann kleine Teile vielleicht sogar noch eingebaut und wiederverwendet worden sind. Und dazwischen könnte das besiedelt gewesen sein. Wir finden am Burgfuß oft Scherben, die wir durchaus in die von Ihnen in Frage gestellte Zeit gerne datieren würden. Das sind aber einzelne Streufunde, die man als solche nicht datieren kann. Wenn ich sie dem Spezialisten zeige, dann sagt er: Ja, das ist 5., 6. Jahrhundert, und wenn ich den gleichen Scherben der anderen Spezia listin zeige – im konkreten Fall ist die Geschlechtlichkeit genau umgekehrt, aber das macht ja nichts – , dann sagt er: Ja, das ist spätes 8., 9. Leider ist es so, dass wir in der Sachkultur oft so sind, dass wir auf Grund unserer Typologien – auch diese Methode ist schon als relativ-chronologische Methode in Frage gestellt worden – nichts Deutliches sagen können. Auf jeden Fall ist das hinuntergeputzt; das liegt am Burghang und zwar auch auf bequemen Bergen, die nicht so besonders hoch sind.

Pink: Wenn ich kurz einhake. Ist das nicht grundsätzlich ein Problem und spricht für die These von Dr. Illig, dass man als Archäologe nie genau sagen kann – wie Sie gerade gesagt haben: Das ist 5., 6. Jahrhundert, der nächste sagt: Das ist 8., 9. Da hätten wir eigentlich fast die 300 Jahre, quasi als Hausnummer. Das würde dann die Theorie unterstützen, irgendwo.

Lehner: Das ist leider so. Es würde die Theorie nicht unterstützen, weil ich von meiner Warte, wie gesagt, den positiven Forschungsansatz vertrete und sage: Da war etwas; wir müssen nur noch lernen, wie es ausgeschaut hat. Aber wie gesagt, wir haben größere Schwierigkeiten als die Historiker, die Phantomzeit zu falsifizieren. Das gebe ich durchaus zu.

Und gerade diese Agilolfingerpfalz von Salzburg: Da soll z.B. auf der Feste Hohensalzberg eine sein. Wenn das ein bequemes Holzbauensemble war, ist das weg, weil dann die hochmittelalterliche Burg darübergebaut ist. Es ist eine urkundliche Erwähnung, natürlich wieder aus der in Frage gestellten Zeit, aber da haben wir das Problem der Nachweisbarkeit.

Vielleicht noch ein ganz kurzes Wort zu den anikonischen Darstellungen auf den islamischen Münzen. Natürlich ist eine Münze ein sozusagen öffentliches Dokument. Aber es scheint doch der frühe Islam, was die Bilderwelt betrifft – vielleicht verwende ich sogar das Wort – einigermaßen laizistisch gewesen zu sein, weil es in diesen Wüstenschlössern, in Jordanien, in al-Heir al-Gharbi zum Beispiel: Dort gibt es nackte, tanzende Frauen und alles mögliche, das man nicht unbedingt im Bilderverbot des Islam erwarten würde. Es ist nicht so, dass es prinzipiell gar keine ikonischen Darstellungen hat.

Illig: Genau aus dem Grund sind Ohlig und Popp der Meinung, dass sie überhaupt noch nicht islamisch sind, schlicht und einfach. Das ist nicht meine Meinung, sondern das wird derzeit in der Islamkunde diskutiert.

Ich darf dann ein bisschen polemisch sagen, wenn Sie sich mit Holzkonstruktionen retten wollen. Was wir dem Karl zuschreiben: eine Steinpfalz in Aachen, eine Steinpfalz in Ingelheim, eine Steinpfalz in Nimwegen, dann ist das ziemlich am Ende, was wir haben. Er baut in Stein, und warum seine anderen Pfalzen alle aus Holz sein sollen, wäre für mich sehr  fraglich. Aber ich bin jetzt provokant und sage: Wir haben in Straubing, nur in Straubing im Gäuboden mehr bronzezeitliche Holzkonstruktionen nachgewiesen, aufgedeckt, als die gesamten Agilolfinger jemals bieten können. Das heißt, wir haben in viel älteren Zeiten, die uns viel ferner stehen, viel präziser Holzbauten nachgewiesen, als es in dieser späteren, frühmittelalterlichen Zeit auch nur annähernd der Fall wäre.

Lehner: Das liegt zum Teil an den später überbauten Stellen.

Illig: Ich will Sie jetzt nicht überzeugen.

Lehner: Nein, nein.

Illig: Hier ist der Punkt. Jetzt müssen wir interpretieren und man kann klüger oder weniger klug interpretieren. Ich kann nur deutlich machen: So wie man glücklich ist, dass man sehr viele Gedanken über die Krönung und ihre Facetten verschwenden kann oder intensivieren kann. Ich sage: Vorsicht, bevor wir uns in all diese Dinge verlieben.

Aber ich möchte einen Fall von Ihnen aufgreifen. Der wäre bei meiner These revolutionär, weil ich habe als Urheber byzantinische Kaiser und vor allem Otto III., die die Zeit, die Uhr vorgedreht haben sollen. Was ich bei Erstellung meiner These nicht wusste, war, dass der Islam die schönste Spur dazu im Grunde liefert. Sure 21 [recte: 18], al Khaf im Koran, ist die Höhle und was ist das? Das ist die Erzählung, dass damals verfolgte Christen in eine Höhle gehen; sie schlafen ein, sie stehen wieder auf, treten unters Volk, zahlen mit Münzen – ein Aufschrei: Das sind Jahrhunderte alte Münzen. Sie werden vor den Kaiser geführt, man stellt fest, diese Menschen haben 300 Jahre geschlafen. Der Koran ist ganz präzise, er sagt 300 Jahre und 9 dazu. Die 9 sind die Umrechnung auf Mondjahre. Jetzt könnte man sagen: Hier ist die Keimzelle, der Islam hat es selber gewusst. Es geht aber natürlich noch eine Stufe zurück, gerade weil die Umrechnung dabei ist. Das ist eine byzantinische Erzählung gewesen, die sehr wohl der Islam übernommen hat und die ihm dann so wichtig war, dass er sie in den Koran aufgenommen hat und um den Hund ergänzt hat, der sich mit den Schläfern synchron immer mitdreht. Auf jeden Fall haben wir ganz erstaunlicherweise dieses Motiv.

Als ich meine 297 Jahre vorgeschlagen habe, hatte ich keine Ahnung davon und bin in Salzburg [2000] bei [Prof. Heinz] Dopsch und [Prof. Hermann] Fillitz zuletzt aufgelaufen, weil ich keine entsprechende Literaturstelle nennen konnte. Danach kam alles gerannt und sagte: Aber es gibt den Mönch von Heisterbach. Der geht auch kurz in den Klostergarten und kommt nach dreihundert Jahren zurück, zerfällt anschließend zu Staub. Es gibt diese Erzählungen, die tatsächlich – man könnte es forsch nennen – eine Relativitätstheorie der Zeit im frühen Mittelalter präsentieren. Dass  hier die Zeitachse besteht, andere überspringen drei[hundert] Jahre, stoßen dazu; das Dilemma ist natürlich nur durch Tod lösbar, anders kann das nicht gehen. Auf jeden Fall, das wäre das Interessante. Ich denke, dass der Islam, so wie er den Felsendom sich von byzantinischen Baumeistern bauen ließ, so wie er sich die Moschee in Damaskus bauen ließ: Der Islam hat am Anfang sehr wohl gewusst, was er von Byzanz hat und wovon er profitieren kann. Bleiben wir offen, was immer da das Bessere sein wird.

