Ein Rück- und Ausblick von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 1/2011)

Ursprünglich war diese Zeitschrift [Zeitensprünge vorm. Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart] ganz auf die Antike ausgerichtet – mit dem Blick aus unserer Gegenwart. Aber zu Anfang des 3. Jahrgangs, in der ersten Ausgabe des Jahres 1991 von Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart standen in einem schmalen Heft von 62 Seiten erstmals Argumente für überzählige Zeit im frühen Mittelalter:

Illig, Heribert: Die christliche Zeitrechnung ist zu lang [1/1991, 4-20]
Niemitz, Hans-Ulrich: Fälschungen im Mittelalter [1/1991, 21-35]
Illig/Niemitz: Hat das dunkle Mittelalter nie existiert? [1/1991, 36-49]

Schon einige Zeit hatte es bei den Chronologie-Kritikern wegen der Dunkelheiten im Mittelalter verbal rumort; nun war innerhalb der Gregorianischen Kalenderreform ein Hebel gefunden, mit dem sich eine ungefähre Zeitspanne angeben ließ, und dazu die Jahrhunderte abschätzbar, in denen allein gravierende Verwerfungen zu erwarten waren.

Das Zusammenspiel zwischen Niemitz und mir ist öfters dargestellt worden, also sein Grübeln wegen der ungeheuer vielen Fälschungen und meine Idee einer chronologischen Verwerfung, belegbar durch eine kalendarische Prüfmöglichkeit [Das erfundene Mittelalter, 9-12 oder Otte (Hg.): Zeitenspringer, 32-34]. Ab da ging es zunächst im kleinen Rahmen der Zeitschrift weiter, wobei unser Eichborn-Lektor Alfred Sellner als erster von vielen zum Gegner wurde. Bereits im Heft 3/1991 nahmen sich mit Horst Friedrich und Manfred Zeller – letzterer fand gravierende Schwachstellen in der frühen ‘deutschen’ Literatur – zwei weitere Autoren der Thematik an; im fünften Heft 1991 beteiligte sich Gunnar Heinsohn mit einer „Notiz“ zu den Dunkelheiten innerhalb der jüdischen Geschichte; im vierten Heft 1992 beschäftigte sich Angelika Müller mit den Gesandtschaften zwischen Franken und Bagdad, die allein aus westlichen Quellen bekannt sind. So hatte das erste halbe Dutzend ‘Kombattanten’ zusammengefunden. Bis heute sind es nahezu 100 Diskutanten geworden, die sich im Rahmen dieser Zeitschrift und den Jahrestreffen geäußert haben, freilich zum Teil rasch in ganz anderen Richtungen weiterforschend oder auch die konservative Position verteidigend.


Autoren zum erfundenen Mittelalter in den Zeitensprüngen

Gisela Albrecht, Gerhard Anwander, Susanne Anwander, Jan Beaufort, Ulrich Becker, Werner Benecken, Andreas Birken, Christian Blöss, Michael Bohrer, Axel Brätz, Herwig Brätz, Daniela M. Brandt, Günther Braun, Detlev Büscher, Wolfgang Creyaufmüller, Georg Dattenböck, Georg Dehn, Ewald Ernst, Otto Ernst, Monika Falckenrath, Johanna Felmayer, Werner X. Frank, Dietmar Franz, Ulrich Franz, Horst Friedrich, Volker Friedrich, Fabian Fritzsche, S. Fuder s. Anwander, Eugen Gabowitsch, Alexander Glahn, Christa Gottwald, Peter Hahn, Gunnar Heinsohn, Dieter Helbig, Martin Henkel, Josef Hölzl, Volker Hoffmann, Karl Hofmann, Heribert Illig, Alexander Jurisch, Jens Kämmerer, Willibald Katzinger, Stefan Keller, Martin Klamt, Walter Klier, Franz Kloppenburg, Marianne Koch, Gerd Kögel, Siegwart Köhler, Hans-Erdmann Korth, Renate Laszlo, Rolf Legler, Günter Lelarge, Martin Lettner, Karl-Heinz Lewin, Paul C. Martin, Christoph Marx, Michael Meisegeier, Peter Mikolasch, Norbert Müller, Zainab-A. Müller, Dietmar Neukum, Manfred Neusel, Hans-Ulrich Niemitz, Andreas Otte, Konstantin Paraschiv, Christoph Pfister, Hajo Pickel, Olaf Plotke, Claus D. Rade, Dietmar Richter, Gerhard Roese, Gerald Schmidt, Hanjo Schmidt, Eberhard Schwerdtel, Joanna Sidorczak, Franz Siepe, Ursula Siepe, Reiner Spieker, John Spillmann, Jürgen von Strauwitz, Alfred Tamerl, Werner Thiel, Ilya Topper, Uwe Topper, Wilfried Tüllmann, Hansmartin Ungericht, Ulrich Voigt, Jochen Vollbach, Nikolai Wandruszka, Klaus Weissgerber, Roland Welcker, Armin Wirsching, Gert Zeising, Manfred Zeller, Robert Zuberbühler.


