von Zsolt Németh (aus Zeitensprünge 1/2014)

Mitte der 1980er Jahre wurde eine heftige Diskussion in Nature, der wohl bedeutendsten naturwissenschaftlichen Zeitschrift der Welt, entfacht über etwas, das eigentlich gar nicht so richtig in diese Zeitschrift passt. Wolfhard Schlosser und Werner Bergmann (nachfolgend SB [1985]), Professoren an der Ruhr-Universität Bochum, haben beim Studieren des Werkes De cursu stellarum ratio, qualiter ad officium implendium debeat observari (eine Abhandlung über die Beobachtung der Gestirnsbewegungen zum Zweck der Bestimmung der Gebetszeiten, nachfolgend: DCS) von Bischof Gregor von Tours (ca. 538–593 [SB 1985, 46; Wood]) eine überraschende Hypothese aufgestellt. Der Bischof erwähnt einen Stern namens Robeola, der dem Namen nach zu urteilen eine rötliche Farbe haben soll, und den er als splendida, also prächtig leuchtend bezeichnet [DCS 870]. SB [46] identifizieren Robeola als Sirius, obwohl der Sirius heute weiß leuchtet. Sie begründen ihre Hypothese folgendermaßen:

  • Die Bezeichnung splendida kann sich nur auf den hellsten Stern des Himmels beziehen,
  • der Sirius wird in antiken Quellen ebenfalls als roter Stern beschrieben,
  • der eigentlich ein Doppelsternsystem ist: Sein roter Licht resultierte möglicherweise daraus, dass Sirius B, der heute blassere weiße Zwerg, im Altertum – ja sogar noch im 6. Jh. – noch ein roter Riese war, der den weißen Sirius A überstrahlte,
  • und wenn dem so war, muss der Sirius notwendigerweise damals um vieles heller geleuchtet haben als heute und konnte somit von den Himmelssternen einzig und alleine wirklich den Beinamen splendida verdient haben.

Für wen wurde DCS erstellt?

Noch bevor wir auf die Reaktionen auf diese Hypothese eingehen, müssen wir quasi als Schritt 0 etwas erforschen, was SB 1985 noch vollkommen gutgläubig als selbstverständlich erachten konnten: Für welche Ordensbrüder wurde die Abhandlung Gregors erstellt? ‘Selbstverständlich’ für den Benediktiner-Orden, weil der heilige Benedikt von Nursia (480–547) ja bereits Jahrzehnte vor der Erstellung von De cursu stellarum die Grundlagen des nach ihm benannten Ordens geschaffen hatte.

Im 20. Jh. haben eine Reihe von kirchlichen (Benediktiner) und weltlichen Wissenschaftlern bewiesen, dass der Benediktiner-Orden im 6. bis 9. Jh. in zahlreichen Teilen Europas noch gar nicht existiert hatte [Zusammenfassung: Illig 1994, 21; Clark 2003, 31, 224-226]. Wir wissen aber aus dem sehr gründlichen und detaillierten Werken von Francis Clark, dass Benedikt selbst höchstwahrscheinlich überhaupt nicht existiert hat. Sein Leben ist uns nur aus Dialogi, dem Werk Papst Gregors des Großen (540–604) bekannt; der Kirchenhistoriker Clark hat jedoch glaubwürdig dargestellt und belegt, dass dieses Werk unmöglich vom Papst Gregor I. stammen kann, sondern erst etwa 100 Jahre später entstanden sein muss und von einem Pseudo-Gregor geschrieben worden ist, dessen Ansichten von denen des tatsächlichen Papstes strikt abweichen [Clark 1987, 641]. Clarks Gedanken weiterführend, datiert Heribert Illig Dialogi auf Ende des 12. Jh. oder noch später [Illig 1994, 35], nachdem in diesem Werk das Fegefeuer als locus bereits erwähnt wird. Die Idee des Fegefeuers als reale Institution entstand jedoch, wie aus den Forschungen von Jacques Le Goff [191, 204] bekannt, in der Schule von Notre Dame de Paris um 1170/80.

Die Frühgeschichte des Benediktiner-Ordens hat bereits auch aus anderen Richtungen Zweifel aufgeworfen. Illig hat, in erster Linie auf der bauhistorischen Forschung von Rolf Legler basierend, festgestellt, dass die Existenz von Benediktiner-Klöstern vor der Mitte des 10. Jh. durch archäologische Funde nicht belegt werden kann, weiterhin, dass der Kreuzgang als das für diese Klöster am meisten charakteristische Baumerkmal erst im 11. Jh. erscheint [Legler 1989; Illig 2009].

Gibt es einen anderen Orden, für dessen Ordensbrüder Bischof Gregor seine Richtlinien hätte erstellen können? Theoretisch ja: Der heilige Columban von Luxeuil (ca. 543–615 [Metlake, 249]), der in Frankreich bekehrte und Kloster gründete, soll nämlich ein Zeitgenosse des Bischofs gewesen sein. Dem widerspricht jedoch die Tatsache, dass Gregor von Tours, auf den wir uns in erster Linie als eine der wichtigsten Geschichtsquellen der Merowinger-Zeit und nicht als Astronomen berufen, in seinen historischen Werken den zeitgenössischen irischen Mönch mit keinem einzigen Wort erwähnt (den hl. Benedikt übrigens auch nicht). Dies muss uns sonderbar erscheinen, weil Columban, sofern wir seine Biographie für glaubwürdig halten, wegen seiner Standhaftigkeit und strengen moralischen Normen überall in Konflikte geraten ist [Grace; Metlake]. Dies muss in kirchlichen Kreisen für Aufsehen gesorgt haben, was ganz sicher bis Gregor hätte durchdringen sollen. Weiterhin ist Columban laut Fachliteratur am Hofe des ab 587 herrschenden Childebert II. [wiki / Columban; Metlake] erschienen, wo auch Gregor ein und aus ging und somit den irischen Mönch persönlich gekannt haben sollte. Außerdem fängt Band IX der Historia Francorum laut Standpunkt der Geschichtswissenschaft  genau in diesem Jahr an. Jonas von Bobbio, der Jünger Columbans, der seine erste Biographie schrieb, benennt Sigibert als König von „Austrasia und Burgund“ zu Zeiten von Columbans Ankunft in Gallien [Vita 72]. Der Editor Ernst Dümmler – basierend wahrscheinlich auf den Mitteilungen in Historia Francorum – ist jedoch der Meinung, dass es sich dabei um Sigibert I., den Vater von Childebert II. gehandelt haben soll, und korrigiert Jonas von Bobbio [Vita 72, Fn. 3]. Auf diesen ‘Irrtum’ des Jonas werde ich im folgenden noch zurückkommen.

Gregor schreibt des Öfteren über Mönche bzw. Kloster oder deren Äbte, z. B. in den Kapiteln 7, 9 und 10 von Band V, in VI: 6 und 8, und VIII: 19. Er erwähnt jedoch nur in einem Fall, welche Regula sie befolgen, und zwar bezüglich des von der hl. Radegund gegründeten Frauenklosters in Poitiers. Gregor zitiert [Kap. IX:39] den von mehreren Bischöfen des Frankenlandes unterzeichneten Brief an die Gründerin des Frauenklosters. In diesem Brief steht, dass die Nonnen des Klosters „die Regula von Caesarius, dem erinnerungswerten Bischof von Arles“ befolgen sollen. Auch berichtet er [Kap. IX: 40], dass die hl. Radegund, zusammen mit der Äbtissin des Klosters, nach Arles fuhr und sie dort die Regula des Heiligen Caesarius und dessen Schwester Caesaria angenommen haben.

