von Gerhard Anwander (Überarbeitete Version aus Zeitensprünge 02/2008)

Das später so genannte Kloster Corvey bei Höxter befand sich unter Abt Adalbert (1138-1144) in Nöten, dank seines rabiaten Erbvogtes namens Siegfried IV., Graf von Boyneburg: [Faußner 2008; 584]

“… da der Klosterherr, Erbvogt Siegfried, seinen Todfeind in Abt Adelbert sah, der wohl gegen seinen entschiedenen Willen Abt geworden war, und sich wie ein Berserker gebärdete. So drohte er nach dem Tode Adelberts dem Konvent, sollte dieser nicht seinen Bruder Heinrich zum Nachfolger wählen, daß er den in der Kirche aufgebahrten Leichnam vor ihnen allen aus dieser hinauswerfen lasse. Und diese Drohung mußte der Konvent bitterernst nehmen.”

Derartiges ward ausgesprochen, obwohl Adalbert nicht irgendwer war, sondern ein Halbbruder des Welfen Heinrichs des Stolzen, Herzog von Sachsen und Bayern (und Vater Heinrichs des Löwen). Um sich dieses rüden Erbvogtes zu erwehren, konsultierte Adalbert einen – wie man heute sagen würde – bekannten Unternehmensberater namens Wibald von Stablo. Dieser studierte den Fall und Faußner [2008; 584 f.] berichtet von den Ergebnissen:

“Nachdem es zur Frühgeschichte des Klosters keinerlei Quellen gab, kam Wibald der kühne Gedanke, historisch aufzuzeigen, daß dieser Wüterich sich völlig unberechtigt als Erbvogt des Klosters aufspielt, da das Kloster in Wirklichkeit eine königliche Tochterstiftung des hochangesehenen karolingischen Königsklosters Corbie an der Somme ist, gegründet von dessen beiden großen Äbten aus dem Karolingerhaus Adalhard d. Ä. (780-826) und seinem Bruder Wala (826-836).”

Betrachten wir daher die Frühgeschichte dieses sog. Mutterklosters näher, um zu prüfen, ob sich Wibald wenigstens hier auf historisch gesicherte Substanz stützen konnte; wir zitieren aus Wikipedia 2008:

“Corbie ist ein ehemaliges Kloster in Frankreich im Tal der Somme. Zwischen 657 und 661 wurde es von der merowingischen Königin Balthild gegründet und mit knapp 22.000 ha Land reich ausgestattet.”

Interessant sind daran zwei Dinge: zum einen die enorme Ausstattung mit Ländereien von 22.000 Hektar. Selbst heute noch wären viele Bauern froh,  wenn sie über 22 ha verfügen würden, so dass man sagen könnte, dass Corbie – zumindest laut Quellenlage – damals mit Ländereien von etwa 1000 Landwirten heutiger mittlerer Größe als Gründungsgabe ausgestattet war. Geht man davon aus, dass bei den damaligen Verhältnissen ein 22-ha-Hof nur einen Menschen zusätzlich mit Nahrungsmitteln versorgen könnte, wäre eine stattliche Klosterbesatzung von 1.000 Menschen vorstellbar.

Bildquelle: Michelin-Reiseführer

Plan der Abtei Corbie bei Amiens, Bildquelle: Michelin-Reiseführer, Seite 149

Der zweite auffällige Befund ist der, dass eine Königin, also eine Frau als Stifterin auftritt, wie die Urkunde vermerkt, die eigentlich nicht die eigentliche sein kann, denn für den Zeitraum von 657 – 661 heißt es nur:

“Chlothar III. schenkt dem von seiner Mutter Balthild gegründeten Kloster Corbie genannten Besitz und verleiht ihm die Immunität.” [Kölzer, Nr. 86]

Es handelt sich also hier um die Gründungsurkunde von Corbie, denn auch in der Wikipedia wird nur dieser Gründungszeitraum 657-661 genannt und Bathild oder Balthild konnte selbst keine Königsurkunde ausstellen, denn sie war nur die Gemahlin Chlothars II. Ob, wann und wie sie das Kloster vorher gegründet hat, ist nicht dokumentiert.

