von Heribert Illig (Zeitensprünge 2/2006)

Würde die These vom erfundenen Mittelalter wenigstens als These akzeptiert und nicht von der selbsternannten Kompetenz ignoriert, so ließen sich viele trennscharfe Ergebnisse durch eine Mustergrabung gewinnen, die auf mutmaßlich frühmittelalterlichem, noch ‘jungfräulichem’ Terrain durchgeführt würde. Zwar weisen die Archäologen die „absurde“ These weit von sich, wiesen aber zugleich gerne auf eine Grabung hin, die unmissverständlich das frühe Mittelalter der fraglichen Zeit belegt. Eine solche wurde schon am Kölner Heumarkt versucht, eine weitere läuft für Hamburg unter öffentlicher Überwachung am Domplatz.

Aachener Zerstörungswut

Aachen könnte die dritte Stadt im Bunde sein, doch hier gestaltet sich alles ein wenig anders. Es ist höchst anzuerkennen, dass die neueste Ausgabe der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins (Jg. 2005/06) dokumentiert, wie Geschäftsbelange alte Zeugnisse unter Duldung der Obrigkeit zerstören. Als Nachweis listen wir die dortigen ‘Baggerkünste’ auf.

1) August 2001: Buchkremerstraße. Für den Bau einer Buchhandlung werden die Überreste eines freigelegten Römerbades vom Bagger zerstört; einige Überreste lagern auf einem Bauhof [Illig 2006, 685].

2) August 2003: Für eine Fernwärmeleitung in der Franzstraße wird der spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Töpferbezirk angeschnitten. Dabei werden rund 175 m3 bis 2 m tief ausgebaggert; 80 % davon gelangt „unbesehen auf eine unzugängliche Deponie und ist verloren“ [Giertz = G. 8]. Aus den restlichen 24 m3 kann Wolfram Giertz [G. 54 f.] „als unbeteiligter Aachener Bürger“ 1 m3 an klein zerscherbtem Keramikmaterial bergen. Eine archäologische Baubegleitung ist von den zuständigen Denkmalbehörden nicht veranlasst worden, so dass Giertz im Alleingang Stratigraphien zeichnet.

3) März 2004: Beim Neubau des Ev. Wohnstifts in der Aureliusstr. wird erneut der Töpferbezirk angeschnitten. Wiederum gibt es keine archäologische Begleitung; diesmal gelange der gesamte Aushub des Baggers unbesehen auf eine unzugängliche Deponie. [G. 22]

4) Mai bis August 2004: Als für ein Wohnbauprojekt 2.400 m² eines Parkplatzes ausgeschachtet werden, ist eine begleitende archäologische Untersuchung vorgesehen.

„Aufgrund der gravierenden Interessenskonflikte zwischen den beteiligten Denkmalbehörden und dem Bauherrn kam es infolge der Ablehnung einer vorsorglichen Sachstandsermittlung und durch unkontrollierte Baggerarbeiten bei laufender Grabung zu beträchtlichen Verlusten an weitgehend undokumentierter archäologischer Substanz auf einer Fläche von ca. 1000 Quadratmetern“ [G. 31].

5) Mai 2005: Am Katschhof, zwischen Aula (Rathaus) und Pfalzkapelle, sind römische und mittelalterliche Funde zu erwarten, als auf 67 m Länge ein Fernwärme- und Leitungsgraben bis zu 1,60 m tief ausgebaggert wird.

„Fast der gesamte, potentiell fundführende Aushub mit einem Volumen von ca. 100 Kubikmetern gelangte ohne vorherige Untersuchung auf Fundmaterial auf eine Massendeponie und ist somit unzugänglich und verloren. Die Tiefbauarbeiten wurden lediglich bis zum Mittag des darauf folgenden 12. Mai von einer archäologischen Fachfirma begleitet, die sich angesichts der Kürze der Maßnahme weitgehend auf die Dokumentation und erneute Einmessung der bereit in den Jahren 1913–1914 ausgegrabenen karolingischen Mauerwerksbefunde der sog. Toranlage (in der Folge: Mittelbau) der Pfalz beschränkte. Die Baustelle wurde sodann am Mittag des 12. Mai in Absprache mit dem Rheinischen Amt für Bodendenkmalpflege in Bonn und der Unteren Denkmalbehörde der Stadt Aachen freigegeben. Da zu diesem Zeitpunkt offenbar die genehmigungspflichtige Abbrucherlaubnis des karolingischen Mauerwerks (nach § 9 DSchG NRW) vorlag, wurde unverzüglich damit begonnen, auch das oben genannte, wegen seiner betonartigen Härte noch unversehrte Mauerwerk der nördlichen Innenmauer des Mittelbaus, das stellenweise bereits in einer Tiefe von 0,50 m unter der rezenten Oberfläche/Pflaster anstand, mit dem Baggermeißel im gesamten Grabenquerschnitt abzubrechen“ [G. 53 f.].