Holzer: Bleiben wir noch einmal bei Otto III. Wenn ich Sie richtig verstanden habe in Ihrem Buch, dann ist Otto III. der Kaiser, der gemeinsam mit Papst Silvester diese ganzen drei Jahrhunderte übersprungen hat. Die beiden haben das vorgegeben, mehr oder weniger. Habe ich Sie soweit richtig verstanden? Erste Frage: Warum? Was haben die beiden davon beziehungsweise wie soll das gegangen sein?

Illig: Zunächst für die, die nur ansatzweise irgendetwas kennen. Ich habe einen Haufen Bücher darüber geschrieben. Das erste Buch war archäologisch bezogen, das war Das erfundene Mittelalter. Das zweite war klar davon abgetrennt, nannte sich Wer hat an der Uhr gedreht? Das ist jetzt im Grunde psychologisch, Krimi. Wem kann ich ein Motiv unterstellen? Wie weit kann ich das Motiv untermauern? Da ist jetzt die Sachlage sehr viel schlechter als im ersteren Fall. Wenn ich mit Pfalzen auftrumpfe, die fehlen, dann bin ich auf sicherem Boden. Aus meiner Sicht braucht man viele Erklärungen dafür, um diesen Sachverhalt verständlich zu machen. Jetzt sind wir in einem Bereich, wo es schwieriger wird. Mir ist Otto III. aufgefallen als der, wo die drei Großmächte der damaligen Zeit, des ganzen Mittelalters an einem Strang zogen. Das war sehr selten. Kaiser und Papst waren öfters verfehdet als an einem Strang zu ziehen. Mit Byzanz ging nach 1054, nach dem Schisma ohnehin nichts mehr. Otto hatte die große Gelegenheit. Er hat eine byzantinische Mutter, er ist logischerweise Sohn eines – deutsch kann man noch nicht sagen – eines ansatzweise deutschen Kaisers und er ernennt den Papst. Er hat mit Silvester II. vermutlich den besten Gelehrten seiner Zeit als Lehrer gehabt. Er hat ihn gefördert, und Gerbert hat sogar – damals hieß er noch Gerbert – im ersten Anlauf abgelehnt, sagte: Der Papstthron interessiert ihn nicht. Daraufhin hat Otto etwas getan, wovon die heutige Kirche träumen würde. Ein 16-Jähriger hat einen 24-jährigen Papst ernannt. Die beiden hätten also zusammen 60 Jahre gemeinsam agieren können. Dummerweise starb dieser Neffe von Otto III. sehr bald, wie es in Rom des öfteren passierte, wenn fremde Mächte sich dort einnisten wollten. Daraufhin hat er Silvester ernannt. Silvester II., der sich sehr wohl in Beziehung zu Silvester I., das war der Papst für Kaiser Konstantin den Großen, sah, der kannte arabische Wis senschaft, war – glaube ich – in Salamanca ausgebildet, kannte Astrolabium, Abacus, hat als erster die arabischen Ziffern verwendet, die sich aber nicht durchsetzten, weil die Null nicht dabei war. Er kannte sich auf jeden Fall aus mit dem, was man unter Computistik versteht, die Osterrechnung. Er wäre der Mann gewesen, der das bewerkstelligen hätte können, der wusste, was er tut, wenn er die Uhr vordreht.

Was wäre dann der Zweck gewesen? Er kommt nach heutiger Sicht im Jahre 999 auf den Papstthron, nach meiner Rechnung wäre das 297 Jahre früher. Er sagt jetzt, das unterstelle ich: Otto III., wir wollen das friedvolle, letzte Jahrtausend der Weltgeschichte beginnen. Das war die Vorstellung, als Stellvertreter Jesu Christi ein Jahrtausend regieren zu können. Ich würde gern anschließend die alte Prophezeiung auf den Tisch legen, die den Mediävisten nun mehr als Mühe macht, wo es um das Krönungsdatum von Karl geht. Hier geht es um dieses heilsbringende Jahr 1000. Und bereits im Januar des Jahres 1000 siegelt Otto III. anders. Er ist nicht mehr Augustus, sondern er ist servus servorum. Die Formel, die heute die Päpste haben: der Knecht der Knechte, er, der Jesus dient. Das wäre das Motiv, das ich unterstelle, aber wie gesagt, es hat keineswegs die Härte eines fehlenden Pfalzsteines, sondern da lasse ich beliebig mit mir diskutieren. Wer da etwas klügeres weiß, herzlich gerne. Da kann man sich Gedanken machen.

So war das, was ich mir vorstellte, dass hier der Papst [agiert], Byzanz muss folgen, das ist klar. Dann ist es nach meiner Meinung wiederum so: Das Christentum ist mit hohem missionarischen Eifer ausgestattet; es hat sich sukzessive über die Alte Welt ausgebreitet und bringt natürlich seine Chronologie mit. Wir finden da und dort deutliche Hinweise darauf, dass irgendwann Länder wie beispielsweise Georgien oder Armenien sich angepasst haben an diese Zeitrechnung. So beispielsweise der berühmteste Gelehrte Armeniens, Moses von Khoren, Khorenatsi genannt. Er lebt nach eigenen Angaben im 3. Jahrhundert, und die anderen sagen, er muss im 6. Jahrhundert gelebt haben, anders geht das nicht. Es sind solche Dinge, die dann auftreten. Deswegen, wie gesagt, das Motiv: ein letztes heilbringendes Jahrtausend, weil die Christen nun einmal so gerechnet haben. Das würde ich gerne kurz illustrieren, aber ich lasse es jetzt weg.

Holzer: Otto und Silvester packeln miteinander, sagen: Wir leben jetzt im heilbringenden Jahrtausend, wir zwei. Und wie haben sie es umgesetzt? Wie haben sie das geschafft, dass sie den vielen, vielen Schreibstuben des Mittelalters beibringen: Freunde, es ist jetzt nicht mehr 614, 714, 780 oder was auch immer. Wir leben 999, ab sofort. Wie ist das gegangen, wie ist das gemacht worden?

Illig: Ich war nicht dabei, aber ich würde es so machen: Ich würde ein Skelett skizzieren, eine Regentenliste und eine Papstliste, die zunächst einmal diese leere Zeit ausfüllt. Das ist horror vacui, eine Leere will immer gefüllt sein, also brauche ich Regenten. Hinein lege ich als Krönung Karl den Großen, gigantisch, alle späteren Könige und Kaiser können ihn brauchen. Sie sitzen auf den Schultern eines Riesen. Die Päpste sagten: prima, denn wir haben ihn gekrönt und gesalbt, also selbst über diesen Menschen hatten wir noch die Macht. Beide [Seiten] profitieren von dieser Konstruktion. Jetzt fange ich an. In den Klöstern werden die Chroniken ergänzt, umgeschrieben, erweitert. Das ist nicht so aus der Luft geholt, wie es den Anschein hat.