Ihr Lebenslauf erinnert an (Wibald-)Legenden: Sie kam als mittel- und besitzlose Sklavin angelsächsischer Herkunft oder (!) als angelsächsische Fürstentochter an den neustroburgundischen Hof, wo sie Chlothar II. von ihren Tugenden überzeugen konnte, so dass dieser sie heiratete. 651 gebar sie ihm Chlothar III. Dieser wurde nach dem Tod Chlothars II. 656:

“König unter Regentschaft seiner Mutter Balthild und des 657 eingesetzten Hausmeiers Ebroin – ein Mann, der nach Aussage der Quellen nicht aus den höchsten Kreisen stammte” [Völkerw.].

Clothar III. wäre also im besagten Urkundenausstellungszeitraum gerade 6 bis 8 Jahre alt gewesen und deshalb vermutlich noch nicht rechtsfähig. Bathildis war nur Königinmutter und womöglich niederer Abkunft und der Hausmeier Ebroin stammte auch nicht aus höchsten Kreisen! Somit hat bzw. hätte ein Trio zweifelhafter Reputation für die Gründung und reichliche Grundbesitzausstattung Corbies gesorgt! Fast zwei Dutzend Mal wurde die schon lange Zeit umstrittene Urkunde kopiert und gedruckt [vgl. Kölzer, 221 f.]; sie gilt heute bei Faußner ebenso gefälscht, wie beim Herausgeber der (Merowinger-)Urkunden Kölzer.

Damit landen wir bei altbekannten Befunden: die Gründung bzw. Schenkung durch eine ebenso fiktive, wie fromme und großzügige Dame sollte das Dotationsgut des Klosters nach 1122 – dem Wormser Konkordat – vor Vogtzugriff schützen; zudem weist die Bestätigung durch Chlothar III. das Kloster als Königskloster aus.

Man darf sich – nebenbei bemerkt – über Wikipedia wundern, die von der Echtheit dieser Urkunde ausgeht. Schließlich ist Kölzer ein renommierter Mann der Zunft, er ist der Merowingerspezialist und hat seinen Befund 2001 veröffentlicht. Vermutlich legten sich die Verantwortlichen die alte Ausrede zurecht, dass doch ein wahrer Kern in der Sache stecke, wie angeblich bei allen Lügen/Legenden; deshalb müsse man nicht gleich die grandiose Geschichte samt des stattlichen Alters dieses Klosters bezweifeln. Wir erlauben uns aber zu folgern: Bei gefälschter Gründungsurkunde ist auch die Gründung zum postulierten Zeitpunkt nicht erfolgt; es sei denn, dass archäologische und sonstige Befunde dem Kloster dieses Alter bestätigen würden.

Bevor wir diese Frage nach materiellen Resten prüfen, gilt es noch einen Blick auf weitere Daten und Urkunden zu werfen, die selbstverständlich in einem trüben Licht erscheinen, denn Faußner [2003; 22 f.] hat sie alle längst in die Wibald-Fälschungen eingereiht. Wibalds Datenbasis für ein merowingisches Corbie scheint zunächst nicht sehr solide; es besteht der Verdacht, dass er sie selbst erst erschaffen musste.

657: Zu dieser Zeit werden in der nicht gegründeten Abtei zwei Kirchen gebaut: St. Pierre und St. Etienne [Grenier 21 f.].

661 (?): Der zehnjährige Chlothar III. befreit das fiktive Corbie von Zöllen und Wegegeldern. [Kölzer Nr. 96] Kölzer hält wunderlicherweise diese Urkunde wieder für echt (oder für noch nicht gefälscht). Krusch hielt sie ursprünglich auch für gefälscht, lenkte aber ein [ebd., 247] Faußner ist da konsequent: alles Wibald!

Die Urkundenreihe mit ihren durchsichtigen Inhalten und Absichten setzt sich um 700 fort mit einer Ganzfälschung: [ebd., 289 f.]