Das sind noch einmal rund 4,5 m3 „karolingisches“ Mauerwerk [ebd.]. Anschließend darf Giertz die noch zugänglichen Befunde dokumentieren, Profile zeichnen, Funde aufklauben und den noch verbliebenen Aushub von ca. 1 m3 durchsuchen.

Nach diesem letzten, direkt gegen Karls Realität gerichteten Wüten der Abrissexperten wurde im August 2005 angekündigt, einen Stadtarchäologen einzustellen, der auch ‘prompt’, am 6. 6. 06, seine Stelle antrat. Nun kann sich entscheiden, ob Aachen nur am mittelalterlichen Mythos oder doch auch an archäologischen Fakten interessiert ist. Wären die Aachener alte Griechen, so hätten sie ihre Stadtverwaltung in die Verbannung geschickt. Es werden aber auch Erinnerungen an kulturelle Zerstörungswut im Jugoslawienkrieg wach. Dort dienten die UNESCO-Kulturerbe-Markierungen den serbischen Panzern als Zielscheiben…

Aachen kümmert sich auf jeden Fall um ein positives Image. Im Oktober gab es eine „spannende und hoch informationshaltige Veranstaltung der neuen Reihe ‚Archäologie aktuell‘ in der Sparkasse΄ [Hautermans]. Die Beigeordnete Gisela Nacken gab Erklärungen zur Baggerei.

„Aus all dem habe die Stadt gelernt […] Von der begleitenden habe man auf die vorgehende Archäologie umgestellt, ‚im Zweifel mit dem Pinsel, nicht mit dem Schäufelchen‘΄ [ebd.].

Ob sie zu diesen Worten ein Kinderspielzeug mit Baggerschäufelchen demonstrativ in die Ecke geschleudert hat? Christoph Keller informierte anschließend darüber, dass Ende des 19. Jhs./Anfang des 20. Jhs. die Stadt Aachen noch sehr an archäologischen Funden interessiert war. Funde waren meldepflichtig, Katschhof und Münsterplatz wurden durch große Grabungen erschlossen. Ein Jahrhundert später begleitet die Firma archeo-consult die Baggeristen der Stawag, konnte aber aus den sechs Monaten Grabungsbegleitung nichts Spektakuläres vorweisen. Außerdem wurde eine handytour durch Aachen eingerichtet, der ein bekannter Name seine Stimme gibt:

„Sie möchten spontan etwas über Aachens Sehenswürdigkeiten erfahren? Greifen Sie zu Ihrem Handy – Anruf genügt … und Kaiser Karl wird zu Ihrem persönlichen Fremdenführer – 24 Stunden am Tag! […]

Die Telefonnummer von Kaiser Karl … 02407 – 908301“ [Prospekt].

Trotz aller Augenwischerei sind einige markante Funde zu benennen.

Der Töpferbezirk im Bereich Franz- und Aureliusstraße, bald zwei Kilometer im Südosten des Doms, existierte noch nicht im frühen Mittelalter; die reichen Funde setzen nicht vor 1300 ein [G. 11].

Dafür wird neuerdings rund 800 m nördlich des Doms der frühmittelalterliche vicus Aachen verortet, bei dem die Fundlage zwar interessant, doch eher dünn ist:

„Die zahlreichen spätantiken, jüngermerowinger- und karolingerzeitlichen Funde aus einem stellenweise noch in Zentimeterstärke vorhandenen dunkelgrau-humosen Horizont, der dem anstehenden Auelehm im Bereich der mit dem Bagger z.T. bis auf den gewachsenen Boden abgeschobenen nordwestlichen Umfahrt der Baugrube unmittelbar auflag, geben allerdings Hinweise auf eine im Untersuchungsbereich vielleicht noch in Resten erhaltene spätantik-frühmittelalterliche ‚Schwarze Schicht‘΄ [G. 33].