Da habe ich Unterstützung durch einen NASA-Ingenieur – das klingt jetzt sehr dumm, aber es steckt etwas dahinter. Die NASA brauchte genaue Daten über die Mondbewegung und man ließ sich einfallen, dass man alle Sonnen- und Mondfinsternisse aus den mittelalterlichen Chroniken sammelt, vergleicht, und daraus kam dann die Theorie, der Mond beschleunigt langsam. Das war für die Raumfahrt wichtig, dass die Geschwindigkeit des Mondes nicht zu allen Zeiten gleich war und auch heute berücksichtigt werden muss. Bei der Gelegenheit hat dieser Robert Russell Newton festgestellt: Es ist ganz merkwürdig, wie diese Sonnenfinsternisbeobachtungen, die immer nur regional möglich waren, durchgereicht wurden manchmal von Sizilien bis Schottland. Er stellte dabei etwas fest, das ganz auffällig ist. Die Fehler passieren weniger beim Tagesdatum und beim Monatsdatum als beim Jahresdatum. Da klingelten bei mir alle Alarmglocken, denn wenn ich eine Chronik fortlaufend schreibe, jeden Tag etwas aufschreibe oder jeden Monat einen Rückblick oder selbst jahresweise – da kann ich mich in Tag oder Monat irren, aber nicht im Jahr. Wenn aber gerade bei der Jahreszahl auffällig die meisten Fehler passieren, kann das nur bedeuten, dass eine Chronik weitergegeben wurde in ein nächstes Kloster und die haben dann eine lange Strecke abgeschrieben, korrigiert, gemacht und dabei dann Jahreszahlen durcheinander gebracht. Das wäre niemals passiert, wenn sie fortlaufend ihre Chronik geschrieben hätten. Wir sollten darauf achten, dass in diesen Schreibstuben auch Dinge passiert sind, die wir uns nicht vorstellen können und wollen. Aber da gab es auch früher schon – wie war der Name? Einer der besten Urkundenforscher [Harry Bresslau], dem dann buchstäblich die Hutschnur platzt und immer wieder sagt: Diese mittelalterlichen Notare sind einfach zu dumm, können sich ihre Jahreszahlen nicht merken und immer wieder machen sie Fehler u.s.w. Da sind erstaunliche Funde möglich. Wie gesagt, das kann man alles natürlich weginterpretieren, aber man kann es auch als Fakt nehmen.

Holzer: Professor Gießauf schaut gerade ein bisserl skeptisch.

Illig: Muss er doch.

Gießauf: Muss ich. Es ist meine berufliche Pflicht hier einzuhaken oder auch meine eigenen Vorstellungen dazu zur Diskussion zu stellen, weil sie eigentlich nach Antwortenen heischen, von Ihrer Seite, wenn Sie das so erläutern. Beginnen wir bei dem Gespann Otto drei, Silvester zwei, ein – wie Sie es darstellen – geniales Fälscherduo, das 300 Jahre in die Geschichte hineinbringt, in einem unglaublich kurzen Zeitraum. Otto III. setzt Silvester II. oder lässt ihn wählen – er kann ihn als Papst nicht einsetzen, da bedarf es eines bestimmten Wahlmodus, der war noch nicht verschriftlicht – das wird Ihnen jetzt auch wieder fehlen, wahrscheinlich, der verschriftlichte Wahlmodus –, der vorschreibt, wie diese Besetzung zu erfolgen hat. Dieser Otto III. lässt also 999 seinen alten Vertrauten, Lehrer, wie auch immer, Gerbert auf den Papstthron wählen, der sich dann ganz programmatisch Silvester II. nennt, in Anlehnung an jenes Gespann, das angeblich – in einer frommen Legende überliefert – zwischen Konstantin und Silvester I. zur Bekehrung des römischen Kaisers und damit der römischen Welt zum Christentum sein Vorbild hat, und das fortsetzen will. Jetzt stirbt mir Otto III. zweieinhalb Jahre später, und Gerbert, wenn er das große Projekt allein weiterzieht, stirbt mir drei Jahre später.

Das ist eine verdammt kurze Zeit, um in allen Schreibstuben der damaligen verfügbaren literaten Welt, die lateinisch zu schreiben in der Lage war, inklusive der byzantinischen Überlieferung, die nach Ihren Vorstellungen auf Grund der Herkunft des Otto III. aus mütterlicher Linie aus Byzanz ebenfalls gleichgeschaltet war, eine Konstruktion auf die Beine stellt, die diese Lücke hin zu einem chiliastischen Weltbild zu drehen in der Lage ist und das glücksverheißende Jahr 1000 auf die Reihe zu bringen. Das daneben von einem Gutteil der Bevölkerung aber mit großer Skepsis, ja mit Sorge und Angst erwartet wurde, denn – Sie zitieren es in Ihren Arbeiten auch – sowohl die christlichen Psalmen als auch der Koran, um auf das wieder zurückzukommen, kennen die Vorstellung, dass ein Tag vor Gott wie ein Jahrtausend sei und hier diese Berechnungen sich ergeben, dass um das Jahr 1000 eine Schaltzeit sei. Wenn wir jetzt dem augustinischen Zeitmodell folgen, das in dieser Zeit wohl den Ton angibt, so wäre, wenn es denn 1000 Jahre sind, und diese sechste Aetas, die sich Augustinus als die längste in seinen Vorstellungen vom Heilsgeschehen erarbeitet hat, mit diesen 1000 Jahren zu Ende geht, dann stehen wir vor der Parusie. Das ist für einen Christen etwas Schönes, zumindest wenn er gut gelebt hat – wenn er nicht gut gelebt hat, ist es ziemlich daneben –, aber die beiden haben ja gut gelebt, auch wenn sie gefälscht haben, denn  das war ja nach ihrer [Ihrer?] Vorstellung ein frommer Akt.

Also ich habe ein Problem mit der Kurzfristigkeit dieses Fälschungsunternehmens und – Sie sagen es selbst in Ihrer Argumentation – ich sehe nichts Verwerfliches daran, dass ich Überlieferungen in den unterschiedlichsten Weltgegenden in ähnlicher Form habe, und wenn diese fehlerhaft sind, in ihrer Fehlerhaftigkeit auch deckungsgleich. Wenn jemand an der Westspitze Irlands in die Klosterchronik etwas hineinschreibt, was er dort als Himmelsphänomen gar nicht gesehen haben kann, weil er es von einem italienischen Annalisten abgeschrieben hat, so ist das durchaus systemimmanent, so funktioniert mittelalterliche Geschichtsschreibung.

Man orientiert sich an autoritativen Texten, schreibt vielleicht die eigene Zeitgeschichte in seinem Kloster, wohl als wichtigste Skriptorien hier zu nennen, weiter, hat aber die vorangegangenen Epochen durchaus als Vorlagen. Wenn die Vorlagen fehlerhaft sind, so nehme ich den Fehler mit. Mittelalterliche Chronisten tun das, was Sie in Ihrem Buch auch ein bisschen tun: Sie schreiben eklektisch. Sie suchen sich das heraus, was ihnen wichtig erscheint, und das sind Himmelsphänomene, das sind Besonderheiten, die irgendwie auf das Einwirken Gottes in das Geschehen des Menschen, der Fingerzeig des Heils im Leben des einfachen Christen erkennbar ist, ganz etwas Besonderes. Und das nehme ich her. So wie Sie Ihre Finger in all’ unsere Wunden hineinstecken, so tut es der mittelalterliche Chronist, wenn es ihm darum geht, diese Dinge darzustellen.