Die Einführung der Psalmodie in der dritten, sechsten und neunten Stunde wäre genau diesem hl. Caesarius von Arles (ca. 470–543) zuzuschreiben [Shahan], dessen Wirkungskreis im heutigen Südfrankreich lag. Seine Regula wurden jedoch „von der Regula von Columban, später von der des Heiligen Benedikt ersetzt“ [Shahan]. Es erscheint äußerst merkwürdig, wie die verschiedenen Regula einfach so selbstverständlich voneinander „ersetzt werden“; es ist eindeutig, dass solche Wechsel immer auf Entscheidungen beruhen.

Es ist unwahrscheinlich, dass Gregor von Tours sein astronomisches Traktat für Mönche in Südfrankreich geschaffen hätte, die von ihm so weit entfernt gelebt hatten; also kommen als Nutzer höchstens die Nonnen des Frauenklosters von Poitiers in Frage. Demnach bleibt der Titel dieses Abschnitts ohne befriedigende Antwort stehen….

Antithesen

Belassen wir es vorerst dabei und kehren zurück zu Robeola. Bruno Krusch, der Herausgeber der Standard-Version von DCS, beauftragte einen absoluten Experten mit der Identifizierung der von Gregor erwähnten Sterne und Sternbilder: Johann Gottfried Galle, den Entdecker des Planeten Neptun [DCS 857]. Die Identifizierung wurde notwendig, weil Gregor mit Ausnahme der „Pliades“ (Plejaden), des Stefadiums (Corona Borealis = Nördliche Krone) und des Plaustrums (Wagen = Großer Wagen bzw. Großer Bär) keinen einzi gen mit den heutigen Bezeichnungen übereinstimmenden Sternennamen nennt. Galle identifiziert den Robeola als den orangenroten Arcturus, den hellsten Stern des nördlichen Himmels (Sirius gehört zum südlichen Himmel).

Die Hypothese von Schlosser und Bergmann entfachte herbe Kritik, sowohl unter den Astronomen als auch unter den Historikern. Stephen McCluskey, Geschichtswissenschaftler der West Virginia University in Morgantown, weist in Anlehnung an die Schrift von Rachel Poole auf Folgendes hin:

„Die Bedeutung von Arcturus für klösterliche Zeitbestimmung wird dadurch verstärkt, dass er in einer klösterlicher Zeittafel aus Nordfrankreich als einer von sieben hellleuchtenden Sterne vorkommt, während Sirius nicht vorkommt.“ [McCluskey, 87; Übers. hier und im Folgenden HI]

Weiterhin folgert er nach einem Vergleich der selbst errechneten Sichtbarkeitsdauer von Sirius und Arcturus um 600 mit den von Gregor in Bezug auf Robeola angegebenen Daten:

„Offensichtlich ist Sirius [einer der Sterne von] ›Quinio‹ [eine von Gregor erwähnte Sterngruppe aus fünf Sternen, auf die wir später zurückkommen werden; ZN] und ›Rubeola‹ ist sehr wahrscheinlich Arcturus, ein Stern, der allgemein wegen seiner rötlichen Farbe bekannt ist“ [McCluskey, 87].

Auch Robert H. van Gent, Astronom des Sonneborgh Observatory in Utrecht berechnete den Gang der beiden hellen Sterne bezogen auf die geografische Breite von Tours und verglich ihn mit der Sichtbarkeitsdauer von Robeola. Zwei seiner Diagramme fügen wir als Abb. 1 bei. Der niederländische Astronom berücksichtigte die im Mittelalter gebräuchliche Unterteilung des Tages einerseits in temporale, andererseits in äquinoktiale Stunden. Letztere ist die heute angewendete Unterteilung, bei der die Stunden über den ganzen Tag verteilt gleich lang sind. Bei der temporalen Einteilung wird der Tag und die Nacht in jeweils 12 Stunden aufgeteilt. Dies bedeutete, dass die Dauer einer Stunde von Tag zu Tag variierte (in Deutschland zwischen 40 und 80 Minuten) und bei den Sonnenwenden ihr Extremum erreichte.

Van Gents erstes Diagramm zeigt die Berechnung der in DCS angegebenen Sichtbarkeitsdauer auf Grund der temporalen Stundeneinteilung und stellt fest: „Arcturus and Sirius passen beide sehr schlecht” [Gent, 88]. Das zweite Diagramm basiert auf der äquinoktialen Unterteilung und zeigt laut van Gent, dass Arcturus „fast perfekt die von Gregor gelieferten Daten erfüllt, während Sirius in keiner Weise übereinstimmt“ [ebd.]. Auf Grund seiner Berechnungen meint er:

„Es liegt auf der Hand, dass Schlosser und Bergmann den Beweis versäumt haben, ob ›Robeola‹ = Sirius. Es gibt keine Gründe, die übliche Identifizierung mit Arcturus in Frage zu stellen“ [Gent, 88].

Abb. 1: Die Sichtbarkeit von Robeola im Vergleich zu der von Arcturus und Sirius in der temporalen (oben), bzw. der äquinoktialen (unten) Stundeneinteilung auf der geographischen Breite von Tours nach R. H. van Gent [88]. Die gestrichelte Linie im oberen Diagramm ist eine vom Autor dieses Artikels vorgenommene Korrektur: Kein Stern kann im System der temporalen Einteilung 12 Stunden lang, also während der ganzen Nacht sichtbar bleiben, da sie ja im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung schon/noch unsichtbar sind.

Abb. 1: Die Sichtbarkeit von Robeola im Vergleich zu der von Arcturus und Sirius in der temporalen (oben), bzw. der äquinoktialen (unten) Stundeneinteilung auf der geographischen Breite von Tours nach R. H. van Gent [88]. Die gestrichelte Linie im oberen Diagramm ist eine vom Autor dieses Artikels vorgenommene Korrektur: Kein Stern kann im System der temporalen Einteilung 12 Stunden lang, also während der ganzen Nacht sichtbar bleiben, da sie ja im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung schon/noch unsichtbar sind.

Der niederländische Astronom hebt noch hervor, dass der Sirius in Teilen der antiken Quellen (im Einklang mit dem heutigen Wissen) als weißer Stern beschrieben wird, und betont, dass Robeola wie Arcturus auf dem Breitengrad von Tours jede Nacht am Himmel erscheint, während der Sirius dort während der Monate Mai-Juni-Juli nicht sichtbar ist. Ich möchte hier noch anmerken, dass die Deklination (= der Erhebungswinkel über dem Himmelsäquator) von Robeola während einer Konjunktion mit der Sonne deren Deklination übertreffen müsste, was im Falle von Sirius einen Wert von mindestens +25° voraussetzen würde gegenüber dem Wert von -16° in der Zeit um 580; die Abweichung ist demnach enorm. Meiner Meinung nach schließen allein diese beiden Feststellungen die Identifikation von Robeola als Sirius aus.

In ihrer Antwort beharrten die Professoren aus Bochum trotz gegenteiliger Meinungen auf ihren Standpunkt. Schlosser und Bergmann wiesen die Berücksichtigung des nach der äquinoktialen Stundeneinteilung berechneten, verhältnismäßig gleichen Ganges von Arcturus und Robeola entschieden zurück („we flatly reject“ [SB 1987, 89]), da ihrer Meinung nach Gregor, wie jedermann im Mittelalter, den Tag temporal, d.h. in ungleiche Stunden, aufgeteilt hatte (auf diese grundsätzliche Kritik kommen wir weiter unten noch zurück). SB haben auch eigene Berechnungen in numerischer Form veröffentlicht, deren Ausgangsparameter jedoch von denen von McCluskey und van Gent abweichen und somit einen unmittelbaren Vergleich der Ergebnisse unmöglich machen. Demzufolge haben dann SB die Identifizierung von Quinio als Sirius und Robeola als Arcturus verworfen und sind bei ihrer Hypothese Robeola = Sirius geblieben [SB 1987, 89].