Diese gelegentlich nur wenige Zentimeter starken, ‚unscheinbaren‘ dunkel-humosen Schichten (‚Black Layer‘, ‚Dark Earth‘)΄ [ebd.] treten uns in vielen Siedlungen zwischen Spätantike und Mittelalter entgegen. Sie sind uns auch in einer der wenigen Stratigraphien Regensburgs begegnet [Illig/Anwander 486, 490]. Wir werden sie auch in Köln antreffen und dort auf sie eingehen (s.u.).. In Aachen liegt diese ausgesprochen dünne Schicht fast direkt über dem anstehenden Auelehm, andererseits wird die geringe Tiefe der frühmittelalterlichen Schichten bedauert [ebd.], so dass der Fundhorizont insgesamt sehr dürftig sein muss. Siedlungsaktivitäten des 5. bis früheren 7. Jhs. sind dort nicht nachzuweisen, die Wiederaufnahme der Siedlungstätigkeit vielleicht noch im 7. Jh. wird als „hypothetisch“ bezeichnet [G. 34].

„Vielleicht dem karolingerzeitlichen, genauso gut aber dem hoch- bis spätmittelalterlichen Fundniederschlag der Pontstraße zuzurechnen“ wären Überreste von Bleiverglasungen [G. 40 f.]. Diese dramatisch schwankende Zuweisung ist ein neuerlicher Versuch, möglichst bemaltes, in Blei gefasstes Fensterglas aus der Zeit ab 1000 zurück in die Zeit um 860 zu verlegen [vgl. Illig 1996, 74]. Dergestalt soll ausgerechnet der vicus, also der Dorfbezirk Aachen untermauert werden, „für den archäologische Belege bislang aber gänzlich fehlten“ [G. 43; vgl. Keller 57]. Bauernhäuser mit Fensterglas?

Nun ist man sogar bereit, dort – immerhin „Pont“-Straße – eine 8 m breite, undatierte Pfostenstellung als karolingische Landebrücke oder Schiffslände am Johannisbach anzusprechen, weil der Anonymus des Karlsepos um 800 schrieb, es wäre in Aachen ein Hafen gegraben worden [G. 45 f.]. Dabei würde als Erklärung eine befestigte Straße durch die pfalznahen Sümpfe Aachens [vgl. G. 49] ausreichen.

Sehr interessant ist die Entwicklung am sog. Torbau der Pfalz. Er ist in allen Rekonstruktionen der Pfalz eingezeichnet, obwohl dies archäologisch unhaltbar ist. Als erster sprach Erich Schmidt-Wöpke von einer „Toranlage“, eingezeichnet auf dem Gesamtplan seiner Ausgrabungen von 1910 bis 1914, die aber nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr publiziert worden sind [G. 56]. Felix Kreusch beobachtete in seiner Grabung von 1959 bis 1961, dass in der vermeintlichen Tordurchfahrt noch Mauerwerk bis zu einer Höhe von 1 m stand, was ihn aber nicht hinderte, weiter von einem Torbau zu sprechen, verführt wohl durch den St. Gallener Idealplan [G. 59, 56].

Tatsächlich ist es kein Torbau, wahrscheinlich auch kein Wohnbau für den großen Karl, sondern ein vermutlich mehrgeschossiger, turmartiger Bau, dem wegen der fehlenden Ummauerung der Pfalz eine zentrale Schutzfunktion zugewiesen werden soll. Deren Leistungsfähigkeit hätten allerdings frühestens 880 die Normannen prüfen können [G. 71]. Nachdem das Ensemble aus Pfalzkapelle, Atrium, Portikus samt ‘Mittelbau’ und Aula keineswegs einheitlich wirkt [vgl. Datierungsprobleme G. 62], wobei die gewichtigen Mörtelbefunde des ‘Mittelbaus’ [G. 64-70] noch zu würdigen sind, und V. Friedrich die Darstellung der Pfalzkapelle plausibel als „Aula“ deuten kann (vgl. S. 426 ff.), muss Aachen – aller barbarischen Baggerei zum Trotz – mit einer deutlich veränderten Pfalzrekonstruktion rechnen.

