Adam Naruszewiczs bereits 1780 erfolgte Eliminierung der lechiadischen und lescidischen Könige aus Polens Frühmittelalter

von Gunnar Heinsohn (aus Zeitensprünge 1/2003)

I.

Polens quellengesicherte Geschichte beginnt mit dem Piasten Mieszko I. (Mesco, Mieczyslaw). Dieser wohl 921 geborene Mann aus dem Stamme der – um Gnesen siedelnden – Polanen wird um 963/65 Herzog, nimmt 966 das Christentum an und leistet 986 Kaiser Otto III. den Vasalleneid. Im Jahre 990 übergibt er die Regierung an seinen Sohn Boleslaw Chobry (Vater von Mieszko II.).

Die polnischen Historiker räumen für die Geschichte Polens ein paar dunkle Jahrzehnte zwischen 920 und Mieszkos Taufe im Jahre 966 freimütig ein. Früheste Fundamente kleiner Rundkapellen (Krakau, Giecz) verweisen auf Christen bereits kurze Zeit vor diesem frommen Akt. Vor 920 jedoch – und das gilt für alle Gelehrten des Landes – befindet man sich in der Vorgeschichte Polens, also in einer Zeit, für die es polnische Texte, Münzen, Bauten oder Könige noch nicht gibt. Während ein paar Kilometer weiter westlich Fürsten- und Königsgeschlechter schon Jahrhunderte früher in Blüte stehen, bescheidet man sich in Polen mit einem durch nichts zu erleuchtenden dunklen Zeitalter, aus dem erst Mieszkos Vater kurz vor 920 mühsam herausfindet. Sein Name ist nicht gesichert. Er könnte Ziemomisius/Siemomysl geheißen haben.

Mit diesem Spätbeginn polnischer Geschichte hat man sich an der Weichsel keineswegs immer schon abgefunden. So wird im kalendarischen Jubeljahr 1750 ganz selbstverständlich eine Porträtgalerie mit den Köpfen von fünfzig polnischen Königen für das Jahrtausend zwischen 750 und 1750 publiziert. In den gelehrten Büchern dieser Zeit werden auch dreizehn Herrscher der frühmittelalterlichen Zeit mit königlichen Taten in Krieg und Frieden versehen. Heute jedoch wissen nur noch kenntnisreiche Polonica-Liebhaber um die Monarchien der Lechiaden (auch Lechiten; pol. Lechici) und Lesciden. Einzelne Figuren inspirieren noch die Sagen- und Märchenbücher. Bis 1780 jedoch muss sie jeder Schüler zwischen Ostsee und Schwarzem Meer auswendig hersagen können. Heute sucht man selbst in den besten polnischen Enzyklopädien und Lexika vergebens nach einer Liste dieser Herrscher, aus deren Existenz die Nation doch viele Jahrhunderte Kraft gezogen hat.

Für die Zeit von 550 bis ca. 920 verzeichnet die bis ins 18. Jh. gültige polnische Geschichtsschreibung zwölf Könige und eine Königin. Sie sind das Produkt von Chronikschreibern des Hochmittelalters. Zum Zuge kommen dabei Sagengestalten wie Lescus und Popelus (s. u.) aus dem 1113 bis 1116 geschaffenen Chronicon des Anonymus, der als Franzose auch unter dem Namen Martinus Gallus geführt wird. Schon weitgehend vollendet wird die frühmittelalterliche Königsabfolge Polens vom Zisterzienser – und späterem Krakauer Bischof – Wincenty/Vincentius Kadlubek (1150–1223). Der polnische Gründungsheros und Lechiden-Stammvater Lechus I. mit einer Regierungszeit ab 550 allerdings wird erst in einer anonymen Chronik aus dem Jahre 1382 erwähnt (Chronica principium Poloniae cum eorum gestis). Kadlubeks überaus kreatives vierbändiges Chronicon Polonorum wird in Jahreskapiteln bis 1206 geführt. Der klösterliche Autor ist fest entschlossen, seinem Land ein hohes Zivilisationsalter sicherzustellen und postuliert deshalb Kämpfe bereits gegen Julius Caesar für ganz besonders frühe Piasten (die real erst mit Mieszko beginnende Königslinie).