Aus diesem ‘Fechtkampf’ wird deutlich, dass weder Robeola noch Quinio mit Sirius bzw. Arcturus am Ende des 6. Jh. identifiziert werden können. Aus diesem Grund konnte überhaupt so eine scharfe Diskussion unter etablierten Fachleuten entstehen. Galle hat höchstwahrscheinlich keine Berechnungen vorgenommen; ansonsten wäre es ihm aufgefallen, dass die Daten von Gregor so nicht in Ordnung sein können.

In Kenntnis der Phantomzeit-Theorie machte ich den Versuch, festzustellen, in welcher Epoche und geografischer Breite der Gang von Robeola mit dem von Arcturus identisch sein kann. Dabei ließ ich die Epoche der Beobachtungen und der geografischen Breite als Ausgangsparameter frei. Meine Forschungen brachten das überraschende Ergebnis, dass die von Gregor angegebenen Daten nicht einmal dann eine akzeptable Übereinstimmung mit dem Gang von Arcturus aufweisen, wenn diese 300 oder gar 600 Jahre später datiert werden, und zwar auch dann nicht, wenn ich als Beobachtungspunkt eine Ortschaft weit südlich von Tours bestimme (z.B. Bagdad oder Alexandria). Orte nördlich von Tours können nicht in Betracht gezogen werden, weil die nächtliche Sichtbarkeitsdauer von Robeola das ganze Jahr über kür zer ist als die des Arcturus. Die Identität Robeola = Sirius kann auf der geografischen Breite der vorerwähnten Städte ebenfalls ausgeschlossen werden.

Analyse der Sichtbarkeitsdauer

Noch bevor wir die obige Aussage bewerten, sollten wir die in DCS angegebenen Sichtbarkeitsdaten genauer analysieren. In ihrem 45. Abschnitt, in dem Gregor den Gang der Gestirne im Juni beschreibt, erwähnt er, dass die von ihm als Pliades bzw. Butrio (Herde) genannte Sternbild acht Tage vor den Calendae (d.h. dem Ersten) des Juli, also am 24. Juni am Himmel erscheint [DCS 872]. Die Pliades sind eine der wenigen von Gregor erwähnten Sterngruppen, die dem Namen nach als identifizierbar erscheinen, und zwar als die Plejaden. Es ist zwar diskutierbar, nach welchen Parametern die Sichtbarkeitsdauer von Butrio zu verstehen ist (wie viele Grade über dem Horizont bzw. gleichzeitig unter dem Horizont der Sonne zu einem Zeitpunkt, als der Himmel dunkel genug erscheint); er muss nämlich, gemäß welchen Parametern auch immer berechnet, ungefähr einen Monat, mindestens jedoch drei bis vier Wochen vor dem vom Bischof erwähnten Zeitpunkt am Morgenhimmel erscheinen.

Im 28. Abschnitt schreibt Gregor wieder von Butrio und teilt mit, dass dieser Ende Juni erscheint und eine Stunde lang sichtbar ist. Das entspricht zwar der Wahrheit, aber die zweite Hälfte der Aussage steht im Widerspruch zur Darstellung im Abschnitt 45. Er stellt auch richtig fest, dass Butrio im Mai nicht sichtbar ist [DCS 867]. Die Daten der Sichtbarkeitsdauer im Winter (9 Stunden im Dezember und 8 Stunden im Januar) entsprechen jedoch nicht denen der Plejaden, weder in temporaler (11 bzw. 9 Stunden) noch in äquinoktialer (8 bzw. 7 Stunden) Unterteilung des Tages.

Abb. 2: Darstellung der Pliades aus DCS (Seite 867)

Abb. 2: Darstellung der Pliades aus DCS (Seite 867)

 

Abb. 3: Darstellung von Falx aus DCS (868). Sie erinnert nicht im Mindesten an den von Galle gleichgesetzten Orion.

Abb. 3: Darstellung von Falx aus DCS (868). Sie erinnert nicht im Mindesten an den von Galle gleichgesetzten Orion.

Vor dem 28. Abschnitt zeigt Gregor die Abbildung von Pliades/Butrio als ein aus 9 Sternen bestehendes Dreieck (s. Abb. 2). Die Plejaden beinhalten sieben hellere Sterne, die jedoch kein Dreieck bilden. Ein Dreieck finden wir im Stier (Taurus), der von den Hyaden (auch Taurus-Strom oder Regengestirn genannt) gebildet wird; die Hyaden bestehen ebenfalls aus sieben Sternen.

Wir können keineswegs außer Acht lassen, dass die von Gregor angegebenen Sternbilder zum Teil nicht identifizierbar sind. Das vielleicht charakteristischste Sternbild des Himmels, der Orion erscheint zum Beispiel auf der Abbildung in keiner erkennbaren Form (s. Abb. 3), gleichzeitig wird auf den Seiten von DCS eine Reihe von nie gehörten Sternbildernamen aufgezählt (s. u.). Wie oben ausgeführt, konnte Gregor nicht einmal den Gang der beiden auf dem Himmel von Tours am hellsten sichtbaren Sterne (Sirius und Arcturus) nachvollziehbar beschreiben, genauso wenig wie den der Plejaden. Ein astronomisches Buch ohne genaue Stunden- und Datumsangaben ist aber wertlos.

Diese Abhandlung von Gregor wurde für einfache Mönche erstellt. Für mich ist es unvorstellbar, dass diese ziemlich verwirrende Arbeit, die so viele falsche Angaben zu schwer identifizierbaren Sternen enthält, für diese von Nutzen gewesen sein konnte. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Diskutanten von Nature sich nicht einmal einigen konnten, ob die vom Bischof angegebenen Daten im Sinne der äquinoktialen oder temporalen Tageseinteilung zu verstehen sind.

Meiner Meinung nach trifft keines von beiden zu: DCS ist nicht aus Informations-, sondern eher aus ‘Desinformation’-Zwecken entstanden. In diesem Zusammenhang würde ich gerne auf die Bemerkung von SB hinweisen, dass im Mittelalter die äquinoktiale Unterteilung des Tages gebräuchlich war; doch die den Gang des Robeola wenigstens in einem Jahresabschnitt glaubhaft beschreibende Kurve nähert sich im System der äquinoktialen Unterteilung jener des Arcturus an. All dies deutet darauf hin, dass es sich bei DCS um eine Schrift handelt, die später entstanden ist als konventionell angenommen. Obwohl van Gent nicht gewagt hatte, soweit zu gehen, schrieb er jedoch, dass

„eine Studie der Sichtbarkeitsdaten der anderen Konstellationen, die Gregor aufgeführt hat, tatsächlich zeigt, dass dieses Schema [d.h. die Angaben im äquinoktialen System; ZN] korrekt ist“ [Gent, 88]

Im Lichte der Anmerkung von SB macht jedoch gerade diese Aussage eindeutig, dass es sich bei DCS um eine Fälschung handelt!

In welcher Epoche ist der Autor von DCS zu suchen?