Ein Wort noch zu den Urkunden, die Sie auch als Argument angezogen haben. Ich bin vollkommen bei Ihnen: Im Mittelalter wird gefälscht auf Angriff. Da biegen sich die Balken durchaus, wobei Sie mir die mittelalterliche Mentalität des Urkundenwesens zu wenig in Ihre Betrachtungen hineinnehmen. Was ist eine Urkunde im Mittelalter? Wir sind in einer illiteraten Welt. Die Oralität ist das zentrale Miteinanderagieren. Alle Rechtsgeschäfte, alle großen Transaktionen, sei es von der Schenkung großer Grundstücke bis hin zum einfachen Handel um eine Kuh sind einmal a priori mündlich und per Handschlag abgeführt worden. Viele dieser Dinge werden dann in einfachen kleinen Notizen aufgeschrieben; die sind nicht einmal datiert. Da macht sich keiner die Mühe, um sie zu fälschen. Sondern er schreibt dabei – bleiben wir bei Ihren baierischen Wurzeln, habe ich gerade heute im Proseminar mit meinen Studierenden durchgemacht – eine Traditionsnotiz aus dem 10. Jahrhundert. Die schreiben einfach hin: Herr X schenkt dem Hochstift Passau ein Gut in Y und dabei waren der Ozzig, der Gumpo, der Radolz, der Ingolf und und und … und noch 20 andere. Wir haben keine Nachnamen von denen, gibt es nicht. Jetzt sage ich: Den kann ja keiner greifen, wenn ich mit den heutigen detektivischen Maßnahmen, den quellenkritischen hingehe. Da kann kei ner selbst unterschreiben, weil er es einfach nicht kann. Da hängt keiner ein Siegel dran, weil noch keiner ein Siegel hat. Aber es ist in einer oralen Erinnerungskultur und das ist natürlich ein kultureller Rückfall, da gebe ich Ihnen schon recht und da wird es dann wirklich ein bisschen dark. Die sind dann zwar nicht alle völlig vernebelt, die Baiern zu dieser Zeit, aber sie haben andere Prioritäten im Leben. Sie sind die Fußkranken der Völkerwanderung – jetzt habe ich meinen ehrenwerten Lehrer Herwig Wolfram zitiert – und die Fußkranken schreiben weniger

[Gießauf stürzt fast vom Stuhl]

– jetzt bringen Sie mich so in Rage, dass ich vom Stuhl falle – und in dieser oralen Kultur ist die Schriftlichkeit ein Begleiteffekt, eine Begleiterscheinung dessen, wie Gesellschaft funktioniert.

Pink: Haken wir kurz ein. Fassen wir uns in Zukunft ein bisserl kürzer, sonst können wir sitzen bis Mitternacht.

2. Frage: …Wissenschaftler am Podium. Aber wir haben heute x Methoden, mit denen wir feststellen können, aus welchem Jahr ein Fund stammt, auf mehrere 1000 Jahre hinweg. Stellen die Naturwissenschaftler da auch ein 300-Jahre-Loch fest, wenn sie Funde untersuchen? Gibt es da irgendwelche Untersuchungen darüber, hat da jemand drüber etwas publiziert oder wie läuft das?

Pink: Vielleicht kann das Herr Dr. Lehner beantworten.

Lehner: Es ist natürlich kein 300-Jahre-Loch festzustellen, bei naturwissenschaftlichen Datierungen. Es gibt die Dendrochronologie, damit werden Bäume datiert und damit vergesellschaftete Funde – vielleicht, möglicherweise datiert, da können auch immer ältere dabei sein. Ich rede extra schon aporetisch, um da sozusagen keine Angriffsfläche zu bieten. Bei der Dendrochronologie kann ich sagen: Wenn ich heute einen Baum umschneide, dann habe ich die Jahresringe bis irgendwann zurück, die überlappen sich bis irgendwann zurück. Aber wenn ich das Killerargument verwende, wenn ich sage, heute ist nicht 2013, sondern heute ist 1717, dann habe ich trotzdem alle Jahresringe. Das bringt in dem Fall nichts. Genauso ist es mit der Grönlandeisschichtenzählung, im Endeffekt; das ist dasselbe. Da ist zwar die oberste Schicht von heute, aber wenn heute 1717 ist, sind trotzdem alle Schichten nach unten vorhanden, denn nach unten ist die Zeit offen.

Und die anderen Methoden, also die 14C-Methode und die Thermolumineszenz-Methode – 14C-Methode ist für organische Materialien, Thermolumineszenz-Methode für gebrannte Keramik, für Lehm, für Ziegel, für Gefäßkeramik auch – haben sehr große Grenzwerte, haben sehr große Schwankungsbreiten, die wiederum mit den im Endeffekt mit der kosmi schen Strahlung [zusammenhängen], die von der Sonne nicht ausgeht, aber von der Sonnenaktivität befeuert wird. Sie wissen, da sind einmal weniger Protuberanzen auf der Sonne, einmal mehr. Das geht im Endeffekt davon aus, kommt aus dem All, ist nicht auf der Erde gewachsen und jahresmäßig abgelegt, sondern wird von externen Parametern aus bestimmt. Diese Parameter sind nicht so konstant, dass wir über alle Zeiten hinweg uns vollkommen darauf verlassen können. Man hat die 14C-Methode, wie Sie wissen, kalibriert, mittlerweile, allerdings mittels Dendrochronologie, mittels datierter Jahresringe. An einer kalifornischen Sequoia gigantea – ich konstruiere den Fall ein bisschen – wird ein Jahresring genommen, wird genau zurückgezählt, bis zu 4000 Jahre alt – es gibt 4000 Jahre alte lebende Bäume. Das ist dann 1500 vor Christus, nach der Zählung von 2013 weg. [Die Probe wird] verschickt, alle Labors eichen sich an dieser Probe. Es wird ein Mittelwert genommen. Das heißt, ich habe für das Jahr 1500 v. auf der Dendro-Kurve einen Wert

[Aufnahmestörung]

Eine Probe aus dem Jahr 1500 v. hat so einen durchschnittlichen 14C- Wert, eine Probe aus dem Jahr 1000 v. hat so einen durchschnittlichen 14C-Wert. Dann wird das organische Material beprobt. Da kommt dann ein so genanntes Radiokarbonalter heraus, das wird before present, vor 1950 gesetzt. Ein Radiokarbonalter kann man dann direkt umlegen. Ötzi – kennt jeder – zum Beispiel hat ein Radiokarbonalter von, ich weiß jetzt nicht, ob es sein Bogen ist oder seine Haare oder seine Haut oder seine Filzpatschen … Strohschuhe natürlich. Es ist, glaube ich, ein Datum von den Haaren, das wirklich zeitgenössisch ist. Das sind die jüngsten Dinge, die man an sich hat, das hat ein Radiokarbonalter von circa 2600 und durch die darüber gelegte Dendrochronologie-Kurve wird das auf 3200, ungefähr zwischen 3100 und 3200 [v. Chr.] gelegt. Das Problem sind immer noch die Schwankungsbreiten, die einfach in der Messmethode begründet sind und die von der Uneinheitlichkeit der kosmischen Strahlung [abhängt], die wieder eine uneinheitliche Radiokarbonisotopenkonzentration in der Atmosphäre bedingt. Bei der Thermolumiszenz ist es im Endeffekt gleich: Da geht es um kristalline Vorgänge, Elektronen, die auf höhere energetische Niveaus gehoben werden. Auch die hängen wieder von der kosmischen Strahlung ab.

Es ist natürlich so, dass Daten immer auch in die fragliche Zeit treffen, aber die Schwankungsbreiten sind so groß, dass wir das jetzt leider nicht wirklich als Argument verwenden können. Dendro schon, aber nur von unten, und da muss ich mich wieder auf Historisches verlassen. Auch ein fiktiver Fall: eine Rheinbrücke, die unter Drusus im Jahre soundsowieso  errichtet worden ist; da ist ein Holzpfosten drinnen, dann kann ich von dort hinaufzählen und mit den Überschneidungen; dann würde ich diese Jahre füllen können. Das wäre eigentlich das Einzige, was ich jetzt selbst, aporetisch und zweifelnd und extra kritisch gesagt, anerkennen würde oder was anerkannt werden kann: diese Lücke von unten her zu füllen mit der Dendrochronologie.

