Gefunden im Wissenschaftsteil der Neuen Osnabrücker Zeitung

von Jan Beaufort

Eine in ihrer Abwegigkeit fast gespenstisch wirkende Kritik der Phantomzeitthese hat sich vor einiger Zeit die Online-Ausgabe der Neuen Osnabrücker Zeitung erlaubt. Der betreffende Artikel eines anonymen Autors (der sich nicht einmal mit einem Kürzel zu erkennen gibt) trägt den Titel Karl der Große nur erfunden? sowie den irreführenden Subtitel Die bizarre Phantomzeit-Theorie stellt das Mittelalter auf den Kopf. Der Beitrag erschien in der Reihe Ach So!, die vom gleichermaßen anonym bleibenden Herausgeber vorgestellt wird mit den Worten “Gibt es eigentlich eine Westsee? Kuriose Themen: Unsere Serie ‘Ach So!’ erklärt Ihnen Dinge, die Sie vielleicht schon immer wissen wollten”. Die Serie selbst findet sich im Wissenschaftsteil der Zeitung (Gut zu wissen), hat also durchaus den Anspruch, sachlich über wissenschaftliche Themen und Entwicklungen zu informieren.

Wie es um die Sachlichkeit der Berichterstattung im Artikel steht, werden wir gleich unten sehen. Zunächst einmal sei hier der Grund erwähnt, weshalb er auf unserer Homepage überhaupt kommentiert wird. Denn der Autor leistet sich etwas, was einige von uns zwar des öfteren mündlich erleben mussten (siehe z. B. hier und ausführlicher in Illig (2006)), in Schriftform aber Seltenheitswert haben dürfte: er psychiatrisiert uns. Und es hat, bei aller Traurigkeit der offenbaren Entfremdung, die die FZT gelegentlich zwischen Menschen bewirkt, durchaus etwas Belustigendes, sich diesen Zerrspiegel einmal vorzuhalten. Der Autor schreibt nämlich, nachdem er klargestellt hat, dass wir Verschwörungstheoretiker seien:

Verschwörungstheorien sind enge Verwandte des Verfolgungswahns. Nach Ansicht von Psychologen sind Personen, die sich in der Welt hilf- und machtlos fühlen, besonders anfällig für Verschwörungstheorien. Sie tendieren dazu, überall neue Muster und Verbindungen zu sehen – auch dort, wo es gar keine gibt..Kontrollverlust wird von der Psyche als extrem starke Bedrohung wahrgenommen. Der energische Versuch, die Kontrolle wiederherzustellen, kann auch die Wahrnehmung der Realität schwer verzerren. Und das kann dann so weit gehen, dass man glaubt, irgendeinen Tag habe es gar nicht gegeben. Oder auch den ganzen Monat und das Jahr nicht und das Jahrzehnt und das Jahrhundert.

Nun wird es unter den Anhängern der Illig-These bestimmt einige geben, die sich “in der Welt hilf- und machtlos fühlen” – wobei nicht ganz einleuchtet, warum sie dieser Umstand allein schon zum Vertreter der These machen würde. Aber wer etwa durch Zeitensprünge-Treffen in der Gelegenheit war, Autoren und Abonnenten der Zeitschrift näher kennen zu lernen, schlägt sich bei diesem Satz auf die Schenkel vor Lachen. Und liest er dann weiter, wird er kaum noch an sich halten können: Unsere als Folge des Kontrollverlusts schwer verzerrte Realitätswahrnehmung habe dazu geführt, dass wir nunmehr glauben, “irgendeinen Tag habe es gar nicht gegeben”. Irgendeinen! Und weil wir mit der Spinnerei nicht aufgehört haben, wurde aus diesem Tag zuerst ein Monat, dann ein Jahr, dann ein Jahrzehnt und schließlich mehrere Jahrhunderte … So stellt sich unser verehrter Anonymus die Entstehung der Phantomzeitthese vor …

Man könnte meinen, dass ein Autor, der sich – wie immer anonym – derart weit aus dem Fenster lehnt, wenigstens gründlich über die These informiert wäre, über die er so unbekümmert den Stab bricht. Doch weit gefehlt. Der Artikel ist eine einzige Aneinanderreihung von Missverständnissen und Fehlern. Ganz offensichtlich hat der Autor noch nie eine Zeile von Illig gelesen, geschweige denn verstanden. Stattdessen beruft er sich auf ein in der Wikipedia falsch wiedergegebenes Zitat von Prof. Borgolte, nach dem Illig ein “Sektenführer” wäre. (Borgolte hat zwar etwas vergleichbar Dummes gesagt, aber das Wort “Sektenführer” ist ihm nicht über die Lippen gekommen. Siehe dazu ausführlich Illig in Wikipedia und die Wahrheit.) Sich blind auf Borgoltes Einschätzung verlassend, holt unser Anonymus dann im oben angeführten letzten Absatz seines Beitrags ohne weitere Zurückhaltung gegen uns aus.