Zur Abfassungszeit (12./13. Jh.) von Kadlubeks lateinisch geschriebener Chronik folgt man bereits den kalendarischen Vorgaben der Legenden- und Chronikenschreiber Westeuropas, die in ihrer Serie frühmittelalterlicher Könige immerhin vier Karlsherrscher der ersten Kategorie vor dem ersten Echt-Karl (Simplex) unterzubringen vermögen (Mann, Groß, Kahl und Dick). Dem polnischen Gegenstück zum westlichen Einhard gelingen gleich vier Herrscher mit dem Namens Lescus (Lesco, Lestek, Leszek) vor dem ersten – uns noch interessierenden – Echt-Lescus (Leszek der Weiße), so dass die polnischen Gegenstücke zu den Karolingern als Leskiden nicht unpassend bezeichnet sind [Kadlubko/Gallus 1749, 5-12]. Die Regierungszeit, Schreibweise und selbst Anzahl der Herrscher hat eine Weile geschwankt, aber zwischen dem Beginn des 17. [Gluchowski 1605, 1-34] und dem Ende des 18. Jhs. [Kuropatnicki 1789, IV.1] geht es im wesentlichen um folgende Sequenz (Für das Auffinden und Herbeischaffen der alten Folianten zu ihrer Rekonstruktion ist Stefania Sychta und Jan Krzeminski von der Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften – PAN Biblioteka Gdanska – zu danken.)

– Lechus I. (Lech) ab 550
– Wisszymirus (Wyzimir, Wizimierz) aus dem
Stamm des Lechus sowie weitere namentlich
unbekannte Lechiaden und am Ende
12 Woijewoden (Pfalzgrafen)
bis 700
– Cracus (Krakus) 700–728
– Lechus II. 728–730
– Wanda (Venda) 730–740
– 12 Woijewoden (Pfalzgrafen) 740–750
– Lescus I. (auch Przemyslaw) 750–784
– Lescus II. 784–800
– Lescus III. 800–815
– Popelus I. (Popiel Senior) 815–830
– Popelus II. (Popiel Junior) 830–842
– Piastus (Piast) 842–861
– Zemowit (Siemovitus) 862–892
– Lescus IV. 892–913/auch 921
Ende der Phantomkönige
– Vater (Ziemomisius/Siemomysl?) von Miezko I. ???–963
– Miezko I. (Mesco) Erster unstrittiger Herzog 963–999

Auch schon vor der auf S. 146 reproduzierten Kupferstich-Galerie mit 50 Porträts für 1.000 monarchische Jahre aus dem Jahre 1750 werden Abbilder der dreizehn frühmittelalterlichen Könige produziert. So enthält etwa die Genealogie Reges Poloniae in der prachtvollen Form des polnischen Wappenadlers von Thomas Treter (1547–1610), die im Jahre 1617 in Brüssel als Kupfer verlegt wird, nur 44 Porträts [Niewodniczanski 2002, 40].

Sechs polnische Könige regieren erst nach Fertigstellung dieses Stiches bis zur Erstellung des nächsten im Jahre 1750. Treters Porträts von Lechus I. bis Lescus V. wiederum können auf die prachtvolle Ikonographie der polnischen Könige von Ian Gluchowski aus dem Jahre 1605 zurückgreifen. Beide Darstellungen dienen dem anonymen Stecher von 1750 als Vorlage. Alle drei Werke dürften im polnischen Adel gut verbreitet gewesen sein. Man ‘kennt’ mithin sogar Gesichter und Gewänder der verehrten frühen Herrscher. Jeder von ihnen schaut mindestens so prächtig aus, wie man sich seit der Renaissance in Westeuropa einen Großkarl („768–814“) ausmalt. An seinen beiden ‘Zeitgenossen’ Lescus II. (784–800) und Lescus III. (800–815) sei das exemplarisch gezeigt.

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Die polnischen Könige Lescus II. und III. (784–815) in Renaissance-Holzschnitten [Gluchowski 1605, 20/22] Abb. 3

II.

Nach der ersten polnischen Teilung (1772) bekommt Adam Naruszewicz (1733–1796) von König Stanislaw August Poniatowski (1764–1795) den Auftrag, eine Geschichte Polens für die nationalbewusste Erziehung der nachwachsenden Elite zu erarbeiten. Mit ihr soll das drohende Schicksal des Landes noch einmal gewendet werden. All das bleibt vergeblich. Ein wenig vielleicht auch deshalb, weil sich der König für einen wirklichen Forscher entscheidet. Der ist an Propaganda nicht interessiert und ‘missbraucht’ seine Position dafür, eine wissenschaftlichen Standards gehorchende Analyse zu schreiben. Naruszewicz gelangt mit seinem großen Wurf gerade bis 1386. In diesem Jahr geht die Piastenherrschaft zu Ende. Die strahlendste Periode des polnisch-lithauischen Großreiches – mit über einer Million Quadratkilometern Fläche – von Wladislaw Jagiello bis Stefan Batory (1386–1586), kommt gar nicht mehr zur Behandlung.