Hamburger Nüchternheit

Vor aller Öffentlichkeit begann die Grabung am Hamburger Domplatz im Juni 2005. Die direkt gegenüber am Speersort domizilierende Redaktion der Zeit berichtet seitdem mit aktuellen Bilder aus ihrer Videokamera und mit dem Tagebuch der Hammaburggrabung. Inzwischen macht sich bei den kommentierenden Mitlesern Missmut breit. Die Protokolle lesen sich so öde, wie alltägliche Arbeiten nun einmal sind. Spektakuläre Funde wollen sich nicht einstellen: Ein am 3.5.06 gefundener slawischer Schläfenring des 13. Jhs. ist für Wochen ‘der Knüller’. Ansonsten werden nur viele Pfosten und viele zusammengewürfelte Knochen gefunden Die erste Einzelbestattung wurde am 14.2. geborgen, ohne sonstige Ergebnisse von Belang zu liefern. Einmal teilte der Grabungsleiter mit, man sei an dem Doppelkreisgraben des 9. Jhs. ‘dran’, doch der ist seit den Grabungen der 80er Jahre bekannt. Auf die Hammaburg kann noch bis Jahresende gehofft werden, dann ist Grabungsschluss. Es zeichnet sich ab, dass es bei dem vier Jahre alten Resümee des Archäologen Busch bleibt: Die karolingische Hammaburg, die historische Keimzelle Hamburgs, „ist uns archäologisch abhanden gekommen“ [vgl. Illig 2002, 399].

Kölns Riesengrabung

Köln hat, was seine spätantik-frühmittelalterliche Vergangenheit angeht, sprunghafte Entwicklungen hinter sich.

„Die frühgeschichtliche Geschichte der Colonia wird von den Schriftquellen kaum erhellt, und auch die archäologischen Funde haben lange Zeit wenig beigetragen, weshalb man auch von den ‚dark ages‘ spricht. Aus dem antiken Stadtgebiet lagen gerade einmal eine Hand voll Kleinfunde, darunter Keramik- oder Glasscherben, Metallfunde und Münzen vor. […]

Bis in die 1980er Jahre glaubten viele Historiker und Archäologen, dass Köln im frühen Mittelalter eine verlassene Ruinenlandschaft war, eine Geisterstadt, durch die bestenfalls Schweine und andere Kleintiere liefen, die den vor den Toren der Stadt auf ihren Höfen lebenden Franken gehörten. […] Die Ausgrabungen, die 1996 bis 1998 auf dem Kölner Heumarkt unternommen wurden, zeigen, dass diese Vermutung fehlging: Köln war im frühen Mittelalter eine florierende Siedlungsgemeinschaft urbaner Prägung, in der Handwerk und Handel vielfältig agierten. […] Zahlreiche Abfall- und Siedlungsgruben und vereinzelte Architekturreste des 9./10. Jahrhunderts zeigen, dass der Osten der antiken Stadt auf einer Fläche von bis zu 40 Hektar von mehreren tausend Menschen besiedelt war“ [Dietmar/ Trier 117].

Abgesehen davon, dass der Bischof durchgehend in den Ruinen gehaust haben soll [vgl. Illig 1996, 156], hatte der Chefausgräber vom Heumarkt, Hansgerd Hellenkemper, darüber geklagt, dass die Karolinger das Römische wie das Fränkische „regelrecht recycelt hätten“ [vgl. Illig 1997, 663]. Drei Jahre später präsentierte er überraschende Befunde von dem 6.000 m2 messenden Grabungsgebiet. Denn das östliche Vorgelände der Stadt samt der Rheininsel war nicht erst im 10., sondern bereits im 4. Jh. in die Stadt einbezogen worden. Das Frühmittelalter präsentierte sich dort als die schon genannte ‘schwarze Erde’, als 20 bis 60 cm starkes Sediment.

Eine solche Erde entsteht unter anderem durch eine gegenüber der römischen Zeit veränderte Bautradition mit vorwiegend organischen Baustoffen (Holz, Zweige, Stroh und anderem), durch eine Mischung von wilder Vegetation (‚Unkraut’), Abfällen, Dung, aus vielfältigen Verunreinigungen und Umschichtungen. Die ‚schwarze Schicht‘ auf dem Heumarkt griff in den spätrömischen Siedlungshorizont ein; spätrömische und frühmittelalterliche Funde, insbesondere Gefäßkeramik, haben sich hier vielfach unentwirrbar gemischt. Die fortwährende Umschichtung dieses Bodens machte eine archäologische Untersuchung besonders schwierig und aufwendig. Kaum wahrnehmbare Spuren von Abfall- (und Vorrats-)Gruben, von eingegrabenen und vermoderten oder gezogenen Holzpfosten zeigen die Geländenutzung als Wohnareal. Sieben charakteristische rechteckige Gruben mit regelmäßig angeordneten Pfosten – typische frühmittelalterliche, halb unterirdische Grubenhäuser – wurden als Vorrats- und Werkstattbauten genutzt“ [Hellenkemper in Fundort 358].