Weil wir hier den häufig auftretenden, also typischen Fall einer Verbindung von vollkommener Ahnungslosigkeit mit bedenkenloser Aburteilung vor uns haben, sei der NOZ-Artikel im Folgenden zur Gänze exemplarisch kommentiert.

Schon der Subtitel trifft die Sache nicht, wie wir oben gesehen haben. Ähnlich ungenau und mindestens zweideutig sind die fett gedruckten einführenden Zeilen, die unser Anliegen zusammenfassen sollen:

Osnabrück. Am 1. Mai 712 war das finstere Mittelalter noch finsterer als ohnehin schon. Diesen Tag gab es nämlich gar nicht. Mehr noch: Es gab auch den Monat und das Jahr nicht, genauso das Jahrzehnt und das ganze Jahrhundert. Das zumindest glauben die Anhänger der Theorie vom erfundenen Mittelalter, auch Phantomzeit-Theorie (oder PHZ) genannt.

Das “glauben” ist zwar nicht ganz falsch, erweckt hier aber den Eindruck, dass wir kritiklos irgendwelchen Dogmen anhängen würden – ganz im Sinne der Tendenz des Artikels, der uns das wissenschaftlich-methodische Interesse und Vorgehen absprechen möchte. Korrekt wäre gewesen: Wir halten auf Grund zahlreicher Indizien die Phantomzeitthese für plausibel. Wir verlassen mitnichten den Boden historischer Wissenschaft, in der absolute Sicherheit nun mal nicht zu haben ist. Letzteres gilt für die Phantomzeitthese nicht weniger und nicht mehr als für die Theorie eines real existierenden Frühmittelalters.

Seltsam ist weiter die angegebene Abkürzung “PHZ” für “Phantomzeit-Theorie”. Gleich wie man abkürzt – ob PhZT, PZT, FZT oder ähnlich -, normalerweise ist immer das “T” als Abkürzung von “Theorie” oder “These” mit dabei. Ich kenne nur eine Quelle, die das anders handhabt, und das ist eine ältere Version des Wikipedia-Artikels Erfundenes Mittelalter (zuletzt, so weit ich sehe, am 28. Februar 2010). Die Wikipedia scheint ohnehin die einzige Quelle zu sein, die der Autor benutzt hat. Wie wir oben gesehen haben und hier bestätigt bekommen, erfindet die Wikipedia ihr Wissen über die FZT aber teilweise selbst; entsprechend desinformiert ist dann natürlich auch der NOZ-Autor.

Sie meinen es absolut nicht als Scherz, wenn sie sagen, dass gut 300 Jahre erfunden seien. Konkret soll auf das Jahr 614 das Jahr 911 gefolgt sein. Urheber der Theorie ist Heribert Illig (*1947), der zwar sicher besser rechnen kann, als man jetzt vielleicht denkt, aber von anderen Mittelalterforschern wie dem Mediävisten Michael Borgolte abschätzig als „Sektenführer“ tituliert wird.

Was gut oder nicht gut rechnen können mit dem Titel “Sektenführer'” zu tun hat, wüßte auf Nachfrage vermutlich nicht mal unser Autor, der hier sinnfrei Bezüge herstellt. Zum Thema “Sektenführer” ist oben das Wichtigste schon gesagt worden. Hier vielleicht noch dieses: Andere, objektiver Urteilende, sprechen inzwischen – obwohl gewiss keine Anhänger der FZT – von der Heinsohn-Illig’schen Schule. Hätte Illig irgendwo einen Lehrstuhl, wäre das auch gar kein Thema. Professor Borgoltes Thesen finden vermutlich ebenfalls Anhänger, aber deshalb ist er noch lange kein Sektenführer. Und traditionelle Mediävisten schließen nach außen die Reihen gegen uns, obwohl es im Innern brodelt; eine “pseudoreligiöse Gemeinde” mit “Sektencharakter” (so das wirkliche Borgolte-Zitat über die Vertreter der FZT) bilden sie trotzdem nicht.