“Theuderich III. bestätigt den Mönchen von Corbie nach dem Tod des vom Vorgänger eingesetzten Abts Chrodegarius die Wahl des Erembert.” [ebd., Nr. 113]:

Bei der nächsten Urkunde ist sich wiederum die Zunft außer Faußner einig; alles echt und über jeden Zweifel erhaben: [ebd., 424]

“Chilperich II. bestätigt [716] dem Kloster Corbie Urkunden Chlothars III. und Childerichs II. bezüglich der Zolleinkünfte in Fos und einer Tractoria für die klösterlichen missi.” [ebd., Nr. 171]

Und so weiter und so fort: 769 bestätigt Karl der Große dem Kloster die Immunität [Mühlbacher Nr. 57]. 815 bestätigt Ludwig der Fromme die Immunitätsbestätigung Karls des Großen [Böhmer Nr. 571]. Einige Zeit später gewährt er Schutz und Trutz und Gütertausch [ebd., Nr. 820]. Außerdem:

“881 wurde die Abtei Corbie von den Wikingern zerstört, aber wieder aufgebaut; sie erfreute sich weiter königlicher Privilegierung, erreichte jedoch nicht mehr eine so große politische und kulturelle Bedeutung wie in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts.” [wiki →Corbie]

Dieser letztgenannte Befund müsste jeden Archäologen reizen, bräuchte er doch nur den Spaten anzusetzen, um bald auf die angekokelten Reste zweier merowingischer Kirchen und eines ganzen Klosterkomplexes zu stoßen, der seinerzeit eine große politische und kulturelle Bedeutung hatte. Gut 200 Jahre hatte das Kloster Zeit, auf der ökonomischen Grundlage von mindestens 1000 Bauernhöfen Grandioses aufzubauen,. Eine merowingisch-karolingische Ausgrabungssensation würde die nächste jagen! Doch scheint sich noch niemand dieser Entdeckerfreude hingegeben zu haben, denn von derartigen Bemühungen und Relikten ist in der uns erreichbaren Literatur nicht die Rede.

Den uns vorliegenden Werken [Héliot, Grenier] ist kein Hinweis darauf zu entnehmen, auch nicht entsprechenden Kunstführern. Dort ist nur jeweils von den schriftlichen Fakten die Rede. Die heute dort anzutreffende Kathedrale mutet gotisch an, sie ist aber im nachgotischen Stil zwischen 1500 und 1800  errichtet und im 19. Jh. auf die Hälfte gekürzt worden. (Auf der geräumten Hälfte ließe sich trefflich graben; siehe z.B. Saint-Germain d’Auxerre!).

Kathedrale, Bildquelle: wikipedia

Kathedrale, Bildquelle: wikipedia

Für 1052 werden Renovierungsarbeiten vermeldet [Héliot, 19]; vermutlich ist ein erster Bau im 10. Jh. entstanden. Im Museum von Amiens finden sich  als alte (älteste?) Reste aus dem Kloster einige romanische Kapitelle, die – wie die Abbildung zeigt – aus dem 12. Jh. stammen dürften..

Kapitelle, Bildquelle: wikipedia

Kapitelle, Bildquelle: wikipedia

Wir dürfen also festhalten, ein Mutterkloster von Corvey namens Corbie hat es im siebten, achten oder 9. Jahrhundert allem Anschein nach nicht gegeben: die Urkunden sind gefälscht, materielle Reste nicht vorhanden. Die heutige Städtepartnerschaft Höxter-Corbie kann sich nicht mehr auf Verbindungen der Merowingerzeit berufen.

Faußner macht für diese Erfindungen Wibald verantwortlich; der hat nicht nur Corvey aus Corbie heraus entstehen lassen, sondern er musste auch noch das merowingische Corbie erschaffen. Zunächst ist nicht zu klären, ob er als Hilfe gegen den rabiaten Boyneburg alles in einem Aufwasch erfand, oder ob er Corbie schon früher bei anderer Gelegenheit in ein merowingisches Königskloster verwandelte, das – als Stiftung einer Frau und erlauchten Herrschern samt Großkarl – mit zahlreichen Privilegien ausgestattet wurde. Hier wie dort war alles wasserdicht: Kein subalterner Adeliger konnte in Corbie oder Corvey dazwischenregieren und Ressourcen aus dem Kloster pressen und der Graf Boyneburg hatte zu Corvey offensichtlich das Nachsehen.