In dieser Erdschicht fand sich eine unbestimmte Anzahl an Rechteckhäusern mit Fachwerkwänden, die in Reihen von Ost nach West gerichtet waren, aber 957 abgerissen und durch eine Marktfläche ersetzt wurden. Die Frage stellt sich, wer diese Erdschicht dermaßen umgeschichtet und unentwirrbar gemischt hat. Wenn wir bedenken, dass andernorts mächtige Aufschüttungen Antike und Mittelalter trennen – etwa auf der Piazza del Comune in Assisi –, so ist noch die Frage zu beantworten, ob es sich hier um einen katastrophischen Schnitt handelt.

Dem Chefausgräber waren die wegen des Recyclings fraglichen Befunde so rätselhaft, dass er den nächsten U-Bahn-Bau in der Altstadt zur wissenschaftlichen Herausforderung erklärte:

„Diese Untersuchungen werden sich auf die ‚Dunklen Jahrhunderte‘, d.h. auf die 2. Hälfte des 1. Jahrtausends der Stadtgeschichte konzentrieren“ [Hellenkemper in Fundort, 52; vgl. Illig 2000, 286].

Im Februar 2005 war es dann soweit: Weil 4 km U-Bahn-Trasse die Altstadt durchschneiden sollen, dürfen rund 100 Archäologen auf 30.000 m² den Baggern bis in 13 m Tiefe folgen oder auch vorauseilen und über 100.000 m3 an Aushub sichten [Spreckelsen], der an den in offenen Gruben zu errichtenden Haltepunkten anfallen wird. Die U-Bahn-Trasse folgt vom Hauptbahnhof her dem einstigen Rheinarm. Der Bahnhof Kurt-Hackenberg-Platz tangiert direkt die römische Mauer, die einst direkt an diesem Flussarm stand. Der Bahnhof Rathaus liegt unterhalb desselben, mitten im einstigen Flussbett. Der dritte zum Römerlager gehörige Bahnhof wird Heumarkt heißen, müsste aber „Kapitol“ benannt werden, liegt er doch dicht beim einstigen Kapitol und bei St. Maria im Kapitol; die Baugrube wird sowohl den römischen Cardo maximus wie die Mauer berühren. In der südlichen Stadterweiterung liegt der Mehrzweckschacht auf dem Waidmarkt; auf der Römerstraße nach Bonn schließlich der Bahnhof Severinstraße.

Bis 2009 soll das „gigantische Ausgrabungsprojekt“, diese „Mega-Grabung“ laufen, die etwa zwanzig Mal so umfangreich „wie Innenstadt-Grabungen in Deutschland üblicherweise“ sein wird [wissenschaft]. Für derartige Grabungen gibt es auch Pflichtenhefte, glauben doch die Forscher dank langer Vorarbeiten ziemlich genau zu wissen, was sie finden werden. Fast ein solches Pflichtenheft haben Carl Dietmar und Marcus Trier [2006] vorgelegt. Hier wird der Leser über den bisherigen Befund wie darüber informiert, was der Boden freigeben wird. Ziemlich klar sind die Hoffnungen, was die Römer angeht, weshalb der Titel allein auf sie abstellt: Mit der U-Bahn in die Römerzeit. Es gibt aber auch eine kleine Hoffnung für die Vorzeit [Dietmar/ Trier 27, 161] und für das frühe Mittelalter. Seitdem bekannt ist, dass der Streifen zwischen Römermauer und Rheininsel schon zu Zeiten der Römer trockenfiel und besiedelt wurde, sind sie sogar gestiegen, schließlich konzentrierte sich das Leben des frühen Mittelalters in Mainz oder Andernach auch auf den Uferstreifen [ebd., 47]. In Köln lassen Abfallgruben und Latrinen zugehörige Häuser erwarten, die bislang fehlen. „Vielleicht wurden bei den schwierigen Ausgrabungsumständen die Überreste der fragilen karolingischen Häuser nicht erkannt“ [ebd., 47]. Es ist immer wieder eine crux, dass die Untertanen des durchaus robusten Großkarls derart fragil gebaut haben. So erklärt sich vielleicht auch folgender Hinweis:

„Auch auf dem Alter Markt fand man an einer nicht bezeichneten Stelle im Jahre 1924 bei Kanalarbeiten in 4 Meter Tiefe eine gelbtonige, stempelverzierte Keramikscherbe, die als karolingisch datiert wird“ [ebd., 71].