Illigs Theorie geht so: Die Kalenderreform durch Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 sei aus rätselhaften Gründen extrem fehlerhaft durchgeführt worden.

Dieser Satz offenbart ein totales Missverstehen des Illig’schen Anliegens, ist aber leider nicht untypisch für die Art, wie stärker vorurteilsbehaftete Kritiker Illig begegnen. Die gregorianische Kalenderreform ist selbstverständlich keineswegs “extrem fehlerhaft” durchgeführt worden, sie ist im Gegenteil ein genialer Wurf gewesen. Wer sich ein wenig eingehender mit den Problemen befasst, vor die sich die Kalenderreformer gestellt sahen, kann nicht anders als staunen über Konzeption und Erfolg dieses großartigen Werkes. Das wird von Illig überhaupt nicht in Frage gestellt. (Siehe dazu etwa die Beiträge von Ulrich Voigt in Zeitensprünge 02/2005 und von Werner Frank in Zeitensprünge 02/2010.)

Worum es Illig wirklich geht: Gerade das Gelingen der Kalenderreform durch Gregor bringt eine Merkwürdigkeit ans Licht, über die bis vor kurzem viel zu wenig nachgedacht worden ist. Die 10-Tage-Korrektur, die den astronomischen Frühlingsanfang wieder auf den 21. März gesetzt hat, führt rechnerisch zurück auf das 3. Jh. n. Chr. und nicht auf die Zeit Caesars. Sie korrigiert aber den von Caesar im 1. Jh. v. Chr. eingeführten Julianischen Kalender. Das stellt unter anderem die nicht leicht zu beantwortende Frage, mit welchem Kalenderdatum denn der astronomische Frühlingsanfang (das Frühlingsäquinoktium) im ersten vorchristlichen Jahrhundert zusammen fiel. Indizien und plausibel erscheinende Überlegungen sprechen dafür, dass das der 21. März gewesen sein muss. Dann aber können zwischen Caesar und Gregor XIII. nur ca. 13 und nicht 16 Jahrhunderte vergangen sein. (Neben zahlreichen weiteren Publikationen zu diesem Thema empfiehlt sich die Lektüre des eben genannten aktuellen Beitrags von Prof. Frank sowie des hier auf fantomzeit.de veröffentlichten Artikels Zwischen den Kalenderreformen von Cäsar und Gregor XIII. liegen nur 1.330 Jahre von Heribert Illig.)

Illig entwickelt daraus die Theorie der fehlenden Jahrhunderte. Genau genommen will er als Differenzzeit genau 297 Jahre berechnet haben, es handele sich um den Zeitraum von September 614 bis August 911.

Auch dieser Satz enthält einen Fehler, denn Illig ist mit Sicherheit nicht durch bloße Berechnung auf die Differenzzeit von 297 Jahren gekommen. Bloßes Rechnen führt auf eine Zeitspanne von 345 ± 64 Jahren (siehe zum Beispiel den eben genannten Illig-Aufsatz). Erst weitere Überlegungen bewogen Illig zur Annahme einer Phantomzeit von 297 Jahren (siehe dazu Frage 12 der FAQ zur Phantomzeitthese).

Geschichtsschreiber sollen sich alle Ereignisse dieser Jahrhunderte später praktisch aus den Fingern gesogen haben, etwa Leben und Wirken Karls des Großen. Alles erfunden?

Die rhetorische Frage suggeriert, dass Illig pauschal behaupten würde, sämtliche Ereignisse der fiktiven Jahrhunderte seien selbst ebenfalls erfunden. So einfach liegen die Dinge aber nicht. Vielfach haben so genannte Karolingisierungen stattgefunden, das heißt nachträgliches Hineindatieren von früheren und späteren Ereignissen, Schriftquellen, Bauten und anderen materiellen Überresten in die Phantomzeit. Aufgabe einer von der FZT geleiteten Forschung ist die Entkarolingisierung solcherart fehldatierter Ereignisse und Überreste; diese sind wieder in ihren ursprünglichen temporalen und anderweitigen Kontext zu verbringen (zum Beispiel für den Aachener Dom gezeigt durch Illig und für die Karlsmünzen durch Gunnar Heinsohn).