Naruszewiczs Bände II bis VII erscheinen unter dem Titel Historia narodu polskiego [Geschichte des polnischen Volkes] in den Jahren 1780 bis 1786. Es sind dies die Bücher über die wirklich mit Quellen versehbare Geschichte des Landes. Sie beginnt im ersten Band, der wegen eines für später geplanten Bandes zur Prähistorie die Nummer II trägt, und setzt nicht etwa gegen 550 mit Lechus I., sondern zum Schrecken des Publikums erst im 10. Jh. mit Herzog Mieszko ein. (Der erste und bisher einzige polnische Staatschef mit dem Namen Lech tritt unter dem Familiennamen Walesa im Jahre 1990 für ein halbes Jahrzehnt das Präsidentenamt an).

Der Band I von Naruszewiczs großem Werk wird erst 28 Jahre nach seinem Tode herausgegeben. Er trägt den Titel Dzieje przedhistoryczne [Geschichte der Frühzeit; 1824] und enthält, was damals seit dem Altertum über das Territorium Polens bis zu seiner nun so viel später angesetzten historischen Zeit unter Mieszko bekannt ist.

Naruszewicz befindet sich in einer unübertrefflichen Lage für die Ermittlung der wirklich vorhandenen Quellen zur polnischen National- und Königsgeschichte und damit für die seinerzeit als ungemein skandalös empfundene Streichung der dreizehn frühmittelalterlichen Landesherren. Er stellt eine Gruppe von Gelehrten zusammen, welche den gesamten vorhandenen Aktenbestand zu sichten beginnt und von ihm allgemein zugängliche Kopien für die wissenschaftliche Arbeit erstellt. Naruszewicz allein verfasst mit dem Rückhalt dieses immensen Sammlerfleißes 130 Biographien berühmter Polen. Die von seiner Arbeitsgruppe ausgewerteten Dokumente bis einschließlich des Jahres 1773 werden zwischen 1781 und 1792 in den Acta regum et populi Poloni publiziert, von denen insgesamt 230 Bände vorliegen. Die Monumenta Germaniae historica – angeregt im Jahre 1819 durch den Freiherrn vom Stein – erscheinen erst ab 1826.

Auch Naruszewicz kann auf andere Gelehrte zurückgreifen. Besonders Lechus I. steht auch damals schon seit fast einem Jahrhundert in der Kritik. Bereits im Jahre 1766 hat ihn zu Danzig August Ludwig Schlözer (1735–1809) endgültig als Phantom erwiesen:

„Lech kam nicht vor dem Jahr 550 nach Polen, er kam nicht nach demselben, er kam niemals. Lech ist ein bloßer Übersetzungsfehler, ein noch nicht 400 Jahre altes Hirngespinst, ein historisches Unding. Laßt ihn ins Reich der Schatten wandern. […] Mein Aufsatz, der dem Lech sein Daseyn bestreitet, ist zwar in einem Reiche, von Stanislaus August regiert, vor der Flamme sicher: allein Gehör, Prüfung und Ergebenheit kann ihm nur der Schutz eines erhabenen Patrioten und der richterliche Anspruch einer gelehrten Gesellschaft gewähren. […] Es kommt hier weder auf die Menge noch auf das Ansehen derer an, die an den Lech glauben oder nicht, die Gesellschaft fordert innere Beweise und kritische Gründe“ [Schlözer 1770, 2/5/7].

Bereits im Jahre 1780 also ist die polnische Quellenkritik zu den frühmittelalterlichen Königen weit genug fortgeschritten, um die einst so erlauchten Dreizehn aus der Realgeschichte Polens zu eliminieren. Auf dem Höhepunkt der europäischen Aufklärung entscheidet sich die polnische Geschichtswissenschaft im Konflikt zwischen Legenden und Fakten für letztere. Das fällt nicht leicht, denn das polnisch-lithauische Großreich liegt in den letzten – 1795 ausgehauchten – Zügen, und niemand kann sich Popularität erhoffen, wenn er eine ganz Liste berühmter Herrscher gerade aus der ältesten Zeit eliminiert und die polnische Geschichte, um deren Fortgang man doch fürchtet, am Anfang um grandiose Jahrhunderte reduziert.