So wertvoll war für Köln vor der Heumarkt-Grabung – auf sie bezieht sich das „auch“ – ein möglicher Karolingerfund nicht mehr lokalisierbarer Herkunft. Nahe dem Heumarkt wird neuerlich gegraben: Nach der Tiefgarage wird nun ein U-Bahn-Bahnhof ausgeschachtet. Dann kann sich bestätigen, was da alles zum Vorschein kam: neben den Häusern hochwertige Produkte des Kunstgewerbes und Fernhandelsgüter, wobei bekannt ist, dass diese Häuser nach 957 beseitigt worden sind, also auch zur Gänze dem 10. Jh. angehören können. Dafür spricht ein weiteres Indiz:

„Folgen der schriftlich überlieferten Normannenzüge des Winters 881/882 lassen sich hier, wie auch an anderen Stellen im Stadtgebiet, nicht erkennen. Die Auswirkungen des Überfalls der Wikinger auf die Entwicklung Kölns wurden wohl lange Zeit überschätzt“ [ebd., 71].

Das lässt sich unterstreichen, wobei wir von maßlos überschätzt sprächen, weil sie niemals stattgefunden haben. Doch darüber werden wir in einiger Zeit deutlich mehr wissen. Hellenkemper hat nun alle Möglichkeiten, auch die des Scheiterns.

Literatur

Dietmar, Carl / Trier, Marcus (²2006): Mit der U-Bahn in die Römerzeit. Ein Handbuch zu den archäologischen Ausgrabungsstätten rund um den Bau der Nord-Süd Stadtbahn; Köln
Fundort = Fundort Nordrhein-Westfalen. Millionen Jahre Geschichte (Ausstellungskatalog, Redaktion Joachim von Freeden; 2000); Mainz mit den beiden Artikel von Hansgerd Hellenkemper: Archäologie in Köln, 47-57, und: Der Heumarkt in Köln – Ein ungewöhnliches Ausgrabungsunternehmen, 351-360
Giertz, Wolfram (2006): Zur Archäologie von Pfalz, vicus und Töpferbezirk Franzstraße in Aachen. Notbergungen und Untersuchungen der Jahre 2003 bis 2005; in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins (Hg. Kraus, Thomas / Papst, Klaus) Bd. 107/108, Jg. 2005/06, S. 7-90; Aachen
Hautermans, Heiner (2005): „Im Zweifel mit dem Pinsel, nicht mit dem Schäufelchen“. Stadt hat die Einstellung zur Archäologie geändert. Riesenandrang; in: Aachener Nachrichten, 26. 10. 05
Illig, Heribert (2005): Die Meistersinger von Deutschland. 10 Jahre Karlsverwerfungen und -debatten; in: Zeitensprünge = ZS 17 (3) 681-700
– (2002): Zwischen Hamburg und der Jahreslänge; in: ZS 14 (2) 393-400
– (2000): Siedlungsarchäologie und chronikale Schwächen; in: ZS 12 (2) 281-295
– (1997): Aachens Pfalzkapelle gerät in Bewegung; in: ZS 9 (4) 657-666
– (11996): Das erfundene Mittelalter; Düsseldorf (alle 19 Auflagen seitenidentisch)
Illig, Heribert / Anwander, Gerhard (2002): Bayern und die Phantomzeit; Gräfelfing
Keller, Christoph (2004): Archäologische Forschungen in Aachen. Katalog der Fundstellen in der Innenstadt und Burtscheid; Mainz
Prospekt = Aachen erleben! handytour mit stadplan; CASA digital gmbH http://www.handytour.com/
Spreckelsen, Tilman (2006): Chronik einer kontrollierten Zerstörung; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.7.06
wissenschaft = Stadtarchäologie. Gigantisches Ausgrabungsprojekt in Köln; in: spektrumdirekt, vom 16.2.05 http://www.wissenschaft-online.de/abo/ticker/773624