Besonders möchte ich jene Mitstreiter hervorheben, die sich auch in ihren Büchern dem Mittelalterthema gewidmet haben: Gerhard Anwander, Dietmar Franz, Andreas Otte, Franz Siepe, Alfred Tamerl, Werner Thiel und Klaus Weissgerber. Hinzu trat Detlef Suhr mit einer separaten Publikation für die breitere Leserschaft, erschienen im Verlag Literatur, Jena.Ermöglicht wird die Präsentation dieser These von der Leserschaft der Zeitensprünge, dankenswerterweise auch mit Patenschaften für Bibliotheken und andere Bedürftige.

Eine andere Dimension hat der Internet-Auftritt: Auf fantomzeit.de ist mittlerweile über 500.000 Mal zugegriffen worden. Begonnen hat die Netz-Präsenz zunächst Günter Lelarge, der dann Seite an Seite mit Jan Beaufort und Hans-Erdmann Korth mehrere news-groups in höchste Erregung versetzte. Leider vernichtete eine Schlaganfall Lelarges psychische Existenz. Daraufhin wurde von Beaufort, Korth und Andreas Otte ein neues Konzept mit einer Plattform für sachbezogene Diskussionen entworfen, das letzterer technisch realisierte. Die drei formierten sich als Administratoren, die Ideen ausbrüten und eine oft heikle Schiedsrichterrolle spielen müssen. Hier habe ich mittlerweile den Platz von Korth übernommen – gewissermaßen im zweiten Glied.

‘Draußen’ wurden wir erstmals beachtet, als zur Einweihung des Main-Donau-Kanals 1992 das schmale Heft mit dem frechen Titel Karl der Fiktive,  genannt Karl der Große erschien. Darauf konnte ich das erste Rundfunkinterview geben, bald darauf ließen die ersten beiden Mediävisten in Aachen ihren Abscheu vor derartigen Umtrieben zu Protokoll nehmen.

1994 gab es 400 Seiten zu der Frage: Hat Karl der Große je gelebt? Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit. Dieses Buch, das etliche Verlage dankend abgelehnt haben, machte dann im Mantis Verlag seinen Weg.

Unser positiv besetzter, also ‘reziproker’ 11. 9. fand 1995 statt. Damals druckte die Berliner taz auf ihrer Wissenschaftsseite eine Rezension von Marion Wigand über dieses Buch. Sie ging zurück auf einen Vortrag, den ich im Berliner Museum für Technik und Verkehr halten konnte, weil Hans- Ulrich Niemitz die Einladung für einen VDI-Arbeitskreis aussprach. Es brauchte aber danach noch ein halbes Jahr, zweimaligen Wechsel beim Zeitungsreferat und ein etwa einstündiges Telefonat zwischen dem Chefredakteur und mir, bevor die taz überzeugt war, dass sie sich nicht fahrlässig blamieren würde.

Ab dieser Stunde ging es in rasender Eile weiter: Berichte, Kommentare, Interviews, Artikel in zahllosen Medien. So wurde auch der Econ Verlag in Gestalt seines damaligen Cheflektors Lutz Dursthoff aufmerksam; Das erfundene Mittelalter erschien 1996 und steht bis heute in den Buchhandlungen.