Die Forschungen der Zeitrekonstrukteure deuten ernsthaft auf die Möglichkeit hin, dass es sich bei Gregor um eine Phantom-Person handelt (d.h. um jemanden, der entweder gar nicht oder zu einer anderen Zeit gelebt hatte, als es in der konventioneller Zeitrechnung der Geschichtsschreibung möglich wäre). Diese Hypothese kann von mir auf Grund folgender neuen Überlegungen bekräftigt werden:

  • Im Hinblick auf die erschütterte Geschichte des Benediktiner-Ordens im Mittelalter erscheint es fraglich, für welche Ordensbrüder DCS um 580 geschrieben worden sein könnte. In Historia Francorum wird weder der Heilige Benedikt noch der von ihm gegründete Orden mit einem Wort erwähnt1.
  • Das Fehlen des hl. Columban in Historia Francorum weist darauf hin, dass wenigstens eine von beiden Personen, entweder Gregor oder der irische Mönch, eine Phantomperson oder auf der Zeitlinie falsch platziert ist, weil der Bischof in den Bänden IX-X. Ereignisse aus dem Jahr 587 bzw. noch später beschreibt. Das Fehlen Columbans ist umso auffälliger, weil Gregor [X: 23] von der Ungewissheit der Berechnung von Ostern schreibt, der irische Mönch aber laut seiner Biographie gerade deswegen mit dem Klerus des Frankenlandes in Konflikt geraten ist (er feierte Ostern zu einem anderen Zeitpunkt als die römische Kirche [s. Vita 5-9]. Allein diese Tatsache hätte einen Grund für das Erwähnen von Columban seitens des Bischofs von Tour geliefert. Nachdem die Existenz von Columban über alle Zweifel steht [Clark 2003, 234], kann nur bei der Existenz von Gregor oder seiner Platzierung auf der Zeitachse ein Problem vorliegen.
  • Gregor schweigt über den Ursprung der Merowinger-Dynastie, obwohl ihm dieser kaum ein Jahrhundert nach der Krönung von Chlodwig I. bekannt gewesen sein sollte. (Auf diese Frage kommen wir weiter unten zurück.)
  • Das Erscheinen der temporalen Tagesunterteilung im DCS. Über die obigen Erwägungen hinaus taucht diese explizit auf: Im 17. Abschnitt [DCS 863] teilt Gregor mit, dass der Tag und die Nacht in jeweils 12 : 12 Stunden aufzuteilen sind, die jedoch nicht gleich lange dauern, und gibt an, wie lange die Sonne in den einzelnen Monaten scheint. Zwischen April und August kommen bei ihm größere Zahlen als 12 vor; allein diese Tat sache beweist, dass der Autor von DCS sich des äquinoktialen Systems bediente.
  • Der eigentlich an die temporale Zeitrechnung gewohnte Autor von DCS macht an manchen Stellen erfolglose Versuche, Sichtbarkeitsdauer gemäß der äquinoktialen Einteilung anzugeben (detaillierte Ausführung s.u.). Ich möchte hier auf die vorerwähnte Beobachtung van Gents erinnern, wonach die von Gregorius gelieferten Sichtbarkeitsdaten im äquinoktialen System auch in Bezug auf die übrigen Sternenbilder akzeptabel sind.

Gregor beschreibt auch in Historia Francorum astronomische Ereignisse zwar genau, seine Zeitangaben sind jedoch ungenau. Dies ist ein typisches ‘Gebrechen’ von zurückdatierten astronomischen Ereignissen, da die für die Zurückdatierung notwendigen astronomischen Daten im 10. bis 13. Jh. noch nicht so detailliert bekannt waren wie heute, und so haben die auf mehrere Jahrhunderte extrapolierten Zurückdatierungen zu ungenauen Zeit- und Phasen-Angaben geführt.

Ich vertrete die Meinung, dass DCS, zumindest in der uns zur Verfügung stehenden Überlieferung, aus dem Grunde entstanden ist, um die Glaubwürdigkeit von Historia Francorum zu festigen, und zwar mit dem Versuch, die Existenz des Bischofs als wirkliche Person durch ihm zugeschriebene astronomische Beobachtungen zu beweisen. In den ersten acht Abschnitten des Traktats werden die sieben Weltwunder der Antike gewürdigt [DCS 857-859] (die nicht ganz identisch mit den heute uns bekannten sind) und um weitere fünf ergänzt. Sie haben nichts zu tun mit der Beobachtung der Gestirne und sollten nur die Weltgewandtheit des Autors in den Augen der Leser begründen, damit diese später nicht einmal daran denken, dass in den weiteren Teilen des DCS ungenaue ‘Beobachtungen’ beschrieben werden.

Von der ganzen Abhandlung existiert nur eine einzige vollständige, in Bamberg aufbewahrte Abschrift; sie ist mit langobardischen Buchstaben geschrieben und soll der Datierung nach aus dem 8. Jh. stammen [DCS 855]. Diese Datierung mag uns mit Recht als unglaubwürdig erscheinen. Behandeln wir das Traktat kritisch, kommt uns wohl mehr als merkwürdig vor, dass keine Exemplare aus der Zeit und vom Ort der Erstellung der Schrift vorliegen. Wäre die Abhandlung nämlich angewendet worden, so müssten etliche zeitgenössische Abschriften gemacht worden sein, die noch in verschiedenen Klöstern im Mittelfrankreich aufbewahrt sein könnten. Dagegen sind Gregors Beschreibungen der Weltwunder in mehreren Kodizes erhalten geblieben [s. DCS 855-857]. Wenn wir bedenken, dass für Klosterbrüder eher jene Abschnitte über Astronomie von Interesse sein sollten, ist es mehr als merkwürdig, dass es hier gerade umgekehrt ist.

Ein möglicher Grund dafür kann sein, dass die Mönche ganz genau gewusst haben: Der den Gang der Gestirne behandelnde Teil ist vollkommen  nutzlos. Ein anderer, und eher als wahrscheinlich erscheinender Grund ist, dass DCS eine Kompilation ist: Der Teil über die Gestirnsbewegungen wurde in einen Text aus dem frühen Mittelalter, eventuell der späten Antike eingefügt zu einer Zeit, in der man den Tag bereits nach dem temporalen System in Stunden aufgeteilt hatte. In der Anwendung der langobardischen Buchstaben können wir in diesem Kontext auch die Absicht der Irreführung erkennen: Der Skriptor wollte so das Manuskript gezielt veralten.

Falsche Beobachtungsdaten

In DCS kommen auch solche Angaben vor, die man beim besten Willen nicht als Ergebnis ‘ungenauer Beobachtung’ abtun kann, da es sich bei diesen um beabsichtigt falsche Daten handelt. Ziel der Veröffentlichung dieser offensichtlich falschen grafischen und numerischen Daten (z. B. die schlechte und zur Verwechslung mit den Hyaden ‘einladende’ Darstellung der Plejaden und die auf Wochen später gelegte Angabe ihres ersten Erscheinens am Morgenhimmel oder die 8 Stunden lange Sichtbarkeitsdauer von Robeola/Arcturus im Februar anstatt der richtigen Angabe von mehr als 9 Stunden) ist wahrscheinlich die Verhinderung dessen, dass Jahrhunderte später Astronomen die Epoche und geografische Breite der (angeblichen) Beobachtungen feststellen können. Dieses Streben nach Verschleierung hat nur dann einen Sinn, wenn es sich dabei um eine beabsichtigte Irreführung handelt. Und genau das steht dahinter: Aus den Daten der Gestirnsbewegungen, wie sie in DCS stehen, ist es unmöglich festzustellen, wann und auf welcher geografischen Breite diese Beobachtungen gemacht worden sein können!

Im 17. Abschnitt des Traktats gibt Gregor an, aus wie vielen äquinoktialen Stunden ein Tag in den einzelnen Monaten bestehen würde [DCS 863]; er nennt für Juni 15, für Dezember 9 Stunden. Das Verhältnis des längsten Tages und der kürzesten Nacht hängt von der geographischen Breite ab. Das Verhältnis 15:9 ist für die geographische Breite von Byzanz und Athen charakteristisch, für Tours jedoch (47°) gelten 16:8. Der Autor gibt demnach wieder Daten an, die man nur schwer als Fehl-Beobachtung abtun kann.