In Abhandlungen, die ernst genommen werden wollen, finden die dreizehn Glorreichen von nun an keinen Eingang mehr. Natürlich gibt es Revisionsversuche. Vor allem den – in der Tat gewaltigen – Zerstörungen durch die Schwedeneinfälle des 17. Jhs. sollen ausgerechnet sämtliche Münzen und Dokumente des Frühmittelalters, nicht jedoch die späterer polnischer Epochen zum Opfer gefallen sein. Wegen dieses wundersamen Totalverlustes sollen die dreizehn frühmittelalterlichen Könige auch ohne Existenzbeweis in den Geschichtsbüchern bleiben dürfen. Da wird ein Argument vorweggenommen, das in der Abwandlung von den Schweden des 17. Jhs. zu ihren Wikingervorfahren für das ebenso totale Verschwinden der Quellen und Artefakte des frühmittelalterlichen Westeuropa bis zum heutigen Tag in regem Gebrauch ist.

Alle Versuche zur Rettung der Lechiaden und Lesciden bleiben erfolglos. Naruszewiczs Acta liefern nämlich auch die Basis für die Werke von Joachim [Ignacy] Lelewel (1786–1861), der als bedeutendster polnischer Historiker überhaupt gilt. Zum Glauben an chirurgisch genaue und zugleich hundertprozentige Quellen- und Fundvernichtung ist er nicht zu bekehren. Mit seinen Arbeiten zur Geographie und Numismatik des Mittelalters und seinem Hauptwerk La Pologne au moyen-âge findet der Abschied von den frühmittelalterlichen Königen Polens seine klassische Form [3 Bde., Paris 1846-51]. In einer zweibändigen Enzyklopädie über Polnische Altertümer [Moraczewski 1842/52], die Lelewel gewidmet ist, werden die Lechiaden und Lesciden beinahe schon fanatisch nicht einmal mehr als Königsliste erwähnt, die als Fiktion entlarvt werden musste. Sie werden eisern übergangen. Wer über sie hätte schreiben wollen, wäre nur noch als primitiv und unbelehrbar angesehen worden. Diese Haltung hat vor der Geschichte Recht behalten. Auch nachher sind Quellen für ein frühmittelalterliches Polen niemals gefunden worden [Heinsohn/Sidorczak 2001].

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Adam Naruszewicz (1733–1796) [Zeichnung von W. Kotarsky]

III.

Auf ihre Weise haben es die polnischen Gelehrten mit der Wende zu den Fakten damals einfacher als ihre westeuropäischen Kollegen. Als man in Polen die Lechiaden und Leskiden ins Schattenreich verweist, steckt man in Deutschland und Frankreich noch mitten im Fertigbasteln der karolingischen und spätmerowingischen Stammbäume. Die hochmittelalterlichen Vorlagen für die westeuropäischen Autoren des 18. und 19. Jhs. haben mit Namen wie Pippin, Karl, Lothar und Ludwig Herrscher in die fiktive Zeit gestellt, die es auch vor 600 oder nach 920 gibt. Die Westeuropäer unterliegen also einer starken Verführung, Dokumente und Münzen der unstrittigen Herrscher zwischen diesen und den fiktiven Persönlichkeiten gleichen Namens aufzuteilen.

Dagegen tragen die von den hochmittelalterlichen Chronisten Polens erdachten Könige Namen, die es vorher als Herrscherbezeichnungen ohnehin nicht gibt. Die polnischen Wissenschaftler finden also keine Möglichkeit, harte Evidenz für Könige aus der Zeit vor 550 irgendwelchen fiktiven Herrschern bis zum Jahre 920 zuzuweisen. In Polen erfolgt das Auftreten eines königlichen Namens, den die spätmittelalterlichen Chronisten für die fiktive Zeit vor 920 verwenden, überhaupt erst mit dem unstrittigen Lescus Bialy (Lescus/Leszek der Weiße). Er regiert zwischen 1202 und 1227. Er herrscht also genau zu der Zeit, in der Wincenty Kadlubek im Jahre 1206 die Liste der fiktiven frühmittelalterlichen Könige Polens weitgehend kanonisiert. Da der Klosterbruder gleich vier Lescusse hinzufügt, gewinnt sein wirklicher König Lescus der Weiße plötzlich eine wunderbar legitimierende Langtradition.