Die Geschichtswissenschaft betrachtet die These des erfundenen Mittelalters als absurd. Sie ist einfach zu leicht zu widerlegen.

Die These wäre also leicht zu widerlegen. Sie ist wohl so leicht zu widerlegen, dass Mediävisten es bis heute nicht für nötig gehalten haben, es dann auch tatsächlich zu tun. Denn mehr als einige kaum hilfreiche Diskussionsbeiträge, für die das Wort “Widerlegung” nun wirklich zu viel der Ehre wäre, ist von Seiten der Mediävistik bislang nicht gekommen. Die bisherigen Beiträge schwanken zwischen tiefster Verwirrung und Empörung auf der einen Seite bis hin zum arroganten, von einer völligen Fehleinschätzung des Illig’schen Ansatzes ausgehenden Abkanzeln andererseits. Und ja: dann ist da noch Prof. Johannes Fried. Er hat sich neuerlich dazu durchgerungen, die Nichtexistenz des Benedikt von Nursia öffentlich zu erklären. Damit “widerlegt” er allerdings nicht Illig, sondern wiederholt im Gegenteil eine These von Illig selbst – und zwar ohne Illig zu erwähnen. Weil er das aller Wahrscheinlichkeit nach wissentlich getan hat (vgl. Illig (2010a)), ist das als unfreundlicher Akt und als Verstoß gegen wissenschaftliche Gepflogenheiten zu werten.

Zwar gab es bei den kalendarischen Reformen manche Rechenfehler und Ungenauigkeiten, doch hat sich die Abweichung von der Einführung des julianischen Kalenders 46 v. Chr. bis 1582 auf 12,48 Tage summiert, und nicht auf 297 Jahre.

Bei diesem hanebüchenen Unsinn schaudert es jeden auch nur halbwegs informierten Leser. Die gregorianische Kalenderreform mit “Rechenfehlern und Ungenauigkeiten”? Welche sollen denn das um Himmels willen gewesen sein? Das Jahrhundertwerk war eine in jeder Hinsicht perfekte Leistung (siehe oben). Man erkennt den Abgrund an Ahnungslosigkeit, der sich im Wissenschaftsteil der Neuen Osnabrücker Zeitung als Wissenschaft präsentieren darf. Fast noch schlimmer ist der Hauptsatz, nach dem sich die “Abweichung von der Einführung des julianischen Kalenders bis 1582 auf 12,48 Tage und nicht auf 297 Jahre summiert” habe. Hier werden Äpfel nicht einmal mit Birnen, sondern mit Birnbäumen verglichen. Der Autor hat ganz offensichtlich nicht nur Illig nicht verstanden, er hat auch keine Vorstellung vom Anliegen der gregorianischen Kalenderreform.

Es führt an dieser Stelle zu weit, die zugegebenermaßen komplexe Sachlage genauer darzulegen. Sie lässt sich aber in jedem Lexikon nachlesen. Hier sei nur Folgendes erläutert: Circa alle 130 Jahre entfernte sich der julianische Kalender um einen Tag vom wirklichen Sonnenjahr, er maß die Zeit im Vergleich zum wirklichen Sonnenjahr zu langsam. Nach 10 x 130 Jahren = 1300 Jahren ging er deshalb um 10 Tage nach. Das war der Zustand im 16. Jahrhundert der gregorianischen Reform. Folglich musste 1300 Jahre früher, also im 3. Jahrhundert, der Kalender noch mit dem Sonnenjahr im Einklang gewesen sein. So behauptet es auch die päpstliche Bulle. Das Problem: der Kalender lief mit aller Wahrscheinlichkeit zur Zeit der Einführung des julianischen Kalenders, also nochmal drei Jahrhunderte früher, ebenfalls mit dem Sonnenjahr parallel. Beides zusammen geht aber nicht, und es ist zu klären, was wirklich der Fall war. Um diese Frage geht es in der Debatte, die längst nicht abgeschlossen ist. Der Physiker Werner Frank hat jüngst eine alte Handschrift des römischen Autors Columella (eines Zeitgenossen des Kaisers Augustus) entdeckt, die Illig bestätigt (siehe Frank (2010)). Bis jetzt haben Gegner der FZT auf diese Entdeckung noch nicht reagiert. Wer – wie unser NOZ-Autor – mitten in einer laufenden Debatte das große Wort “Widerlegung” in den Mund nimmt, müsste sich nun eigentlich fragen lassen, ob nicht vielmehr die traditionelle Mittelalterchronologie widerlegt worden ist.