Eindeutige Zeichen deuten darauf hin, dass der Autor von DCS in einer Zeit gewirkt haben muss, als der Tag in der äquinoktialen Unterteilung gemessen worden ist; doch er imitiert die Angabe temporaler Stunden. In der letzteren darf keine einzige über 9, um die Wintersonnenwende sogar über 10 Stunden hinausgehende Sichtbarkeitsdauer angegeben werden, weil bis zum Erscheinen der Gestirne nach Sonnenuntergang, also Beginn der Einteilung der Nachtstunden (lichtabhängig) noch mindestens 1 bis 1,5 äquinoktiale Stunden vergehen müssen. Der Autor von DCS hat an einer Stelle im Werk sogar diesen groben Fehler begangen, was ganz deutlich belegt, dass er auf  Grund seiner Unkenntnis der Astronomie keine Beobachtungen, sondern manipulierte Angaben mitteilt.

Gregor schreibt im 25. Abschnitt von der Sterngruppe namens Trion, die nach Galle [DCS 866, Fn 3] und van Gent [88] mit den drei hellen Sternen des Adlers (Aquila) identifiziert werden kann. Die Sichtbarkeitsdauer der Trion im Juni gibt er mit 10 Stunden an. Dies kann höchstens im System der temporalen Tageseinteilung interpretiert werden, da die für die Beobachtung der Sterne zur Verfügung stehende Zeit um die Sommersonnenwende herum in der äquinoktialen Tagesunterteilung höchstens 6 Stunden beträgt. Eine Stunde beträgt jedoch in der temporalen Unterteilung nur 40 Minuten, die nach Sonnenuntergang bis zum Erscheinen der weniger hell leuchtenden Sternen der Formation im Dämmerlicht nicht ausreichen; andererseits verschwinden diese auch vor Sonnenaufgang 40 Minuten eher von dem sich erhellenden Himmel. Die Sichtbarkeitsdauer von Trion im Juni kann demnach höchstens 9, für die ungeübteren Augen eher 8 Stunden in der temporalen Zeitrechnung betragen.

Auf der Grundlage obiger Erwägungen wird es verständlich, warum Gregor die monatlichen Sichtbarkeitsdauer der von ihm in den Abschnitten 22-24 als Omega, Großes Kreuz und Kleines Kreuz erwähnten Formationen, die gemäß Galle [DCS 865, Fn 2 f.] und van Gent als Leier (Lyra), Schwan (Cygnus) und Delfin (Delphinus) identifiziert werden können, nicht angibt. Alle drei Sternbilder gehören zum Sommerhimmel, ihre Sichtbarkeitsdauer kann ohne entsprechend fundierten astronomischen Kenntnisse schwer auf die temporalen Stunden umgerechnet werden, weil die kurzen Sommernächte temporal nur 40 bis 45 Minuten betragen; ein Irrtum ist also sehr leicht möglich. Von all den Gestirnen der Sommernacht wagte sich Gregor nur im Falle von Aquila an die Angabe von Sichtbarkeitsdauer in den einzelnen Monaten, und sogar hier stand er, wie wir sehen können, nicht gerade auf der höchsten Stufe der Astronomie.

In seinem System der Mitteilung der Angaben können wir Gregor dabei ertappen, dass er sich wieder psychischer Mitteln bedient, um den Auslegungen in DCS Glaubwürdigkeit zu verleihen, genau so, wie er es früher schon mit der Auflistung der Weltwunder versucht hat. Er beginnt die Erklärung der Sterne mit Robeola, der (wie bereits dargelegt) den ‘Durchschnitt’ von Arcturus und Sirius bildet. Der Farbe nach ist er mit Arcturus identisch, die Sichtbarkeitsdauer steht auch der vom Arcturus näher, andererseits weicht er jedoch wesentlich von ihm ab und nähert sich den Daten vom Sirius. Die Bezeichnung splendida lässt den Leser auch eher auf Sirius, den hellsten Stern schließen. Auf diesen verunsichernden Anfang folgt (um das Vertrauen des Lesers wieder herzustellen) die Aufzählung von fünf Sternbildern, die ihrer Erscheinung und ihrem Himmelslauf nach eindeutig identifiziert werden könnten. Gregor gibt jedoch in Bezug auf nur zwei Sternbilder eine Sichtbar keitsdauer an; im Falle von Trion leider eine, die im System der äquinoktialen Tagesunterteilung unmöglich zutreffen kann.

Keiner der sieben nach Trion erwähnten Formationen kann in jeder Hinsicht problemlos identifiziert werden. Die Identifizierung Pliades = Plejaden wäre zwar plausibel, ist jedoch, wie oben ausgelegt, wegen der abweichenden Erscheinung und der falschen Angabe des ersten Erscheinens am Morgenhimmel nicht richtig. Von der Darstellung der übrigen Formationen ausgehend kann auch kein bekanntes Gestirn, keine Sterngruppe erkannt werden. Diese wurden von Galle und van Gent mit Ausnahme der Plejaden mit jeweils anderen Sternbildern identifiziert. Wenn es sogar Experten der Astronomie so schwer fällt, sich in diesem Wegweiser zurechtzufinden, wie haben sich dann einfache Ordensbrüder an DCS halten können!? Freilich, wenn sie nicht die Adressaten dieser Richtlinien waren, dann ist ihr Verständnis der DCS irrelevant.

Einen ähnlichen Umrechnungsfehler wie bei Trion hat Gregor auch bei Robeola begangen. Es ist vollkommen absurd, dass die Sichtbarkeitsdauer eines Fixsternes während eines Monats (hier November/Dezember) von 3 auf 8 Stunden erhöht wird, insbesondere in einer Jahreszeit, in der das System der temporalen Tagesunterteilung dem entgegensteht: Eine Nachtstunde dauert im Dezember länger als im November, eine Stunde besteht dann nämlich aus viel mehr als 60 Minuten, woraus folgt, dass die Erhöhung der Sichtbarkeitsdauer mehr als 7 äquinoktiale Stunden betragen sollte! Ähnlich absurd ist es, dass die Sichtbarkeitsdauer eines an jedem Tag des Jahres beobachtbaren, besonders hell leuchtenden Sternes mit positiver Deklination und ekliptischer Breite in keiner einzigen Jahreszeit 9 temporale Stunden betragen soll, obwohl es notwendigerweise Monate gibt, in denen er während der ganzen Nacht sichtbar bleibt. Die von Gregor angegebene Sichtbarkeit von Robeola wird sich dann (im März) mindern, als diese 2 bis 3 Monate lang theoretisch die maximale Länge (etwa 10 temporale Stunden) beibehalten sollte, während sie sich praktisch in der äquinoktialen Tageseinteilung tatsächlich zu mindern beginnt (s. Abb. 1). Hier wird eindeutig klar, dass es sich bei Robeola um einen ‘Phantomstern’ handelt, der weder als Arcturus noch als Sirius oder ein anderer „leuchtender“ Stern identifiziert werden kann, und dessen Angaben der Sichtbarkeitsdauer in sich widersprüchlich sind.

Der Autor von DCS ist sehr ‘sparsam’, weil er zwar (abgesehen vom nie untergehenden, als Großer Wagen bzw. Großer Bär identifizierten Plaustrum) dreizehn Sternformationen beschreibt, jedoch nur bei sechs Formationen explizite Sichtbarkeitsdaten angibt. Er sagt bei Omega, Großem Kreuz und Kleinem Kreuz überhaupt nichts von deren Sichtbarkeit aus, in Bezug auf die übrigen teilt er nur mit, dass diese einer bereits beschriebenen Formation mit einer Verschiebung von 1 bis 2 Stunden folgen, und „es ist ausreichend,  soviel von ihnen zu sagen“. Es fällt auf, dass gerade für drei von den fünf einwandfrei identifizierbaren, gut gezeichneten Sternbildern keine Sichtbarkeitsdaten vorhanden sind.