Mit heranrückendem Millennium und der überraschenden Aussicht, ihm noch fast 300 Jahre lang zu entgehen, wurde die These einmal quer durch die deutschsprachigen Medien gereicht und erfuhr ungeahnte Aufmerksamkeit. Der Druck aus den Redaktionsbüros zwang die Mediävisten zu Äußerungen, die sie sich gerne erspart hätten. Vorreiter bildete Prof. Johannes Fried, der für seine Phantasien meine These als negatives, illusionäres Kontrastbild brauchte. Dafür perhorreszierte er mich in Presse (FAZ) und Wissenschaft (Historische Zeitschrift). Hinter ihm bildete sich eine Abwehrfront, aus der nur wenige Professoren ‘ausbrachen’, etwa Prof. Ingeborg Flagge, Leipzig, oder PD Rainer Stollmann, Bremen. Prof. Frank Benseler lud mich für einen Vortrag an die Universität Paderborn ein und ermöglichte eine Diskussionsrunde in der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägenskultur (heute Erwägen Wissen Ethik). Dazu wurden von Dr. Werner Loh über 100 Wissenschaftler angesprochen; beteiligt haben sich nur sieben Kontrahenten, ein Ablehnungsbrief trat noch hinzu. Schließlich beteiligte mich Dr. Willibald Katzinger, Linz, an mehreren wissenschaftlichen Publikationen samt Vortrag und präsentierte das erfundene Mittelalter in einer Ausstellung. [Alle Hinweise auf Veranstaltungen, Publikationen, Entgegnungen sind in der „Debatte um das erfundene Mittelalter” und auf mantis-verlag.de unter „Werkverzeichnis H. Illig“ erfasst, weshalb sie hier nicht eigens ausgewiesen werden.]

Außerhalb der Universitäten gab es in den Medien freie Köpfe, denen die Ablehnung durch die Professorenschaft auffiel oder die den Reiz der These  erkannten und weiteres Interesse schürten. Hier darf ich vor allem den unermüdlichen Universalschaffenden Dr. Alexander Kluge (* 1932) nennen, der mich mehrfach für den unabhängigen Programmanbieter dctp interviewt und den Erfolg von rund 130.000 verkauften Buchexemplaren erst möglich gemacht hat. Mit gleicher Dankbarkeit nenne ich den leider zu früh gestorbenen Wissenschaftsjournalisten Klaus Simmering (1958–2004), der es wagte, auf eigenes Risiko den Fernsehfilm 300 Jahre erstunken und erlogen? zu drehen. Er lief nicht nur beim mdr, sondern viele Monate lang auch wöchentlich in der space night des BR. (Das Abnahmegremium beim mdr hatte freilich verlangt, dass die Schlusssätze eine klare Aussage gegen das erfundene Mittelalter enthalten müssen.)

Im Bereich der Belletristik haben vier zum Teil bekannte AutorInnen selbständig die Grundidee literarisch ausgestaltet: Richard Dübell, Barbara Frischmut, Kathrin Lange und Hubert vom Venn. Zum Teil erheblich ‘abdriftende’, aber auch flankierende Arbeiten sind in England (vgl. Otte, im Heft S. 107), den Niederlanden und in Ungarn erschienen; in Budapest riskierte der Verlag allprint (kiadó) die Übersetzung von fünf unserer Bücher.

1999 war für die Mediävisten das schwerste Jahr: Die drei gewichtigen Katalogbände der Paderborner Ausstellung zu Kaiser Karl und Papst Leo mussten jede Nennung von These oder Urheber vermeiden, obwohl der Zabern Verlag die Werbung mit meinem Namen bestritt; ein Mediävisten-Symposium in Leipzig nahm die These zur Kenntnis und urteilte sie ab, worauf Prof. Michael Borgolte kurz vor dem Jahr 2000 öffentlich das Ende der Diskussion verlangte, was sich freilich die Medien und einige seiner Kollegen nicht vorschreiben ließen.

Jahrelang waren wir gewissermaßen nur in der Defensive, galt es doch, eine Flut von Angriffen abzuwehren. Die meisten waren unberechtigt wie etwa die Attacken von Wikipedia, die unserer notwendige Wissenschaftskritik diskreditieren wollte. Die umfangreichsten Antworten stammen aus dem archäoastronomischen Bereich, in dem weit über 1.000 Seiten verfasst worden sind. Mathematisch schien das Problem erfundenes Mittelalter am leichtesten zu lösen; Bauhistoriker und Archäologen hielten sich dagegen steng bedeckt, die echten Mediävisten verschanz(t)en sich hinter Schriftquellen und ihrer historischen Methode (im Heft s. a. S. 19).