Wibald hatte bei seiner Beratertätigkeit auch noch die brilliante Idee, dieses von ihm erfundene Merowingerkloster Corbie dem Kloster zu Huxori/Höxter (wie holprig das klingt!) den heute verwendeten, für uns eher poetisch-exotisch anmutenden Namen schenken zu lassen: Aus Corbeia nova, wurde Neu-Corbie, Korvei, Corvei und Corvey!

Und wie es bei Wibald immer so ist, die Geschichte wird nicht nur in einigen Urkunden entfaltet, sondern breit angelegt, vernetzt mit allerlei nützlichen ‘Gschichterln’, rundum plausibilisiert und verlebendigt.

So lässt er beispielsweise in seiner Vita Sancti Ansgari einen Jungen namens Ansgar in Corbie aufwachsen der dann, von Visionen getrieben, über Corvey gehend und dort eine Schule gründend, eine segensreiche Missionstätigkeit in Norddeutschland und den skandinavischen Ländern entfaltet, zu Ruhm und Ehre von Corbie und Corvey!

Leider brachte er es nur bis zum Sumpfbischof von Hamburg und Bremen und das deshalb, weil seine Wirkungsstätten und die dort vermuteten Kirchengebäude zu damaliger Zeit noch Sumpf oder Ödland waren. Alle archäologischen Bemühungen haben an diesen und ähnlich gelagerten Fällen und Orten kärgliche bis gar keine Spuren zutage gebracht, obwohl Ansgar in Bremen sogar eine Steinkirche bauen ließ und in Hamburg die Wikinger netterweise die hölzerne Basilika abfackelten, und auf diese Weise Überreste konservierten. Dennoch haben die Archäologen bisher keinen Erfolg! Das frustriert einerseits geschichtsbewusste Lokalpolitiker, andererseits werden dadurch die wenigen Arbeitsplätze in der Archäologie gesichert, muss man doch an anderen Orten versuchen, die Reste endlich zu finden, die uns die heiligen Urkunden und sonstigen Schriften verheißen. Man könnte fast Mitleid mit Hamburg haben,  das fast verzweifelt die Reste seiner Hammaburg gesucht hat; von Münster und seinem Sumpfbischof Liudger gar nicht zu reden! [Thiel 2005; Illig 2007a]

Die Hoffnung stirbt zuletzt und bis dahin können die Klöster Corbie und Corvey offiziell weiter mit frühem Ruhm glänzen wovon alle etwas zu haben scheinen: Corbie und Corvey brüsten sich der Merowinger, Karolinger und ihrer großen adeligen Männer und Frauen, samt Bibliotheken, Skriptorien, neuer Schrifttypen (karolingische Minuskel) die Hamburger dürfen weiterhin optimistisch buddeln, und Skandinavien darf sich freuen, schon sehr früh zivilisiert bzw. christianisiert worden zu sein, wenn auch mit Widerständen. Somit wäre alles in schönster Ordnung; nur die Wahrheit bleibt auf der Strecke. Wir wollen ihr hiermit wieder aufgeholfen haben, damit sie ein Stück weiter vorwärtstaumeln kann.

So könnte man das Kapitel hier analog zu anderen Fälschungsgeschichten abschließen. Aber es gilt noch über einen interessanten Verdacht zu berichten. Denn Wibald ließ sich neben Ansgar noch andere edle Männer für Corbie einfallen, wie die mit Karl dem Großen verwandten Äbte Adalhard (780-826) und Wala (826-836) und – vielleicht auch Paschasius Radbertus? Wir berichten vorsichtig über einen Verdacht, der sich aufdrängt.

Corbie ein Fälschernest der Extraklasse und wieder Wibald?