Wie bereits erwähnt, gibt er im 28. Abschnitt die Sichtbarkeitsdauer von Pliades/Butrio an, im Abschnitt 29 teilt er von Arte feretrum nur mit, dass diese den anderen (d.h. Butrio) 2 Stunden später folgen, im Abschnitt 30 schreibt er dann von Falx (Sichel), dass diese

„zwei Stunden nach den oben Erwähnten (Arte feretrum) aufgehen, ihren Lauf in den einzelnen Monaten haben wir jedoch nicht beschrieben, weil es unserer Meinung nach reicht zu sagen, dass dieser sich von den oben erwähnten zwei Stundenunterscheidet. Wir müssen jedoch wissen, dass diese im Mai, Juni und Juli nicht sichtbar sind“ [DCS 867 f.].

Einerseits könnte Gregor mit der Menge von Buchstaben, die er für die Erklärung der Nicht-Angabe der Sichtbarkeitsdauer von Falx verschwendet, diese genauso gut angeben. Andererseits ist es eine klare Absurdität, dass die Sichtbarkeitsdauer genau der Sternformation in einem Monat, die 2 + 2 = 4 Stunden auf Butrio folgt, genauso lang sein sollte wie die von Butrio; eine Detaillierung wäre also notwendig. Gregor weist ja auch darauf hin, dass Falx (im Gegensatz zu dem nur in Mai unsichtbaren Butrio) während der Monate Mai-Juni-Juli nicht zu beobachten sei. Hieraus folgt, dass Falx sich auf einer niedrigeren Deklination befinden soll als Butrio, wonach die Sichtbarkeitsdauer von den beiden Sternbildern in den einzelnen Monaten voneinander wesentlich abweichen soll. Drittens stammt die Anmerkung „folgt zwei Stunden später“ offensichtlich von jemandem, der an die Anwendung des Systems der äquinoktialen Tagesunterteilung gewohnt ist, da in der temporalen Zeitrechnung die Folgezeit logischerweise von Monat zu Monat variiert.

All dies ist ein weiteres Zeichen dafür, dass DCS nicht von einem gutmütigen, einigermaßen Astronomie-verständigen Menschen geschrieben worden ist für den Zweck, Ordensbrüdern beim Erfüllen ihres nächtlichen und frühmorgendlichen Offiziums behilflich zu sein. Viel eher handelt es sich dabei um eine beabsichtigte Desinformation, deren Autor dafür Sorge getragen hat, dass die Zeiten und Orte der angeblichen Beobachtungen mit astronomischen Mitteln ja nicht zu berechnen seien (Abb. 3).

Der amerikanische Astronom Robert R. Newton hat bereits in den 1970er Jahren dargelegt, dass der Almagest, das Werk von Claudius Ptolemäus, das als Standardwerk der Astronomie im Altertum gilt, lauter Fälschungen beinhaltet, und dass der Autor, entgegen seiner eigenen Behauptung, keine Beobachtungen erstellt hatte, sondern die von anderen fälschte, um seine eigenen (falschen) Thesen zu bestätigen [Newton]. Die Wissenschaft sah dies nicht als Grund an, die schriftlichen Quellen des ersten Jahrtausends nach Christi Geburt viel misstrauischer zu behandeln; für sie sind nicht einmal die  Werke von Illig und seinen Mitforschern für eine kritischere Behandlungsweise ausschlaggebend genug. Die Möglichkeit, dass die Fälschungen im Almagest vielleicht doch nicht Ptolemäus zuzuschreiben sind [vgl. Beaufort 2001], gilt hier auch nicht als Ausrede. In DCS wie in den überlieferten Almagest-Manuskripten werden ebenfalls nicht die eigenen Beobachtungen des Autors veröffentlicht, sondern eher zurückdatierte, manipulierte Daten.

Folgen der falschen DCS

Wer sich am Sternenhimmel auch nur ein wenig auskennt, kann mit Recht verblüfft sein darüber, warum auf Grund von Sternbeobachtungen in einer frühmittelalterlicher Schrift nicht entschieden werden kann, ob diese sich auf Sirius oder Arcturus beziehen, obwohl die beiden am Himmel so weit voneinander entfernt sind: Sirius gehört zur südlichen, Arcturus zur nördlichen Himmelshemisphäre; ihre Farben sind abweichend usw. Die Teilnehmer der Debatte auf den Seiten von Nature sind Opfer ihrer Gutgläubigkeit, die nicht bemerkt haben, dass sie in einem Vexierspiel Daten analysieren, die einem absichtlich desinformierenden Manuskript entstammen, das sie als seriös erachten. Für die Seriosität der Angaben in DCS möchte ich hier noch anmerken: Quinio wird von Galle mit dem Großen Hund (Canis Maior), von van Gent jedoch mit Skorpion gleichgesetzt [DCS, 868, Fn 1; van Gent, 88]. Die beiden Sternbilder befinden sich jedoch auf entgegengesetzten Seiten des Himmels!

Wir können mit der Aussage von SB nicht einverstanden sein, wonach DCS allein nicht für die Identifizierung der gebräuchlichen Sternbilder zu Zeiten der Merowinger mit denen von heute ausreichen würde [SB 1987, 89] – man bräuchte nämlich nur konkrete Angaben. Es ist auch nicht richtig, dass SB während ihrer Untersuchungen „alle geschichtlichen und astronomischen Aspekte des Manuskriptes in Betracht zogen“ [SB 1987, 89], weil sie mit der Möglichkeit einer Fälschung nicht gerechnet hatten. Leider trifft dies auch auf ihre Diskussionspartner zu, obwohl die lange Reihe von astronomischen Absurditäten im Manuskript deutlich auf eine Fälschung hinweisen.

Nachdem es sich bei der DCS, zumindest in der uns zur Verfügung stehenden Überlieferung und wie oben ausgeführt, mit Sicherheit um eine spätere Fälschung handelt, kommen notwendigerweise Zweifel auch an der Echtheit von Gregors Hauptwerk, der als die wichtigste Quelle der Merowinger-Zeit geltenden Zehn Bücher Geschichten (Decem libri historiarum; auch Historiae oder Historia Francorum). In deren letztem Kapitel verbietet Gregor seinen Nachfolgern, seine Bücher zu verwerfen, wobei er explizit sein Werk „über den Gang der Sterne für den kirchlichen Gebrauch“ hervorhebt. Wenn seine Arbeit tatsächlich so zuverlässig wäre, brauchte er solche Verbote nicht zu verlautbaren.

In der Historia Francorum sind auch astrologische ‘Beobachtungen’ enthalten. So ist [V: 23] z.B. zu lesen:

„In der Nacht des 11. Tages von November ist uns bei der Vigile des Sankt-Martins-Festes ein großes Wunder am Himmel erschienen: Es schien, als würde inmitten des Mondes ein heller Stern leuchten, und ähnliche Sterne sind nahe zum Mond, darüber und darunter, erschienen.“

Dass diese ‘beobachtete Erscheinung’ erfunden ist, ist eindeutig.

Für das konvent. Jahr 563 schreibt Gregor u.a.: „Am ersten Tag des Oktober verdunkelte sich die Sonne dermaßen, dass etwa nur ein Viertel ihrer Fläche noch Leuchtkraft hatte“ [Historia, IV: 31].