So hat sich die These vom erfundenen Mittelalter nunmehr 20 Jahre gut behauptet; die Wissenschaftler fanden es mehrheitlich für richtig, sie zu verhöhnen, zu diffamieren und Schweigen über sie zu verhängen – offenbar fanden sie zwar Schmähworte, aber keine guten Argumente, um die These klar und eindeutig zurückweisen zu können. Um so größer war die Bereitschaft vieler Internet-Nutzer, unbelastet von näheren Kenntnissen in zum Teil wüster Form gegen These und Urheber anzurennen – Laien als Bullenbeißer für ihre Professorenschaft. Dass sich an dieser Hetzjagd auch Wissenschaftler anonym bei Wikipedia und andernorts beteiligen, macht die Sache nicht besser. Immerhin wird durch derartige ‘Argumente’ zunehmend klarer, dass die These nicht nur ihre Daseinsberechtigung hat, sondern mit Fug und Recht ständig weiter ausgebaut wird.

Wie wird es weitergehen? Die Mediävistik mit all den angesprochenen ‘Hilfswissenschaften’ hat sich eingeigelt, von der Hoffnung beseelt, dass der nächste Millenniumswechsel für sie erst in 1.000 Jahren zu erwarten ist. Ob ein großer Ruck à la Herzog diese Wissensdisziplin wachrütteln kann, ist schwer abzuschätzen. Immerhin könnte sich nicht gerade ein Paralleluniversum, aber doch eine parallele Sichtweise etablieren, die ein Eigenleben führen und an manch einer Universität gelehrt werden könnte. Das wäre keine Revolution, sondern eine Evolution, gibt es doch z.B. in der Volkswirtschaftslehre verschiedene Erklärungsmodelle, die je nach Institut hoch oder niedrig eingestuft werden, seit Jahrzehnten konkurrieren, neue Schulen hervorrufen und sich fast alle behaupten. In den Naturwissenschaften ist es normal, dass neue Ansätze vorgestellt und heftig diskutiert werden. So läuft seit über 30 Jahren die Debatte um den Sauriertod durch einen Impakt, ohne dass sich die wissenschaftlichen Gegner anschweigen oder mit wüsten Diffamierungen attackieren würden. Und die Mediävistik?

Zumindest müssen die Quellenkundler ihr Verhältnis zu den naturwissenschaftlichen Datierungsmethoden überdenken. Wenn es um die Rettung u.a. des Aachener Oktogons als karolingischen Bau geht, dann werden die inzwischen ersehnten C14-Daten ohne irgendeine weitergehende Prüfung blind geglaubt und als absolute Wahrheit vorgewiesen; der Baugeschichtsforschung wird hingegen nicht geglaubt, zumal sie nicht allen Mediävisten bekannt ist. Wenn es dagegen um die Rettung karolingischer Urkunden vor der überfälligen Umdatierung geht, dann werden C14-Datierungen aufs entschiedenste abgelehnt und konsequent verhindert, weil die Paläographie angeblich genauer ist. Was für eine Inkonsequenz. Solange derartige Partikularsichtweisen dominieren, solange wird die akademische Jugend darauf verzichten müssen, ‘handfeste’, perspektivenreiche Themen für Haus-, Magister- und Doktorarbeiten zu bekommen.

Vielleicht ein Hoffnungsschimmer: Der uns wohlbekannte Prof. Dr. Rudolf Schieffer, der seit 1983 der MGH vorsteht, wird am 01.04.2012 abgelöst von Prof. Dr. Claudia Märtl, womit das präsidiale Alter um sieben Jahre gesenkt wird – auch keine echte Revolution, aber immerhin eine Verjüngung. Vielleicht gelingt es im angelsächsischen Raum, ein Problembewusstsein zu wecken, solange hierzulande der hl. Karl die Ganglien lähmt. Es liegen weitere Anstrengungen vor uns.