Auch gibt es Tausende Dokumente aus jener Zeit, die es angeblich gar nicht gegeben hat.

Der Autor berührt hier mit einem einzigen Satz das fast unüberschaubare Problem des exzessiven mittelalterlichen Fälschens, das Historikern bekannt, aber bislang nicht verständlich ist. “Tausende Dokumente” bilden nur einen sehr kleinen Prozentsatz dessen, was tatsächlich gefälscht und pseudepigraphiert wurde. (Man vergleiche dazu etwa die Literatur auf der Homepage der Universität Passau, die hier zusammengestellte gewiss sehr lückenhafte Liste sowie Frage 30 der FAQ zur Phantomzeitthese.) Die Illig-These könnte gerade dazu beitragen, den Umfang und die Motive des mittelalterlichen Fälschens besser zu verstehen. Im übrigen war es der 1986-er Kongress der Monumenta Germaniae Historica über Fälschungen im Mittelalter, der zum Auslöser für die Entwicklung der Phantomzeitthese wurde. (Siehe zu diesem Zusammenhang meinen Beitrag de.wikipedia.org: Erfundenes Mittelalter.)

Und schließlich die Frage nach dem Motiv: Wer würde von diesem 300-Jahre-Betrug profitieren? So wird die Theorie denn auch als Verschwörungstheorie behandelt.

Über das Motiv ist viel geschrieben worden. Der NOZ-Anonymus stellt zwar die Frage, kennt aber offenbar nicht entfernt die Antworten, die bereits versucht wurden. (Siehe für einen – unvollständigen – Überblick die FAQ zur Phantomzeitthese, Frage 21 und Frage 22.) Statt dessen ist für ihn von vorneherein klar, dass jede denkbare Antwort die Phantomzeitthese zwingend zu einer Verschwörungstheorie macht. Das liegt schon in der Formulierung der Frage beschlossen, denn unser Autor kann sich nur das Streben nach dem eigenen Profit als Motiv des Betruges vorstellen. Dass es Menschen gab und gibt, die ihr Leben höheren, etwa politischen oder religiösen Zielen widmen und gleichwohl den Betrug als Mittel nicht grundsätzlich ablehnen, passt nicht in sein Weltbild. Der jedem Mediävisten geläufige Begriff der pia fraus ist ihm ein Fremdwort. Und so muss ihm unverständlich bleiben, dass ein Otto III. als servus Jesu Christi in ein neues Millennium führen wollte (siehe Illig, Wer hat an der Uhr gedreht?, S. 250 ff.) oder dass ein Konstantin VII. mit Hilfe eines fingierten historischen und chronologischen Konstrukts die Feier des Osterfestes reichseinheitlich zu regeln suchte (vgl. Beaufort (2007)).

Im Text folgt nun der oben zitierte abschließende Absatz, der die Phantomzeitthese zur Verschwörungstheorie und damit zur engen Verwandten des Verfolgungswahns stempelt.  Wir haben gesehen, wie dieses Fehlurteil zum einen auf ein komplettes, geradezu grandioses Missverstehen des Illig’schen Anliegens und zum andern auf ein blindes Vertrauen in die Richtigkeit der Wikipedia-Angaben über Illig und die Phantomzeitthese zurückgeht. Für beides trägt der NOZ-Anonymus die Verantwortung. Wofür er nichts kann, ist die erwähnte diffamierende Aussage von Prof. Borgolte über uns, die viel dazu beigetragen hat, dass eine sachliche Auseinandersetzung mit der Phantomzeitthese durch die akademische Mediävistik immer noch aussteht und dass Medienvertreter, die dieser Mediävistik folgen, von vorneherein mit einer verkehrten Einstellung an die Problematik herangehen.

Zu hoffen ist, dass die Neue Osnabrücker Zeitung die hier vorgelegte Kritik ihrer Berichterstattung über uns zur Kenntnis nimmt und daraus Konsequenzen zieht.