In jenem Jahr gab es tatsächlich eine in Gallien sichtbarer partieller Sonnenfinsternis, jedoch am 3. Oktober. Noch dazu lag das Ausmaß der Sonnenfinsternis gemäß der Karte des NASA-Forschers Fred Espenak über die geografische Ausdehnung des Phänomens (Abb. 4) in der Mitte von Gallien weit unter dem von Gregor angegebenen Wert von über 75 % [Espenak]. Diese Verschiebung des Datums um zwei Tage könnte man eventuell als ein Versehen des Autors oder als Schreibfehler des Abschreibers abtun; die mit diesem Fehler synchrone, in solchen Maßen ungenaue Beschreibung der Phase dieses Phänomens macht es jedoch eindeutig, dass man hierbei keineswegs von einer Beobachtung ausgehen kann. Die im Nachhinein berechnete Phase der Sonnenfinsternis wurde mangels genauer astrologischen Daten von dem Autor oder dem Überarbeiter der Historia Francorum falsch kalkuliert. Ich habe in der Datenbank von Espenak auch überprüft, ob es zwischen 200 und 900 vielleicht ein Jahr gegeben hätte, in dem sich ausgerechnet am 1. Oktober ein in ganz Gallien sichtbare Sonnenfinsternis abgespielt hätte. Die Antwort ist nein! All dies beweist, dass wir nicht nach einem existenten oder immerhin nicht überarbeiteten Gregor an einem anderen Punkt auf der Zeitachse Ausschau halten müssen, sondern dass es sich bei dem in der Historia beschriebenen Ereignis um ein im Nachhinein berechnetes Phänomen handelt.

Abb. 4: Das von der ringförmigen Sonnenfinsternis am 3. Oktober 563 konventioneller Zeitrechnung berührte Gebiet. Durch die Parallel-Linien wird das Gebiet angezeigt, wo die Phase der Sonnenfinsternis am größten, d.h. zu 94 % ausfiel. Es ist zu erkennen, dass diese Phase Gallien bei weitem nicht betrifft; dort blieb diese nämlich unter 25 %. Daten nach Fred Espenak (2010).

Abb. 4: Das von der ringförmigen Sonnenfinsternis am 3. Oktober 563 konventioneller Zeitrechnung berührte Gebiet. Durch die Parallel-Linien wird das Gebiet angezeigt, wo die Phase der Sonnenfinsternis am größten, d.h. zu 94 % ausfiel. Es ist zu erkennen, dass diese Phase Gallien bei weitem nicht betrifft; dort blieb diese nämlich unter 25 %. Daten nach Fred Espenak (2010).

In einem erheblichen Teil der uns nur in Abschriften überlieferten Werken über das erste Jahrtausend stehen ‘astronomische Beobachtungen’, die diesen Chroniken Glaubwürdigkeit verleihen könnten – und das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass diese Beobachtungen (nachträglich) eingefügt worden sind. Sie sind nämlich fast ausnahmslos ungenau, entsprechend der beschränkten astronomischen Kenntnisse des Zeitalters, in dem die im Nachhinein berechneten Einfügungen vorgenommen worden sind. Die ‘Beobachtungen’ in Historia Francorum werden immer in Kapiteln mit Titeln wie „Zeichen von Wunder“ beschrieben. In diesem Werk kann es als Zeichen einer immer wiederkehrenden, manipulativen Absicht gedeutet werden, dass sich wiederholende astronomische Begebenheiten vom Autor systematisch in so einem Kontext behandelt werden. Tamás Adamik stellt fest:

„Nach Orosius ist Gregorius der erste christliche Geschichtsschreiber, der eine große Anzahl von Wundern in die Beschreibung von neuen und zeitgenössischen Ereignissen integriert“ [Adamik, 109].

Dies ist jedoch mehr als interessant, wenn man bedenkt, wie wenig eine solche Veralltäglichung von Wundern vom zeitgenössischen Papst Gregor dem Großen unterstützt worden ist; wogegen der spätere, eine völlig verschiedene Denkweise aufweisende Pseudo-Gregor, der unter dem Namen des heiligen Papstes das Buch mit dem Titel Dialoge herausgegeben, besser gesagt gefälscht hat, diesem Vorgang eine weit höhere Bedeutung beigemessen hatte [Clark 2003, 102-105].

Es ist äußerst interessant, Abhandlungen von Historikern über die Historia Francorum auf eine Art und Weise zu lesen, bei der man auch die Möglichkeit in Betracht zieht, bei diesem Werk handele es sich nicht um ein Original des 6. Jh. Obwohl die Historiker dieser Annahme keinen Raum lassen, findet man in diesen Abhandlungen trotzdem immer wieder Hinweise auf so eine Möglichkeit. In ihrer vor kurzem verfassten Studie zur ungarischen Ausgabe der Historiae schreibt die Historikerin Mónika Mezei:

„Über die Franken als Volk verliert der Autor in den Historiae ziemlich wenige Worte; selbst die Benennung Francus kommt nur sehr selten vor. Es ist also sehr zu bezweifeln, dass es sich bei diesem Werk um die Geschichte eines Volkes, um Ethnohistorie handeln würde, zumindest nicht auf die Art von Iordanes und Paulus Diaconus in ihren Arbeiten [über die Goten bzw. Langobarden; ZN]. Hauptziel von Gregor war wahrscheinlich nicht die Berichterstattung über die Geschichte eines Volkes, die Geschichte der Frankenkönige dient vielmehr nur als Hintergrund zur Hauptaussage seines Werkes“ [Mezei, 58; Hvhg. der Autorin],

der Belegung der Vormachtstellung des Katholizismus. Am Ende des 6. Jh. hätte diese Tendenz noch als anachronistisch betrachtet werden können, weil auch der heilig gesprochene Papst Gregor I., der ohne Zweifel existente Zeitgenosse des Bischofs Gregor, ebenfalls Geduld gegenüber den Nestorianern der Lombardei erwiesen hatte [Newadvent].

Gregor von Tours belässt den Ursprung der Merowinger-Dynastie ebenfalls im Dunkeln, genauso wie der laut konventioneller Geschichtswissenschaft ein Jahrhundert nach ihm schaffende burgundische Fredegar, obwohl dieser Ursprung beiden wohlbekannt gewesen sein sollte. Demnach handelt es sich um tendenziöses Verschweigen. Volker Friedrich zeigt in seiner kürzlich erschienenen Studie auf, dass sich die Geschehnisse der (fälschlicherweise) als Chronik von Fredegar bekannten Komposition mit dem Titel Liber Generationis nicht im 7., sondern im 6. Jh. ereignet hatten (eine These, die bereits 2001 von Klaus Weissgerber aufgestellt worden ist [Weissgerber, 87]), und mit jenen in der Historia Francorum in Einklang gebracht werden können, wenn  wir von den konventionellen Jahreszahlen des Liber Generationis 67 Jahre abziehen [Friedrich, 74].

Friedrich benennt in seiner Beweisführung an erster Stelle die Herrscherliste der Frankenkönige von Godmar, dem Bischof von Gerona, die durch arabische Quellen überliefert worden ist und etliche, in der konventionellen Geschichtsschreibung (nachfolgend „konv.“) aufgezählte Herrscher Galliens nicht aufführt [Friedrich, 78]. Einer der Herrscher, der in der Liste fehlt, ist Charibert I. (konv. 561–567). Friedrich [80] weist darauf hin, dass weder die Todesursache noch die letzte Ruhestätte des Königs von dem sonst so gut informierten Gregor erwähnt wird, genauso wenig wie die Namen seiner beiden Kinder. Es fehlt weiterhin Chlotar II. (konv. 584–628), bei wem es sich laut dem Historiker um eine Doppelgänger von Chlotar I. handelt [Friedrich, 79]. Es wird von Friedrich zwar nicht betont, durch seine Beweisführung aber eindeutig gemacht: Wenn die Herrscherliste von Godmar authentisch ist, dann ist die uns überlieferte Ausfertigung der Historia Francorum eine Fälschung, weil sie mit mehreren Phantom-Persönlichkeiten ‘aufgestockt’ worden ist.2

Der Preis für diese Anpassung des beide Chroniken muss auch beim Liber Generationis bezahlt werden, wie es der Herausgeber Bruno Krusch bereits 1882 zugab: „Offenbar ist das ganze erste Capitel erst hinzugesetzt worden, um den Anschluß an den Gregor zu ermöglichen“ [Krusch, 483]. Mit einer wenig vorsichtigen Formulierung dürfen wir behaupten, dass das erste Kapitel vom Liber Generationis mit Sicherheit eine Fälschung ist. Krusch weist auch darauf hin, dass die Chronik im Mittelalter im Metzer Arnulfskloster bearbeitet worden ist: „Es gäbe drei unterschiedliche Verfasser und mehrere Überarbeiter.” Friedrich wiederum meint, dass eine von Phantompersonen und -perioden geläuterte Historia Francorum und einem in seine richtige Zeit versetzten Liber Generationis einander eher belegen und die wahre Geschichte des VI. Jahrhunderts wiedergeben können.