Illig: Dürfte ich kurz unterbrechen. Sie haben das wunderbar beschrieben. Ich wollte nur sagen, Ernst Hollstein war es, der die erste Eichenstandardkurve zusammengesetzt hat, in den 70er Jahren, und er hatte die größte Mühe, die dunkle Zeit zu füllen. Er hat extra an einer Kurve aufgezeigt, wie viele Hölzer er jeweils zur Verfügung hat. In der fraglichen Zeit ging das auf vier Hölzer herunter. Hier war die absolut schwächste Stelle, wo er überhaupt kaum ein Belegmaterial gefunden hat. Nur so viel.

3. Frage: Zwei Punkte. Otto III. ist der Sohn von Otto II. und dieser der Sohn von Otto I. Otto I. hat jetzt sozusagen als Vorbild Karl den Großen und lässt sich zum Kaiser krönen des westlichen Reichs. Der erste Kaiser des westlichen Reiches bzw. des Westens war Karl der Große. Wie kann sich Otto I. auf Karl den Großen berufen, wenn es Karl den Großen nicht gegeben hat? Und zweitens: In der fraglichen Zeit treten auch die Wikinger auf, mit ihren Plünderungszügen. Sie plündern in Italien, erobern Britannien, so dass noch einmal distanziert werden muss und setzten sich auch in der Normandie fest und erobern 1099 [recte: 1066] als Normannen England. Wie geht es, wenn diese 300 Jahre fehlen?

Illig: Zunächst sehe ich Otto den Großen im Umkehrschluss als das Vorbild für Karl den Großen. Otto war ein mächtiger Mann, übergroß, er war ebenso Analphabet wie Karl der Große, er hat mächtige Eroberungszüge durchgeführt. Er wäre aus meiner Sicht die Figur, die man später noch einmal überhöht hat zu einem gigantischen Karl. Wenn ich erfinde, kann ich nicht beliebig erfinden. Wenn Karl so groß wird, muss ich wieder herunter, notwendigerweise, denn das frühe ottonische Reich war so toll nicht, nach den Beschreibungen wesentlich schwächer als das karolingische Reich. Jetzt muss dieses Reich wieder gewissermaßen auf Normalnull gebrach werden. Wer erledigt das? Sarazenen, Ungarn, Normannen. Die Normannen sollen im Norden das Reich attackiert haben und dramatisch bekämpft bis hin dazu, dass der Aachener Dom als Pferdestall für die Normannen diente. Schöne Erzählung. Wenn wir den Archäologen fragen: Wo haben wir bitte die Normannenschäden? Beispielsweise Köln. Da wird kräftig attackiert, Trier, Aachen. Da steht der Archäologe meistens da und sagt: Ich kann diese Schäden nicht wirklich darstellen. Ich stelle sogar fest, dass an Kirchen, die außerhalb der Mauern lagen, keine spezi fischen Schäden zu erkennen sind. Es ginge dann weiter, dass man bis heute, glaube ich, auf dem Kontinent kein einziges Wikingerbegräbnis kennt. Hieße: Entweder haben sie alle Leichen [mitgenommen oder …]

[Aufnahme-Unterbrechung. Weiter mit Ausführungen von Illig zu dem Chronologiekritiker und Professor für Mathematik Anatoli Fomenko, der in der 4. Frage als Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften vorgestellt worden ist und über dessen Arbeiten Auskunft erteilt werden soll.]

Sein Ergebnis ist insofern mit mir leise übereinstimmend, dass er bei 900 beginnt. Ich beginne bei 911 wieder. Er beginnt bei 900, aber mit dem kleinen, aber doch wesentlichen Unterschied, dass die gesamte Hochkultur hier einsetzt. Die ägyptischen Pyramiden werden nach 900 n. Chr. gebaut. Das muss gesehen werden. Wenn man seinem Werk dann weiter folgt, stellt man fest, es hat eine extrem nationalistische Komponente. Es ist in einer Zeit entstanden, in der Russland eine schäbige Gegenwart und scheinbar keine Zukunft hatte, aber eine glorreiche Vergangenheit wäre recht. Was kam darin vor? Es gibt für ihn keine chinesische Kultur vor 1600. Die haben die Jesuiten gebracht, und alles, was wir kennen – altchinesische Bronze, die Schrift – seien Erfindungen der Jesuiten. Da geht es ihm darum, dass die chinesische Kultur keinen Tag älter sein darf als russische Kultur. Dann dreht er wieder die gesamten Dinge nach Westen: Schaut Euch russische Klöster an, die haben Ziegel aus massivem Gold – meiner Ansicht nach eine reine Behauptung. Wo kommt das Gold her? Das sind Tribute aus dem Westen. Ganz Europa war Russland tributpflichtig. Solche Dinge spielen da plötzlich eine Rolle, die meiner Ansicht nach aus geschichtlicher Sicht völlig freischwebend sind. Mir wurde erzählt, jeder dritte, der in der Moskauer U-Bahn liest, liest Fomenko, ein Schachweltmeister ist auch in den Reihen – da ist richtig Stimmung bei denen, so mein Eindruck.

Lehner: Ich wollte nur ad hoc etwas sagen, etwas Nicht-Archäologisches. Ich bin gestern zufällig auf einen Mathematiker getroffen, der Professor für theoretische Mathematik oder was auch immer ist an der Universität Graz. Der hat über Theorie gesprochen und gesagt, eine gute Theorie ist eine, die auch, wenn man einen kleinen Faktor verändert, irgendwie etwas wegnimmt, schon nicht mehr funktioniert. Das ist eine punktgenaue Theorie. Eine Theorie, bei der man viele Dinge wegnehmen oder verändern kann und die trotzdem noch funktioniert, das ist eine beliebige Theorie, die auf die Dauer nicht halten wird. Das mag jetzt für die Naturwissenschaften gelten. Ob das auf die Phantomzeittheorie oder auf die russische umzulegen ist, das lasse ich jetzt einmal dahingestellt.

Und dann darf ich vielleicht noch ad hoc zwei Sachen sagen zu den archä ologischen Dingen, ganz kurz: Es ist nicht alles, was wir nicht finden und wo wir keinen karolingischen Grundstein, wie Sie gesagt haben, haben, deswegen inexistent. Also Wikingerbestattungen. Auch jetzt wieder fiktiv den Fall: Es gibt ja auch Wasserbestattungen. Die Wikinger bestatten teilweise in bootförmigen Dingen und vielleicht, wenn sie auf Raubzug sind, legen sie die Leute in ein Boot oder in ein bootförmiges Ding und geben das den Fluss hinunter oder auf das Meer hinaus und schießen noch einen Brandpfeil nach. Dann haben wir keine Chance, diese Bestattung zu finden.