Wichtigste im Text zitierte Literatur

Anonymus (2010): Karl der Große nur erfunden? Die bizarre Phantomzeit-Theorie stellt das Mittelalter auf den Kopf. In: Neue Osnabrücker Zeitung vom 14. Mai, Online-Ausgabe

Beaufort, Jan (2002/2009): FAQ zur Phantomzeitthese

Beaufort, Jan (2006): Pseudepigraphie im Mittelalter

Beaufort, Jan (2007): Wer erfindet historische Zeit? Überlegungen zum Motiv der mittelalterlichen Zeitfälschung. In: Zeitensprünge 2/2007, S. 317 – 332

Beaufort, Jan (2008): de.wikipedia.org: Erfundenes Mittelalter. Die Schieflage vor Einführung des “Sichtens”

Frank, Werner (2010): Bemerkungen zur Gregorianischen Kalenderrestitution und zu den Jahreseckpunkten unter Augustus. In: Zeitensprünge 02/2010, S. 457 – 464

Heinsohn, Gunnar (2001): Karl der Einfältige (898/911-923) – Imitator oder Urmuster? In: Zeitensprünge 4/2001 , S. 631 – 661

Illig, Heribert (1996): Das erfundene Mittelalter. Hat Karl der Große je gelebt? München

Illig, Heribert (1999): Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Mittelalter erfunden wurden. München

Illig, Heribert (2006): Karleskes zwischen Aachen und Ingolstadt. In: Zeitensprünge 3/2006, S. 672 – 676

Illig, Heribert (2010a): Fried widerlegt eigene Memorik und missachtet Prioritäten. Auch M. Kerner beginnt zu fiktionalisieren. In: Zeitensprünge 2/2010, S. 465 – 476

Illig, Heribert (2010b): Wikipedia und die Wahrheit. Erfahrungen mit einem Mammutprojekt. In: Zeitensprünge 2/2010, S. 489 – 497

Illig, Heribert (2010c): Zwischen den Kalenderreformen von Cäsar und Gregor XIII. liegen nur 1.330 Jahre

Staas, Christian (2010): Benedikt gab es nicht. Der “Vater des Abendlandes” ist nur eine Kunstfigur des Mittelalters. Das behauptet der Frankfurter Historiker Johannes Fried. Interview mit Johannes Fried. In: Zeit-Online Geschichte vom 16.4.2010

Voigt, Ulrich (2005): Über die christliche Jahreszählung. In Zeitensprünge 2/2005, S. 420 – 454

Wikipedia, Artikel Erfundenes Mittelalter vom 28. Februar 2010, Heribert Illig vom 16. April 2010 und Pia fraus vom 18. November 2009

Die Neue Osnabrücker Zeitung schlägt über die Stränge

Eine in ihrer Abwegigkeit fast gespenstisch wirkende Kritik der Phantomzeitthese hat sich vor einiger Zeit die Online-Ausgabe der Neuen Osnabrücker Zeitung erlaubt. Der betreffende Artikel eines anonymen Autors (der sich nicht einmal mit einem Kürzel zu erkennen gibt) trägt den Titel Karl der Große nur erfunden? sowie den irreführenden Subtitel Die bizarre Phantomzeit-Theorie stellt das Mittelalter auf den Kopf. Der Beitrag erschien in der Reihe Ach So!, die vom gleichermaßen anonym bleibenden Herausgeber vorgestellt wird mit den Worten “Gibt es eigentlich eine Westsee? Kuriose Themen: Unsere Serie ‘Ach So!’ erklärt Ihnen Dinge, die Sie vielleicht schon immer wissen wollten”. Die Serie selbst findet sich im Wissenschaftsteil der Zeitung (Gut zu wissen), hat also durchaus den Anspruch, sachlich über wissenschaftliche Themen und Entwicklungen zu informieren.

Wie es um die Sachlichkeit der Berichterstattung im Artikel steht, werden wir gleich unten sehen. Zunächst einmal sei hier der Grund erwähnt, weshalb er auf unserer Seite überhaupt kommentiert wird. Denn der Autor leistet sich etwas, was einige von uns zwar des öfteren mündlich erleben mussten (siehe z. B. hier), in Schriftform aber Seltenheitswert haben dürfte: er psychiatrisiert uns. Und es hat, bei aller Traurigkeit der offenbaren Entfremdung, die die FZT nicht selten zwischen Menschen bewirkt, durchaus etwas Belustigendes, sich diesen Zerrspiegel einmal vorzuhalten. Der Autor schreibt nämlich, nachdem er klargestellt hat, dass wir Verschwörungstheoretiker seien:

Verschwörungstheorien sind enge Verwandte des Verfolgungswahns. Nach Ansicht von Psychologen sind Personen, die sich in der Welt hilf- und machtlos fühlen, besonders anfällig für Verschwörungstheorien. Sie tendieren dazu, überall neue Muster und Verbindungen zu sehen – auch dort, wo es gar keine gibt..Kontrollverlust wird von der Psyche als extrem starke Bedrohung wahrgenommen. Der energische Versuch, die Kontrolle wiederherzustellen, kann auch die Wahrnehmung der Realität schwer verzerren. Und das kann dann so weit gehen, dass man glaubt, irgendeinen Tag habe es gar nicht gegeben. Oder auch den ganzen Monat und das Jahr nicht und das Jahrzehnt und das Jahrhundert.

Nun wird es unter den Anhängern der Illig-These bestimmt einige geben, die sich “in der Welt hilf- und machtlos fühlen” – wobei nicht ganz einleuchtet, warum sie dieser Umstand allein schon zum Vertreter der These machen würde. Aber wer etwa durch Zeitensprünge-Treffen in der Gelegenheit war, Autoren und Abonnenten der Zeitschrift näher kennen zu lernen, der schlägt sich bei diesem Satz auf die Schenkel vor Lachen. Und wenn er dann weiter liest, wird er kaum noch an sich halten: Unsere als Folge des Kontrollverlusts schwer verzerrte Realitätswahrnehmung habe dazu geführt, dass wir nunmehr glauben, “irgendeinen Tag habe es gar nicht gegeben”. Irgendeinen! Und weil wir mit der Spinnerei nicht aufgehört haben, wurde aus diesem Tag zuerst ein Monat, dann ein Jahr, dann ein Jahrzehnt und schließlich mehrere Jahrhunderte … So stellt sich unser verehrter Anonymus die Entstehung der Phantomzeitthese vor …

Man könnte meinen, dass sich ein Autor, der sich – wie immer anonym – derart weit aus dem Fenster lehnt, wenigstens gründlich über die These informiert hätte, über die er so unbekümmert den Stab bricht. Doch weit gefehlt. Der Artikel ist eine einzige Aneinanderreihung von Missverständnissen und Fehlern. Ganz offensichtlich hat der Autor noch nie eine Zeile von Illig gelesen, geschweige denn verstanden. Stattdessen beruft er sich er sich auf ein in der Wikipedia falsch widergegebenes Zitat von Prof. Borgolte, nach dem Illig ein “Sektenführer” wäre. (Borgolte hat zwar etwas vergleichbar Dummes gesagt, aber das Wort “Sektenführer” ist ihm nicht über die Lippen gekommen. Siehe dazu ausführlich Illig in Wikipedia und die Wahrheit.) Sich blind auf Borgoltes Einschätzung verlassend, kann unser Anonymus dann im oben angeführten letzten Absatz seines Beitrags ohne weitere Rücksichtnahme gegen uns ausholen.

Weil wir hier den häufig auftretenden, also typischen Fall einer Verbindung von vollkommener Ahnungslosigkeit mit bedenkenloser Aburteilung vor uns haben, sei der NOZ-Artikel im Folgenden zur Gänze exemplarisch kommentiert.

Schon der Subtitel trifft die Sache nicht, wie wir oben sahen. Ähnlich ungenau und mindestens zweideutig sind die fett gedruckten einführenden Zeilen, die unser Anliegen zusammenfassen sollen:

Osnabrück. Am 1. Mai 712 war das finstere Mittelalter noch finsterer als ohnehin schon. Diesen Tag gab es nämlich gar nicht. Mehr noch: Es gab auch den Monat und das Jahr nicht, genauso das Jahrzehnt und das ganze Jahrhundert. Das zumindest glauben die Anhänger der Theorie vom erfundenen Mittelalter, auch Phantomzeit-Theorie (oder PHZ) genannt.

Das “glauben” ist zwar nicht ganz falsch, erweckt hier aber den Eindruck, dass wir kritiklos historischen Dogmen anhängen würden – ganz im Sinne der Tendenz des Artikels, der uns das wissenschaftlich-methodische Interesse und Vorgehen absprechen möchte. Korrekt wäre gewesen: Wir halten auf Grund zahlreicher Indizien die Phantomzeitthese für plausibel. Wir verlassen mitnichten den Boden historischer Wissenschaft, in der absolute Sicherheit nun mal nicht zu haben ist. Letzteres gilt für die Phantomzeitthese nicht anders als für die Theorie eines real existierenden Frühmittelalters.