Mit Corbie und diesem seinem Abt Radbertus hat es eine besondere Bewandtnis, wie aus der Zunft verlautet [wiki ADB →Radbertus]:

“Radbertus: (Paschasius) R., Abt von Corbie. R. wurde, wir wissen nicht in welchem Jahre, etwa gegen Ende des 8. Jahrhunderts geboren. Unbekannt ist auch der Ort seiner Geburt, die seiner Mutter das Leben kostete. Von den Benedictinerinnen [!] bei der Kirche der hl. Maria zu Soissons, wo wir also vielleicht seine Heimath zu suchen haben, wurde der verwaiste Knabe aufgezogen und dem Mönchsstande früh geweiht. In das Kloster Corbie unter dem Abte Adalhard, dem Vetter Karl’s des Großen, trat er ein und erwarb unter diesem, einem Freunde Alkuin’s als seinem Lehrer eine sehr ausgedehnte classische Bildung. Mit Cicero, Horaz, Terenz, Vergil und den christlichen Dichtern wurde er wohlvertraut, aber die edle Einfalt der Alten blieb ihm fremd,  wenn er auch viel Werth auf die Form legte, er liebte einen dunkeln, weitschweifigen und überladenen Stil.”

Es ist hier nicht nur von Benediktinern [vgl. Illig 1993] die Rede, sondern gar schon von Benediktinerinnen, die ja von der Schwester des – fiktiven – Benedikt von Nursia mit dem treffenden Namen Scholastika gegründet worden sein sollen. Immerhin erwähnt auch schon die Wikipedia:

“einige Forscher gehen aufgrund des Fehlens zeitgenössischer Nachrichten sogar davon aus, dass es Benedikt niemals gegeben habe.”

(Wurde etwa Wibald während seiner kurzen Amtszeit im Kloster Cassino dazu inspiriert, die Benedikt-von-Nursia-Scholastika-Geschichte zu erfinden, um für seine für frühe Zeiten erfundenen Klöster ein Besetzung präsentieren zu können?)

Liebhabern Wibalds von Stablo dürften die Stilcharakteristika des Radbertus vertraut sein: dunkel, weitschweifig und überladen und durchsetzt mit “classischer Bildung”; das war eben auch sein Stil unter anderen.

“Nach neuesten Forschungsergebnissen des Mediävisten Klaus Zechiel-Eckes war Paschasius Radbertus außerdem Verfasser der Pseudoisidorischen Dekretalen, eine Fälschung, die der Historiker Johannes Haller als den “größten Betrug der Weltgeschichte” bezeichnet hat” [wiki →Corbie].

Der Verdacht trifft Radbertus, weil er offensichtlich u.a. Handschriften aus Corbie als einige seiner zahlreichen Vorlagen verwendete; Klaus Zechiel-Eckes gelang die:

“Entdeckung der nach einhelliger Ansicht früher zur Bibliothek des Klosters Corbie am Nordufer der Somme unweit des Reimser Suffraganbistums Amiens gehörigen Handschriften Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek lat. F. v. I. 11 (Cassiodor, Historia tripartita, geschrieben zwischen 814 und 821) und Paris, Bibliothèque nationale lat. 11611 (Akten von Chalcedon in der Bearbeitung des Rusticus, erstes Viertel neuntes Jahrhundert) als unmittelbare Arbeitshandschriften, auf die Pseudoisidor zugegriffen hat, um seinem Fälschungskomplex Exzerpte einzuverleiben” [Koebler].

Bei Faußner [2006; S. 208 f] sind zwar nur die Bild-Handschriften der russischen Nationalbibliothek lat. F. v. I. 8 und lat. Q.v.I.13, 14 und 21 als von Wibald für Corbie aufgeführt und statt wie dort Paris, Bibliothèque nationale lat. 11611 die Handschriften mit den Endnummern lat. 13170, 12050, 12051, 11627, u.a. Aber es darf  vermutet werden, dass eben noch weitere Handschriften aus dem Besitz des russischen Gesandtschaftssekretärs Dubrowski aus Corbie und damit von Wibald aus dem 12. Jh. stammen, ebensolche wie die der Nationalbibliothek in Paris.