Anhand der Erkenntnisse von Friedrich können wir den weiter oben erwähnten ‘Irrtum’ des Jonas von Bobbio aufklären, der den König in Gallien betrifft, von dem Columban empfangen wurde. Wenn wir von den bisher angenommenen, konventionellen Jahreszahlen des Liber Generationis 67 Jahre abziehen, stoßen wir zwischen 571 und 589 auf Sigibert III. Die Ordinalzahl ist selbstverständlich falsch: Wenigstens einer der Vorgänger ist eine Phantomperson, deren Identifizierung nicht Objekt dieser Studie ist. Fest steht jedoch, dass sich die Ankunft Columbans wirklich während der Herrschaft eines Königs namens Sigibert ereignete. Es irrt sich also nicht der Informationen erster Hand vertrauende Biograf; vielmehr irren sich die durch  Phantompersonen verwirrten, die Chroniken nicht mit der gebotenen Vorsicht behandelnden Historiker.

Nach den bisherigen Ausführungen erscheint es so, als wäre auch das 6. Jh. nicht frei von Phantompersonen; als untere Grenze eines Phantom-Zeitalters kann also nicht das Jahr 614 festgelegt werden. Gleichzeitig, wenn die zeitlich verschobenen Ereignisse nach der Eliminierung der Phantompersonen vom 7. ins 6. Jh. versetzt werden, kann letzteres restituiert werden.

Hier möchte ich darauf zurückkommen, warum der Ursprung der Merowinger-Dynastie sowohl von Gregor, als auch von „Fredegar” verschwiegen wird. Der Grund hierfür wird im Licht der neuesten Ergebnissen des ungarischen Forschers Gyula Tóth sichtbar. Diese in der Nussschale: Attila, König der Hunnen, bestimmte seinen jüngsten Sohn Csaba zu seinem Nachfolger. Einige Jahre nach Attilas Tod (454) startete sein älterer, von der Germanin Krimhilde stammender Sohn Aladar (= der Ältere / the Elder!) einen erfolgreichen Krieg um den Thron. Die ungarischen Chroniken berichten, wie Csaba nach dem Bruderkrieg zuerst nach Griechenland, dann nach Skythien flüchtete; viele Details seines Lebens sind uns bekannt. Der ungarische Forscher stellt nun die berechtigte Frage, was aus dem Sieger Aladar geworden ist, der als Herr von halb Europa scheinbar von der Bühne der Geschichte einfach verschwand [Tóth, 180 f.]. Seiner detailliert belegten Antwort nach erscheint Aladar unter dem Namen Childerich als erster Merowinger wieder. Diese These wird durch Childerichs Krönungsjahr (457) bzw. durch den zeitlich nahen Tod Attilas unterstützt.

Das illegitime Herrscherhaus suchte und fand Unterstützung zur Festigung seiner Macht in der bereits institutionellen christlichen Kirche, und zwar durch die Erschaffung eines neuen Machtzentrums in Rom, der damals neben den Bistümern in Kleinasien und Nordafrika noch nicht herausragenden Stadt. Um dies zu erreichen, musste es jedoch den arianischen Glauben aufgeben und zum Katholizismus konvertieren, was Chlodwig I., der Sohn Childerichs, auch getan hatte [s. Historia Francorum, II: 31]. In diesem Zusammenhang wird es auch verständlich, warum die christlichen Arianer für Gregor ein weit größeres Feindbild darstellten als die Heiden.

Hier kommt der Verdacht auf, dass die Person Aladars in Childerich und Chlodwig I. (Clovis) aufgespaltet worden ist – dies ist jedoch Thema einer anderen Studie. Der „Arianismus“ als solcher, unter besonderer Berücksichtigung dessen, dass die Existenz seines Gründers und Namensgebers fragwürdig ist [Topper 132-135], bedarf noch weiterer Forschungen – die bisherigen Versuche der Zeitrekonstrukteure in dieser Richtung [z.B. Beaufort 2009; Müller] sind nach der Meinung des Verfassers dieser Zeilen nicht überzeugend genug. Nach der These von Gyula Tóth leuchtet auch ein, warum der Ursprung der Merowinger als „unbekannt“ dargestellt werden sollte und warum diese Herr scherfamilie von der Bühne der Geschichte verschwinden sollte. Gallien und Germanien brauchten für eine ‘adäquate’ Geschichte bereits vor den Ottonen ein Herrscherhaus ‘reinen germanischen Blutes’: die erfundenen Karolinger.

Es ist nicht Ziel dieser Studie, die Glaubwürdigkeit der Werke von Gregor endgültig zu beurteilen; ihre kritische Umwertung erscheint jedoch als unvermeidlich. Etliche Fragen, wie z.B. ob die sechs- oder die zehnbändige Variante der Historia Francorum als echt betrachtet werden kann, wurden hier gar nicht berührt. In den letzten etwa 40 Jahren kamen so viele begründete Zweifel hinsichtlich der konventionellen Version der Geschichte des 1. Jtsd. auf, dass wir heute keine andere Wahl haben, als das naive Vertrauen auf die aus jener Zeit stammenden Manuskripte abzulegen und diese einzeln gründlich und genau zu prüfen, um ihre Echtheit festzustellen. Erst danach könnten wir den Versuch der Rekonstruktion unserer wahren Geschichte starten.

Zum Abschluss möchte ich mich bei Frau Martha Winkler für die sorgfältige Übersetzung meines Aufsatz bedanken.

Literatur

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Beaufort, Jan (2009): Arianer und Aliden. Über die gnostischen Ursprünge des Christentums und der Shi’’t’ Ali; Zeitensprünge 21 (1) 92-108
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Clark, Francis (2003): The ‘Gregorian’ Dialogues and the Origins of Benedictine Monasticism; Brill, Leiden · London
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– (1885, DCS =): De cursu stellarum ratio, qualiter ad officium implendium debeat  observari; in Arndt, Wilhelm / Krusch, Bruno (Hg.): Monumenta Germaniae Historica Scriptores Rerum Merovingicanum Tom. I., 854-874; Hannover

Illig, Heribert (2009): Fehlende Kreuzgänge und Benediktiner; Zeitensprünge 21 (1) 194-219
– (1994): Doppelter Gregor – fiktiver Benedikt. Pseudo-Papst erfindet Fegefeuer und einen Vater des Abendlandes; Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 6 (2) 20-39

Krusch, Bruno (1882): Die Chronicae des sogenannten Fredegar II. Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 421-516; Hannover

Legler, Rolf (1989): Der Kreuzgang. Ein Bautypus des Mittelalters; Frankfurt

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1 Letzteres wird aus den Forschungen von Francis Clark und (in dessen Fußstapfen) Heribert Illig verständlich: Benedikt ist „eine Erfindung” vom Ende des 7. Jh. [Clark 1987; 2003] oder des 12. Jh. [Illig 1994].

2 Friedrich [87] merkt an, dass der Name „Qurtan” auf der Godmar-Liste auf Arabisch „kurz” bedeutet. Das ungarische Wort „kurta” bedeutet ebenfalls „kurz”.