Als sich polnische Forscher seit Naruszewicz bzw. gegen 1760/70 daran machen, die harte Evidenz polnischer Geschichte – Münzen und Akten vor allem – systematisch zu erfassen, verbietet sich das an sich verführerische ‘Verbrauchen’ der unstrittigen Funde für Lescus den Weißen aus dem 13. Jh. für die legendären vier Lescusse des 8./9. Jhs. von selbst. Mit einer Jahrhunderte überspringenden Vergewaltigung der ohnehin knappen Funde will sich niemand blamieren. Im Endergebnis gibt es für sämtliche dreizehn „legendäre Könige“ – so nennt man sie seitdem in der polnischen Fachliteratur – weder aus der Zeit vor 550 noch aus der Zeit nach 920 und schon gar nicht innerhalb dieser dreieinhalb Jahrhunderte irgendetwas, das ihnen zugewiesen werden könnte.

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„Abbildung aller Regenten und Könige in Poln die von Tausend Jahren hero in Poln Regiert haben”. (Die ersten 13 Könige von hier 750 [sonst 550] bis 920 sind seit 1780 als Phantomgestalten aus der polnischen Geschichte ausgeschieden). [Anonymer Kupferstich aus dem Jahre 1750, 30×38,7 cm. Abb. 253 aus DESA UNICUM 2002, 72.]

Die Konsequenzen dieses Befundes werden nur schwer verschmerzt. Bis zu siebenhundert Jahre haben die Polen diese Könige gekannt, die prachtvollen Konterfeis vor dem geistigen Auge gehabt und die Heldentaten und Tragödien dieser Urpolen ihren Kindern erzählt. Der Tod Vendas (Wandas), die sich selbst durch Sprung in die Weichsel opfert, um der Ehe mit einem Deutschen zu entgehen, der sich dadurch des Landes bemächtigt hätte, kann auch heute noch ein polnisches Herz in Rührung versetzen. Über bald sieben Jahrhunderte hinweg scheitern die Söhne des polnischen Adels im Examen, wenn sie die Taten dieser überlebensgroßen Fürsten nicht nennen können.

Die wuchtigen Folianten mit Polen-Chroniken aus der Renaissance [Miechow 1521; Cromer 1555] sollen zumindest in ihren Frühmittelalterkapiteln nur noch Makulatur sein. Mit dieser noblen Bildung aus überaus kostspieligen Büchern sogar in polnischer Mundart [Stryjkowski 1582; Bielski 1597] soll ab 1780 niemand mehr glänzen dürfen. Das sentimentale Anklammern an die gleichermaßen blumigen und blutrünstigen Erzählungen – sie bieten einer Einhardschen Vita Karoli spielend Paroli – wird nichtig vor dem nüchternen Blick der Recherche. Es gibt für die ehrwürdigen Figuren nun einmal keinen einzigen Existenzbeweis. In einem raren und kostbaren Moment geschieht daraufhin etwas Ungewöhnliches: Die wissenschaftliche Haltung obsiegt. Die dreizehn polnischen Karolinger bzw. Lechiaden und Lesciden werden ersatzlos und für immer aus der Geschichte verabschiedet. Die den Legendenkönigen zugewiesenen dreieinhalb Jahrhunderte allerdings werden beibehalten und seitdem als dunkles Zeitalter in den Büchern geführt. Damals gibt es noch keine Ausgrabungen, mit der die Zeitspanne als solche auf ihre Existenzberechtigung hätte überprüft werden können. Dass mit den fiktiven Menschen auch fiktive Jahrhunderte aus den Büchern herausmüssen, wird nicht einmal geahnt. Erst seit den systematischen archäologischen Untersuchungen des Weichseldeltas durch Deutsche bis 1945 und danach durch polnische Ausgräber weiß man, dass für die 350 Jahre auch die Schichten in der Erde fehlen [Heinsohn 2001]. Die weltweit umfassendsten Ausgrabungen für einen einzelnen Kulturraum überhaupt erfolgen in den 1990er Jahren am 682 km langen polnischen Teilstück der Trasse für die Yamal-Gasleitung aus Sibirien. Die Auswertung von 724 Fundstätten bestätigt einmal mehr die Abwesenheit frühmittelalterlicher Schichten in Polen [Chlodnicki/Kryzaniak 1998; Heinsohn 2002]. Heute traut man sich die nahe liegenden Schlüsse auf einstige Kalenderverlängerung zumindest vorerst nicht zu. Die Kühnheit der polnischen Gelehrten des 18. Jhs. kann auf das 21. nicht einfach übertragen werden.