Wibald gerät also über das von ihm (mit-)konzipierte frühmittelalterliche Corbie in den Dunstkreis der größten Fälschung des Mittelalters bzw. der Weltgeschichte, wenn er nicht gar mittendrin steckt! In Corbie lagerten Bild-Handschriften die ihm Faußner zuschreibt zusammen mit Vorlagen für Pseudoisidorische Dekretale, die Radbertus verwendete. Und es ist schwer  vorstellbar, dass dieser Paschasius Radbertus keine Wibald-Erfindung sein soll, wenn die illustre Reihe der Vorläufer-Äbte auch von ihm stammt.

Und könnte man einem Mann (samt Atelier), der 6.000 Königsurkunden konzipieren kann, nicht auch zutrauen, über die mentalen und materiellen Fertigungskapazitäten für zumindest einen Teil der 10.000 Pseudoisidorien-Dokumente verfügt zu haben; wobei man sich Wibald auch nur als Berater und Inspirator vorstellen könnte, der sein Fälschungswissen bedrängten Klöstern zur Verfügung stellte? Zukünftige Forschungen werden das hoffentlich klären. Wir halten zumindest die Spur Corvey-Corbie-Pseudoisidor für eine heiße, die in Richtung Wibald zeigt. Welcher Detektiv wird ihr folgen?

Wibald, Corbie-Corvey und überhaupt…

Wibald überrascht also immer wieder, auch wenn man sich an ihm vorbeidrücken will, um das Wibald-Syndrom klein zu halten! So fragen sich die Skeptiker unter den Zeitenspringern samt Verfasser immer wieder [vgl. u.a. Illig 2007b]: Kann das der Wibald wirklich alles geschaffen, bzw. veranlasst haben, auch wenn er über sein großes Atelier, sein brilliantes Talent, sowie über Macht, Einfluss und Überblick verfügte? Nein sagt man sich und stolpert prompt in die oben geschilderten Zusammenhänge hinein. Wibald-Fälschungen scheinen das 12. Jh. zu durchziehen, wie die Mykhorrizza den Waldboden. Weiter stolpert man über den Autor Helmut Wiesemeyer, der sich ausführlich mit den Verbindungen von Corbie-Corvey befasste und vernimmt neuerlich Staunenswertes über den großen Wibald. Denn Wiesemeyer, der keinerlei Fälschungsverdacht gegen irgendwen zu hegen scheint, legt die geistigen Befruchtungen dar, die von Corbie nach Corvey und zurück liefen, von Ansgar bis u.a. zu Widukind, und bestätigt – ungewollt – Verdachtsmomente gegen Wibald:

“Im Werke Widukinds, des bedeutendsten Geschichtsschreibers, den die mittelalterliche Corveyer Klosterschule aufzuweisen hat, wird jedoch noch einmal die besondere Verwurzelung Corveys in älteren geistigen Schichten, d.h. im karolingischen und Alt-Corbier Überlieferungsbereich, deutlich.” [Wiesemeyer 278; Hvhg. im Original gesperrt]

So hätten Autoren überraschenderweise festgestellt, [ebd., 278 f.]

“daß Widukind in seiner Reichsvolk-Theorie, in der Rechtfertigung des Dynastie-Wechsels, im Problem der translatio imperii, in der fränkischen und sächsischen Abstammmungstheorie, also in vielen Einzelheiten der Schemata seines Geschichts- und Staatsdenkens, als Geistesverwandter Einhards, des Biographen Karls d. Großen, anzusprechen ist und daß diese Tatsache mehr voraussetzt als eine nur zufällige Einhard-Überlieferung in Corvey, nämliche eine »tiefere Wahlverwandtschaft«.”

Das ist eine schöne Bestätigung der These Faußners, der die tiefere Wahlverwandschaft schlicht dadurch erklärt, dass Widukind und Einhard von demselben Autor stammen, von Wibald! (Nebenbei bemerkt, sind das die Hinweise auf innere Zusammenhänge von Wibald-Fälschungsprodukten, von denen wir uns aus der Feder von Faußner mehr wünschen würden!)