Zu den Zerstörungsschichten: Das ist immer ein großes Problem. Wir haben sehr viele – da bin ich eher im Widerstreit mit den Historikern als mit Ihnen – Zerstörungsnachrichten, die wir gerne als Schichten finden würden, weil wir dann auch schöne historische Ansatzpunkte für die Datierung unserer Befunde hätten. Mit solchen Zerstörungsschichten aus Pompeji, da funktioniert es. Aber sonst haben wir große Schwierigkeiten, gerade bei Kirchen mit Brandzerstörungen und so weiter, Türkenzeit 1490, 1530er Jahre, da sagen die Pfarrer: Ein langer Streifen von Rauch blieb nur von den vielen Kirchen. Die wollen natürlich Geld haben für eine neue Kirche. Wenn wir drinnen graben oder Bauforschung machen, steht die Romanik bis zum Dach hinauf. Es ist nicht so, dass alles immer archäologisch nachweisbar sein muss.

Gießauf: Zwei ganz kurze Zwischenbemerkungen. Die erste zu den russischen Theorien und zur Akademie der Wissenschaft. Schauen Sie das Durchschnittsalter von Mitgliedern an Akademien europaweit an. Dann werden Sie sehen, wie à jour die dortigen Meinungen sind. Bei uns in Österreich werden an den Akademien die Meinungen von 1962 so weitertradiert und in den entsprechenden Wahlen jedes Mal wieder bestätigt. Das ist das eine.

Das andere ist, was die russische Geschichtsbetrachtung betrifft, da ist Fomenko mit einbezogen. Hier müssen wir mit all den Vorläufen der russischen Geschichte der vergangenen Jahrhunderte eine gewisse Problemlage insofern konstatieren, als ein gewisses nationalistisches Gefühl aus Zeiten der Unfreiheit, der Nicht-Selbstbestimmung der russischen Geschichte wohl resultiert. Letztlich ist es ein Trauma des Mittelalters, des 13. Jahrhunderts – da sind wir beide d’accord, bei Ihnen ist es das 10., bei mir das 13., die Zeit hat es gegeben. Dann habe ich dieses Trauma der Mongolenzeit bei den Russen – endlich bin ich bei meinem Thema gelandet –, dass hier sehr vieles umgeschrieben werden muss. Jetzt habe ich die Kiewer Rus als Vorgeschichte, die ich schon russisch umschreiben muss, weil es eigentlich eine ukrainische Geschichte ist. Die Ukrainer beanspruchen sie heute für sich und sagen, das hat mit den Russen nichts zu tun,  wir sind Nachkommen der Waräger. Das ist reiner Nationalismus, der sich hier abspielt. Was immer dort für Konglomerate von Herrschern, von Unterworfenen, Völkerschaften existieren, das hat die zeithistorische Komponente der jeweiligen Geschichtsschreibung, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.

Worauf ich auch noch verweisen möchte, ist, wenn Sie sagen, wir haben keinen toten Wikinger irgendwo herumliegen. Und meine Mongolen gibt es auch. Ich habe auch keinen toten Mongolen irgendwo herumliegen aus der Eroberungszeit. Die haben ihre Toten entweder wirklich mitgenommen, wie wir es aus westlichen Quellen zum Teil belegt haben, auch aus islamischen Quellen, die darüber schreiben, dass die, wo es möglich ist, nach einem Plünderungszug mit nach Hause nehmen, um es dort entsprechend bestatten zu können, von Überresten angefangen. Und ich habe keine Grabstätten in den eroberten und später beherrschten Gebieten aus den unmittelbaren Eroberungsjahren. Der Unterschied ist: Ich habe dann später dort mongolische Grabstätten, – ja, weil sie geblieben sind.

Die Wikinger sind in den wenigsten Fällen geblieben. An den Punkten, wo sie geblieben sind, da habe ich sie auch. Ich habe sie dann in der Normandie, ich habe sie dann später als Nachkommen in Süditalien und in den beiden Königreichen Sizilien-Neapel ab dem ausgehenden 11. Jahrhundert, grob gesprochen. Ich habe sogar normannische Bestattungen im Heiligen Land, jene Leute, die mitgegangen sind auf den Kreuzzug. Aber aus der Eroberungszeit habe ich sie nicht. Ich habe auch keine Ungarn von den Eroberungszügen irgendwo herumliegen. Ich habe nur ein paar kaputte Bogenfragmente, die vielleicht darauf schließen lassen, das waren Ungarn. Ich habe irgendwo ein paar Awaren herumliegen. Das sind plündernde nomadische, semi-nomadische Gruppen, die nur sporadisch irgendwo auftauchen. Hinter denen brauche ich nicht nachgraben. Ich werde sie dort nicht finden, wo sie die Chronik hinschreibt.

Dass die Chroniken so schreiben – ich gebe Ihnen recht, das ist massive Übertreibung, angefangen von den vielen Steinbauten, die sie zerstört haben, die es gar nicht gegeben hat – das sagt Ihnen Manfred Lehner genauso wie ich –, aber es schreibt sich so viel besser. Das ist public relation. Wir sitzen da, wir sind brave, fromme Christen, verrichten unser Tagwerk. Und dann kommen irgendwelche Wilden, ob sie auf Booten sitzen, ob sie auf Pferden dahergaloppieren. Sie schlachten uns die Familien ab, sie verschleppen unsere Leute als Sklaven. Da werden Zahlen genannt: So viele Leute haben damals gar nicht gelebt, wenn ich die alle verschleppt hätte. Das ist Topos, das ist Imitatio römischer Geschichtsschreibung. Die römischen Heere waren auch nicht so groß, wie die Geschichtsschreiber sie gern aufgeblasen hätten. Woran orientiere ich mich als  gelehrter Schreiber? An den Vorbildern. Wenn ich mir anschaue die Schlachtopferzahlen. Die kann ich dann festmachen: Da wird diese Schlacht aus der Antike imitiert, da wird eine biblische Zahl eingefügt. Hier wird gearbeitet mit dem System der Emulatio, der Nachahmung. Ich habe ein großes Vorbild, ich will beeindrucken. Mein Leser, der weiß schon, was Sache ist. Das Mittelalter war, wie auch die Gegenwart, grausam, wenn es darum gegangen ist, Menschen durch andere Menschen etwas anzutun. Wir müssen die Zahlen, wir müssen die Verwüstungen, wir müssen die stattgehabten Grausamkeiten allerdings relativieren und unter dem Aspekt sehen: Die anderen sind die Bösen, wir sind die Guten. Wie kann uns das nur passieren?

Holzer: Rein zeitlich wären wir jetzt am Ende der Veranstaltung. Aber nachdem wir 300 Jahre verloren haben, können wir noch ein paar Minuten anhängen. Falls jemand aus dem Publikum noch Fragen hätte, jetzt bitte.

5. Frage: Die historischen Fakten sind dabei ziemlich irrelevant. Wenn Sie mir einen Astronomen bringen, der Ihnen diesen Schwachsinn abnimmt. Haben Sie jemals einen Astronomen kontaktiert? Die Zeit wird ja nicht von historischen Fakten ausgefüllt, sondern vom Lauf der Gestirne. Ich kann so etwas überhaupt nicht glauben, dass 300 Jahre einfach weg sind. Das ist völlig absurd.

Holzer: Wir sammeln jetzt die Fragen. Dahinten war noch ein Herr, dort drüben, dort noch eine.

6. Frage: Ich knüpfe an an die Frage der spanischen Eroberung durch Perser, wie Sie sagen. Vielleicht liegt da irgendeine Spur nachweisen in der Sprache, gibt es im Arabischen irgendein Idiom, das ins Spanische gelangt ist? Wie haben sie das hineingeschafft? Ich möchte dadurch Ihre Theorie keinesfalls in Frage ziehen.

Holzer: Dann erste Reihe und nochmals erste Reihe. Und dann wieder letzte.