Westeuropas Mediävisten haben seit Adam Naruszewiczs Einleitungsband für die Geschichte des polnischen Volkes bald zweieinviertel Jahrhunderte für das Beginnen mit einer seriösen Quellenkritik verloren. Die Inspiration, die man sich im Osten heute von ihnen erwartet, fehlt an allen Ecken. Wohl auch, weil sie seit Illigs 1991er Axt an knapp 300 frühmittelalterliche Phantomjahre für alle Gebiete der Erde ohne Atempause und auf immer mehr Feldern herausgefordert werden, verteidigen sie verbissener denn je ihre geliebten Karolinger, Alfredinger etc. etc. [einschlägige Überblicke bei Louda/Maclagan 1984; Ross 1978]. Je mehr überkommene ‘Beweise’ den wütend verteidigten Jahrhunderten endgültig abhanden kommen, desto massiver wird der akademische Bücher- und Aufsätzewall zur Verteidigung des Unhaltbaren.

Was soll man da raten? Ließe sich vielleicht der kommunistische Fehlspruch „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ verbessern zu einem „von Polen lernen, heißt Kritikfähigkeit zum Frühmittelalter erwerben“? Man muss danach ja nicht einfach alles vergessen. Auch über Jahrhunderte geglaubte Fiktionen verdienen eine Erinnerung, denn ihre wissenschaftliche Überwindung eignet sich allemal als Ermutigung.

Literatur

Bielski, M. (1597), Kronika Polska, Krakau
Cellarius, A. (1659), Regni Poloniae, Magnique Ducatus Lithianiae…: Novissima Descriptio, Amsterdam
Cromer, M. (1555), De origini et rebus gestis Polonorum, Basel
Chlodnicki, M., Kryzaniak, L., Hg. (1998), Pipeline of Archaeological Treasures, Poznan
DESA UNICUM (2002), 121 Aukcja map i widoków ziem polskich od XV do XIX wieku, Warszawa
Dlugosz (seu Longinus), J. (1615), Historia Polonica Ioannis Dlugossi, Bd. 1 der 1455 bis 1480 verfassten Handschrift in zwölf Büchern, hgg. v. H. Dobromilski
Gluchowski, I. (1605), Ikones ksiazat y krolow polskich, Krakow
Heinsohn, G. (2001), „Danzig und die rätselhafte frühmittelalterliche Chronologielücke des Weichseldeltas“, in ZS, 13 (3), 440-462
– (2002), „Polen im frühen Mittelalter: Der Schock bei den Arbeiten an der Yamal-Pipeline“, in ZS, 14 (1), 126-131
Heinsohn, G., Sidorczak, J. (2001), „Gibt es Slawen betreffende Schriftquellen aus dem frühen Mittelalter?, in ZS, 13 (2), 200-212
Illig, H. (1991), „Die christliche Zeitrechnung ist zu lang”, in ZS, 3 (1) 4-20
Kadlubko, V., Gallus M. (1749), Scriptores historicae Poloniae Vetustissimi (1116 bzw. 1206), Danzig
Kuropatnicki, E.A. (1789), Wiadamosc o kleynocie szlacheckim, oraz herbach domow szlachekicm, w Koronie Polskiey i Wielkim Xiestwie Litewskim, 4 Bücher in einem Band, Warszawa
Lelewel, J. (1846-51), La Pologne au moyen-âge, 3 Bde., Paris
Louda, J., Maclagan, M. (1984), Les dynasties d’Europe (1981), Paris
Miechow, M. (1521), Chronica Polonorum, Krakow
Moraczewski, J., Hg. (1842/52), Starozytmosci Polskie, 2 Bde., Poznan
– (1780-86), Historia narodu polskiego, Bde. II-VII, Warszawa
Naruszewicz, A. (1824), Dzieje przedhistoryczne, Warszawa
Niewodniczanski, T. (2002), Imago Poloniae: Das polnisch-lithauische Reich in Karten, Dokumenten und alten Drucken, Bd. 1, Berlin et al.
Ross, M. (1978), Rulers and Governments of the World. Volume 1: Earliest Times to 1491, London · New York
Schlözer, A.L. (1770), Abhandlung über die Aufgabe aus der polnischen Geschichte „könnte nicht die Ankunft des Lechs in Polen zwischen den ‘Jahren 550 und 560 u.s.w.’“, welcher von der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig 1766 den 19 Aug. der Fürstl. Jablonowskische Preis zuerkannt worden, Danzig
Stryjkowski, M. (1582), Kronika Polska Litewska, Königsberg