Etwas später im Text kommt dann Wiesemeyer auf Wibald selbst zu sprechen, der Corvey ein letztes, glänzendes Aufleuchten beschert habe. Sein Lieblingsschriftsteller sei Cicero gewesen; er habe in einem Brief an Manegold, wo es um Lesen und um Bildung geht, geschrieben:

Es gibt auch eine gewisse Habgier in der Wissenschaft, mit welcher auch unsere ersten Eltern versucht wurden […] Man lernt vieles, nicht […] um besser, sondern um stolzer zu werden.” [ebd., 280 f.]

Diese Briefstelle Wibalds kommentiert nun Wiesemeyer wie folgt:

“Diese Worte zeigen genau jene discretio, die Paschasius Radbertus und der Translatio-Sancti-Viti-Autor schon an Corveys Gründer Adelhard gerühmt haben.”

Wiesemeyer spürt interessanterweise – wieder Faußner bestätigend – auch hier die Verwandtschaft des Geistes, die daher rührt, dass alles von Wibald erfunden ist. Aber nun kommt eine kühne Volte, die eine noch nicht bekannte Seite Wibalds beleuchtet:

“. . . so zeigt uns eine Stelle aus einem auch für die Bibliothek aufschlussreichen Brief Wibalds an den ihm befreundeten Erzbischof Hartwig von Bremen Wibald als echten Humanisten” [ebd. 281].

In dem Brief wird geschildert, wie vergnüglich es doch sei, in Frieden, Ruhe und Muße, gemeinsam Bücher und handschriftliche Papiere zu lesen, die man aus Schränken und Truhen aufstöbert. Wiesemeyer fühlt sich dabei

“in die Blütezeit des Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert versetzt. Ähnliche Belege für derartiges humanistisches Denken und Empfinden sind im Hochmittelalter nicht gerade häufig. Während die erstgenannte Briefstelle Wibald geistig in die Nähe des Adelhard und des Paschasius Radbertus [!] rückt, so könnte man auf Grund der zweiten Briefstelle Wibald von Stablo und Corvey als einen der Ahnherren des Renaissance-Humanismus in Anspruch nehmen.” [ebd., 281]

Wibald der Große umspannt danach also sieben Jahrhunderte mit seinem Denken und Fühlen, wobei nicht vergessen werden darf, dass er natürlich auch mit prominenten Zeitgenossen in geistigem Austausch stand wie: Anselm von Laon, Wilhelm von Champeaux, einem Freund des Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Victor, Alberich von Reims.

Die Geistesverwandtschaft mit der Vergangenheit ist erklärbar, da er diese Vergangenheit selbst mit geschaffen/erfunden hat. Aber der Ausreißer in den Humanismus ist doch erstaunlich! Oder ist doch nicht alles Wibald? Hat ein Humanisten-Wibald die schon umfangreichen Werke des Mittelalter-Wibald aus dem 12. Jh. bereichert? Denkt man daran, dass Faußner dem Wibald die Hrotsvith von Gandersheim zuschreibt, Tamerl hingegen der Caritas Pirckheimer, eingefädelt von Conrad Celtis, hätte man ein weitere Verbindung Wibald-Humanismus? Vielleicht reicherte das Team Celtis/Pirckheimer die Schriften des Teams Wibald/Hrotsvith nur an? Aber das ist ein weites Feld und Thema für weitere Ermittlungen. Zumindest ist der Autor – wie bereits früher geäußert [s. Anwander] – nicht der Ansicht, dass Wibald eine reine Humanismus-Schöpfung ist, dazu ist das 12. Jh. zu reichhaltig belegt und nicht nur dank der – zum Teil gefälschten – Schriftquellen; ganz abgesehen davon, dass Wibalds Abtswohnung in Corvey als nachgewiesen gilt [Claussen].

Wiesemeyer betont noch begrüßenswerterweise die deutsch-französischen Kulturverbindungen, die von Corbie-Corvey ausgehend, sich durchs Mittelalter bis in die Gegenwart ziehen. Abschließend folgen wir der Einschätzung dieses Autors, wenn er von Wibald sagt: “Einen so universalen Kopf wie Wibald hat Corvey und seine Klosterschule in der Folgezeit, die ein stetes Absinken des Niveaus bringt, nicht mehr aufzuweisen” [ebd. 282].