7. Frage: Wir waren bis jetzt in Europa, im Abendland unterwegs. Es gibt aber auch andere Chronologien, es gibt China. Fehlen dort auch diese Jahre?

8. Frage: Eine Frage an Herrn Illig. Was sagt die jüdische Gesellschaft oder die Historiker zu diesem Werk oder These von Ihnen?

Holzer: Ganz hinten war auch noch jemand.

9. Frage: In meiner ersten Wortmeldung wollte ich nur den Punkt wissen, wie Sie das sehen. Jetzt kommt ein Argument, das meiner Meinung nach stichhaltig ist, gegen Ihre These. Wenn wir 614 in ganz Europa unterschiedliche Schriften haben, von der Beneventana in Süditalien biszu insularen Schriften auf den britischen Inseln. 911 haben wir dann doch  eine eher vereinheitlichte Schrift und auch später hindurch haben wir dann so etwas wie die karolingische Minuskel oder die Ausgänge der karolingischen Minuskel. Wie kommt das, dass plötzlich, bevor schon Papst Silvester und Otto III. gesagt haben: So, jetzt fügen wir ein paar Jahrhunderte ein. Wie kommt es, dass dieser Sprung in der Schriftentwicklung überall funktioniert?

Pink: Kurze Kommentare.

Holzer: Kurze Antworten. Kurze Frage: der astronomische Schwachsinn.

Illig: Da gab es ein ganz dickes Buch, das ein Franz Krojer geschrieben hat: Die Präzision der Präzession, hinter dem haben sich noch 22 Fachleute verschanzt. Das Resultat war: Krojer sagte zum Schluss: Im rein mathematisch-astronomischen Sinn kann er mit seinen Argumenten diese These nicht fällen. Ich gebe noch ein kürzeres Beispiel. Wilfried Schlosser, der bekannteste Archäoastronom in Deutschland aus Bochum, wurde gefragt für einen Film und antwortete mit lockerer Hand: Ich drehe die Uhr um 300 Jahre zurück, da ist keine Sonnenfinsternis, die These ist absurd. Ich hatte allerdings von 297 Jahren gesprochen. Wenn man die Uhr zurückdreht, trifft man auf eine Sonnenfinsternis, die sogar besser passt zu den Quellen, das ist in dem Fall Gregor von Tours. Also von wegen; das mit lockerer Hand wegzuwischen, ist mit Sicherheit unmöglich.

Holzer: Was war das: Spanien und Araber? Sprache?

Illig: Sprachlich bin ich nicht besonders gut. Ich schließe nicht aus, dass arabische Mitkämpfer dort hingezogen sind und dass in den Sprachen alles mögliche [enthalten] ist. Ich persönlich kenne mich nicht aus. Ich weiß nur ein Beispiel bei den Goten. Die einen sagten mir, es gibt Tausende von gotischen Worten in Spanien, die anderen sagten, es gibt zwei Dutzend. Dazwischen konnte man das aussuchen. Ich persönlich denke, dadurch dass der Islam dort ist, dass unterschiedlichste Stämme dort sind, wir wissen auch von Wissenschaftlern, die arabischer Herkunft waren und in Spanien gelebt und gelehrt haben, dass dort auf jeden Fall die Möglichkeit lange gegeben war, genau bis 1492, dort die Sprache noch zu beeinflussen.

Holzer: Dann war die Frage nach China, ob da zum Beispiel auch irgendetwas gewesen ist.

Illig: Wir haben die Spuren verfolgt über Armenien, Georgien, Indien, Indonesien bis natürlich China. Obwohl ich immer sagte, in China gehen die Uhren anders. Ich habe erst in meiner Zeitschrift – ich halte sie in aller Bescheidenheit hoch, das Ding heißt Zeitensprünge, erscheint drei Mal im Jahr, derzeit im 25. Jahrgang – habe ich jedenfalls, als es bei uns, inner halb dieser Gruppierung zu Turbulenzen kam, wie das so üblich ist, mich damit beschäftigt. Kern des Problems ist die Tang-Zeit, die Tang-Periode, sie ist fast aufs Jahr genau mit meiner Dunkelzeit identisch. Tang sind aber gerade archäologisch gesehen ungewöhnlich gut präsent. Das habe ich dann untersucht und stelle fest: Bei China muss nach den bisherigen Ergebnissen die zweite Hälfte der Tang-Zeit [weg], das wären 150 Jahre, und die nächsten 150 Jahre, die bieten sich einigermaßen blank dar. Wenn die dort herauskommen, dann wäre das erreicht, was notwendig ist. Dann würden die wenigen byzantinischen Münzen, die von Byzanz bis China in Gräber gewandert sind, liegen dann in Gräbern der richtigen Zeit, nämlich Sui-Dynastie und frühe Tang. Dann wäre das gewährleistet.

Ob das das letzte Wort dazu ist, bezweifle ich selbst aus dem einfachen Grund: Wenn ich lese, dass zur Tang-Periode, später natürlich, postum gewissermaßen, 200 Bände Historie, also nur Chroniken erschienen sind, und hundert Jahre später noch einmal 220 Bände, dann weiß ich nicht, wer auf dieser Welt, vor allem im Westen das in irgendeiner Weise kritisch aufarbeiten soll. Das ist nahezu unmöglich, weil die Chinesen auf der einen Seite dermaßen viel Material haben und auf der anderen Seite die schlichte Feststellung [gilt]: Wenn starke Kaiser kommen, haben sie verfügt; Wir verbrennen alle Chroniken und wir schreiben sie nach unserem Gutdünken. Wo greifen wir da hin? Ich weiß es nicht. Da wird es Klügere geben, die das Problem vielleicht definitiv lösen können. Ich habe zumindest einen Ansatz, der dazu führt, dass Byzanz und China in sich widerspruchsfrei liegen.

Holzer: Dann war die Frage nach der jüdischen Gesellschaft.

Zur 8. Frage: Oder Historiker. Was sagen sie zu dieser These?

Illig: Ich kann drei Quellen nennen. Cecil Roth schrieb ein Buch im Rahmen der gesamten jüdischen Geschichte, nämlich das Buch über diese Zeit. Er nannte es von vornherein The dark ages. The Jews … und hat in der Einleitung erklärt, dieses Buch hat zwar 400 Seiten, aber es entsteht nur dadurch, dass er die Anfangswerte und die Endwerte nimmt und dazwischen interpoliert, weil er nichts hat. Zum zweiten: Diese Zeit gilt als eine nach Dubnow – Simon Dubnow war es, der das festgestellt hat in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts –, das ist eine der zwei Zeiten überhaupt, in der angeblich die Juden versteinert wären, nicht geschrieben haben, ausgerechnet sie als Volk der Schrift. Eine für Juden beunruhigende Lücke. Dann kenne ich Michael Toch, der in Tel Aviv lehrt und in München ein Gastsemester hatte. Er sprach gleich davon, dass es ein jüdisches Frühmittelalter nicht gibt. Er meinte ansatzweise in Süditalien und den Rest, den wir haben – da kam immer wieder das Wort Topos, wenn  Gregor von Tours schreibt, dass ein Jude einen Christen in Ketten durch die Stadt führt, das seien irgendwelche Vorstellungen, die zeigen, wer nun wirklich die bessere Nation oder Rasse ist. Also von da her sind gerade jüdischen Gelehrten durchaus in der Situation, zu sagen, es wäre leichter, mir zuzustimmen, als dort etwas zu finden. Es gibt aber geharnischte Gegenstimmung, die mir entgegenschlug von einem damals noch befreundeten Juden, aber dann war es vorbei. Er sagte: Ich habe 300 Jahre jüdischen Leids ausgelöscht. Das ist das Schlimmste, das ist deutlich mehr als Auschwitz. Da war das geklärt.