Kleines Geschenk für den Leser

Sollte der verehrte Leser inzwischen Wibald-Verehrer geworden sein, so sehen wir uns in der glücklichen Lage, ihm endlich ein Originalportrait präsentieren zu können, das wir nach langen, umfangreichen und kostspieligen Recherchen aufspüren konnten. Das Bildnis gibt es bislang noch nicht bei Google-Bilder, und ist selbstverständlich ebenso authentisch wie Dürers Portrait Karls des Großen.

Original- und Idealporträt Wibalds, Bildquelle Bastin

"ideales Originalporträt" Wilbalds, Bildquelle Bastin

Literatur

Anwander, Gerhard (207): Auf den Spuren der Germania und anderer Fälschungen; in Zeitensprünge 19 (2) 413-442

Bastin, Joseph (1931): Wibald, Abbé de Stavelot et Malmedy, du Mont-Cassin et de Corbie. Verviers

Böhmer, J.F. (1966): Regesta Imperii. I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918; Hildesheim

Claussen, Hilde (1996): Zum Abtshaus des Wibald von Stablo im Kloster Corvey. In Sennhauser; Hans Rudolf: Wohn- und Wirtschaftsbauten frühmittelalterlicher Klöster; Zürich. 27-31

Faußner, Hans Constantin (2003): Wibald von Stablo. I, 3. Die Urkunden für Empfänger in Frankreich, Burgund und im Deutschen Reich. Hildesheim

– (2006): Wibald von Stablo. II, 1. Seine illuminierten liturgischen Prachthandschriften, ihre Provenienzen und deren Kirchenpatrozinien; ein Überblick aus rechtshistorischer Sicht. Hildesheim

– (2008): Wibald von Stablo. II, 2. Hildesheim

Grenier, Pierre Nicolas (1910): Histoire de la ville et du comté de Corbie des origines à 1400. Amiens

Héliot, Pierre (1957): L’Abbaye de Corbie, ses églises et ses bâtiments; Louvain

Illig, Heribert (1993): Das Ende des Hl. Benedikt? Der andere »Vater des Abendlandes« wird auch fiktiv; in Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart 5 (2) 023-028

– (2007a): Die Misere der Mittelalter-Archäologie. Hamburg-Ingolstadt-Münster; in Zeitensprünge 19 (1) 213-223

– (2007b): Arbeitsentlastung für Wibald. Eine Wandlung der These von Hans Constantin Faußner; in Zeitensprünge 19 (1) 407-412

Illig, Heribert et al. (2008): Funde aus dem Frühmittelalter: In Zeitensprünge 20 (2) 419-423

Koebler=http://www.koebler.de/

MGH=http://www.dmgh.de/ (Urkunden der MGH)

Kölzer, Theo (2001): Die Urkunden der Merowinger. Hannover

Michelin= Reiseführer Michelin Nordfrankreich. Umgebung von Paris (1997); Clermont-Ferrand

Mühlbacher, Engelbert (1956): Die Urkunden der Karolinger. Erster Band. Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen; Berlin

Tamerl, Alfred (1999): Hrotsvith von Gandersheim; eine Entmystifizierung. Gräfelfing

Thiel, Werner (2005): Schliemanns Fluch oder das wundersame Verschwinden des Münsteraner Bistumsgründers; in Zeitensprünge 17 (1) 36-45 u. 17 (2) 405-419

Völkerw. = http://www.mittelalter-genealogie.de/_voelkerwanderung/ b/bathilde_koenigin_680/bathilde_frankenkoenigin_um_680.html; darin Bezug auf Martina Hartmann (2003): Aufbruch ins Mittelalter. Die Zeit der Merowinger; Darmstadt

Wiesemeyer, Helmut (1963): Corbie und die Entwicklung der Corveyer Klosterschule vom 9. bis 12. Jahrhundert; in: Westfälische Zeitschrift, Nr. 113. Münster; S. 245-274

Wikipedia →Corbie.→Radbertus