Holzer: Die letzte Frage war, wie es zur plötzlichen Schriftvereinheitlichung gekommen sei, weil in der Zeit zwischen 614 bis 911 nichts [davon zu bemerken ist].

Illig: Ich weiß nicht, ob die Schrift dermaßen homogen und einheitlich ist, denn wir haben diesen für mich seltsamen Übergang von der Majuskel zur Minuskel, vielfältig. Wir haben eine irische Minuskel, wir haben eine karolingische Minuskel, in Spanien taucht so etwas auf, Auch in Byzanz übrigens haben wir einen Wechsel der Schrift, den ich im Falle von Konstantin VII. eindeutig damit in Verbindung gebracht habe. Hier ist eine neue Schrift kreiert worden, um alle Chroniken – das ist in Byzanz – neu zu schreiben und zwar in gekürzten Fassungen, so wie es Kaiser Konstantin VII. [10. Jh.] wollte. Da ist etwas ganz Merkwürdiges passiert, und Klaus Schreiner, deutscher Byzantologe, hat das so kommentiert. Da war eine grundlegende Aktion, die die gesamte Geschichte über den Haufen warf. Wir entdecken sie nur indirekt, warum, wissen wir nicht, aber stattgefunden hat das. Ich persönlich habe das als Indiz genommen dafür, dass hier wesentliche Dinge einfach neu geschrieben worden sind und dafür auch neue Schriften generell kreiert worden sind. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

Pink: Jetzt an die beiden Herren, die nichts dazu haben sagen können. Eine allerletzte Frage: Sie haben dem Herrn Doktor Illig zugehört, die letzten eineinhalb Stunden. Gibt es jetzt so etwas wie einen Zweifel bei Ihnen? Gibt es die 300 Jahre oder die 297 Jahre, ja oder nein, oder gibt es einen Zweifel? Vielleicht noch kurz. Oder sagen Sie: Nein, das lasse ich mir nicht wegnehmen, das ist so.

Gießauf: Ich habe in meinem Leben genug Zweifel, aber sie hängen nicht zusammen mit dem, was Heribert Illig schreibt, weil ich für mich – mit der Beschäftigung, die immer intensiver geworden ist mit dieser Zeit – entdeckt habe, dass es einfach Lücken gibt, aber es gibt viel zu viele Leuchttürme innerhalb der dunklen Zeit, die in das System, das sich natürlich – und ich habe es schon einmal so genannt – eklektisch an all jenen  Fragen aufhängt, die uns beschäftigen, die vielleicht irgendwann einer Lösung zuführbar sind oder auf ewig ungelöst bleiben, wir uns in diesen Fragen zumindest ein bisschen ein Leitlicht vorgeben können, in welche Richtung das Boot der Wissenschaft segeln wird, mit totem Wikinger darauf … Der Zweifel ist nicht da.

Pink: Vielleicht noch dazu. Finden Sie persönlich, dass solche Thesen wichtig sind für die Wissenschaft? Muss man darüber diskutieren oder soll man von vornherein sagen, das kann nicht sein, weil es steht nicht so im Lehrbuch.

Gießauf: Das Schöne ist ja, dass Wissenschaft eigentlich dadurch entsteht und sich dadurch weiterentwickeln kann, dass es Thesen gibt, mögen sie auch manchmal krude erscheinen, aber am Sich-Messen von Meinungen, von Beweislagen, von geistigen Leistungen geht letztlich der Fortschritt der Wissenschaften voran. Es ist schön, dass man noch so etwas denken darf [mit Blick auf HI]. Das Problem ist, man darf es im universitären Rahmen nicht mehr. Da wird vorgegeben, was wir zu forschen haben, was letztlich unter der Forschungstrennlinie herauskommen soll, im Großen und Ganzen beziehungsweise um wie viele Prozent wir unseren Forschungsoutput jährlich steigern müssen. Da ist dann Denken nicht mehr gefragt; nur noch Schreiben und Produzieren, weil quantitativ messbar, angesagt.

Pink: Ich kenne Professoren, die das durchaus zur Diskussion stellen, ohne ihre Namen zu nennen. Herr Dr. Lehner. Ist bei Ihnen ein Zweifel gekommen im Rahmen dieses Abends? Auch an Sie die Frage.

Lehner: Auch ich habe genug Zweifel, ich möchte jetzt nicht so weit gehen, dass ich sage: in meinem Leben, aber in meinem wissenschaftlichen oder beruflichen Leben. Da kommen natürlich immer wieder Zweifel auf, für mich als Archäologen, Zweifel an irgendwelchen Datierungen, die irgendwo schwarz auf weiß hingeschrieben sind, Zweifel an Hypothesen, die noch bestehen, weil sie von prominenten Menschen, meistens Männern, weil das meist früher schon geschehen ist, schwarz auf weiß hingeschrieben worden sind, der über Schüler- und Enkelschüler-Generationen weitergewirkt hat und das einem heute oft, wenn man sich echt damit beschäftigt, genau widersinnig vorkommt.

Was es definitiv nicht gibt, ist eine Zeitlücke. Deswegen hat es auch keinen Sinn, dass wir heute astronomisch argumentieren. Die Zeit geht durch; es gibt keine Zeitlücke, es gibt ein Kalenderproblem. Also das möchte ich schon sagen. Wir Archäologen sind ohnehin gewohnt, ständig irgendwelche Dinge datieren zu müssen. Die Hauptfrage, die man uns stellt, ist: Wie alt ist das, was du da ausgräbst? Wir arbeiten mit verschiedenen Chrono logien, mit relativen Chronologien, mit absoluten Chronologien. Auf die Frage, wie alt, muss man natürlich mit irgendeiner absoluten Chronologie antworten, die im Endeffekt unser gängiger Kalender ist.

Das Frühmittelalter ist nicht das einzige dark age; es gibt viele dark ages, etwa die frühe Eisenzeit in Griechenland. Es wird auch der Beginn der Hallstattkultur einmal vor-, einmal zurückdatiert. Es wird mit den phönikischen Funden, mit neuen 14C-Daten von Rinderknochen in Spanien alles um 100 Jahre früher datiert und es geht wieder zurück. Der Vulkanausbruch von Thera ist vielleicht vielen bekannt, das geht wieder 100 Jahre hin und her. Ich habe es erlebt in meiner Studienzeit – so lange ist das auch wieder nicht her –, dass das Neolithikum insgesamt 2.500 bis 3.000 Jahre früher geworden ist, als es ursprünglich war, als die kurze [Miloj‡i…?-]Chronologie noch gegolten hat, in den späten 70er, frühen 80er Jahren. Mittlerweile wird das komischerweise alles immer älter. Insofern ist es angebracht, Zweifel zu haben. Eine Zeitlücke gibt es nicht. Es ist die Frage, ob man das Jahr Franz, Karl, Otto oder Fritz nennt oder ob das Jahr 911 heißt oder 614.

Holzer: Das war jetzt eine wunderbare Schlussrunde mit Franz, Karl, Otto oder Fritz, dem neuen Jahr. Wir sagen Danke, dass Sie hierher gekommen sind, dass Sie sich die Zeit genommen haben uns zuzuhören, mitzudiskutieren. Danke ans Podium. Auf Wiederschaun.

– Ende der Veranstaltung an der Karl-Franzens-Universität, Graz –