Seltsam ist weiter die angegebene Abkürzung “PHZ” für “Phantomzeit-Theorie”. Wie immer man abkürzt – ob PhZT, PZT, FZT oder ähnlich -, immer ist normalerweise das “T” als Abkürzung von “Theorie” oder “These” mit dabei. Ich kenne nur eine Quelle, die das anders handhabt, und das ist eine ältere Version des Wikipedia-Artikels Erfundenes Mittelalter (zuletzt, so weit ich sehe, am 28. Februar 2010). Dieser Artikel scheint ohnehin die einzige Quelle zu sein, die der Autor benutzt hat. Wie wir oben gesehen haben und hier bestätigt bekommen, erfindet die Wikipedia ihr Wissen über die FZT aber teilweise selbst, entsprechend desinformiert ist dann natürlich auch der NOZ-Autor.

Sie meinen es absolut nicht als Scherz, wenn sie sagen, dass gut 300 Jahre erfunden seien. Konkret soll auf das Jahr 614 das Jahr 911 gefolgt sein. Urheber der Theorie ist Heribert Illig (*1947), der zwar sicher besser rechnen kann, als man jetzt vielleicht denkt, aber von anderen Mittelalterforschern wie dem Mediävisten Michael Borgolte abschätzig als „Sektenführer“ tituliert wird.

Was gut oder nicht gut rechnen können mit dem Titel “Sektenführer'” zu tun hat, wüßte auf Nachfrage vermutlich nicht mal unser Autor selbst, der hier sinnfrei Bezüge herstellt. Zum Thema “Sektenführer” ist oben das Wichtigste schon gesagt worden. Hier vielleicht noch dieses: Andere, objektiver Urteilende, sprechen inzwischen – obwohl gewiss keine Anhänger der FZT – von der Heinsohn-Illig’schen Schule. Hätte Illig irgendwo einen Lehrstuhl, wäre das auch gar kein Thema. Professor Borgolte schart ebenfalls Anhänger um sich, ist aber deshalb noch lange kein Sektenführer. Und traditionelle Mediävisten schließen nach außen die Reihen gegen uns, obwohl es im Innern brodelt; eine “pseudoreligiöse Gemeinde” (so das richtige Borgolte-Zitat über Vertreter der FZT) bilden sie trotzdem nicht.

Illigs Theorie geht so: Die Kalenderreform durch Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 sei aus rätselhaften Gründen extrem fehlerhaft durchgeführt worden.

Dieser Satz offenbart ein totales Misverstehen des Illigschen Anliegens, ist aber leider nicht untypisch für die Art, wie stärker vorurteilsbehaftete Kritiker Illig begegnen. Die gregorianische Kalenderreform ist selbstverständlich keineswegs “extrem fehlerhaft” durchgeführt worden, sie ist im Gegenteil ein genialer Wurf gewesen. Wer sich ein wenig eingehender mit den Problemen befasst, vor denen sich die Kalenderreformer gestellt sahen, kann nicht anders als staunen über Konzeption und Erfolg dieses großartigen Werkes. Das wird von Illig überhaupt nicht in Frage gestellt. (Siehe dazu etwa die Beiträge von Ulrich Voigt in Zeitensprünge 02/2005, S. 420-454, und von Werner Frank in Zeitensprünge 02/2010, S. 457-464.)

Worum es Illig wirklich geht: Gerade das Gelingen der Kalenderreform durch Gregor bringt eine Merkwürdigkeit ans Licht, über die bis vor kurzem viel zu wenig nachgedacht worden ist. Die 10-Tage-Korrektur, die den astronomischen Frühlingsanfang wieder auf den 21. März gesetzt hat, führt rechnerisch zurück auf das 3. Jh. n. Chr. und nicht auf die Zeit Caesars. Damit korrigiert sie den von Caesar eingeführten Julianischen Kalender. Das stellt unter anderem die nicht leicht zu beantwortende Frage, mit welchem Kalenderdatum denn der astronomische Frühlingsanfang (das Frühlingsäquinoctium) im ersten vorchristlichen Jahrhundert zusammen fiel. Indizien und plausibel erscheinende Überlegungen sprechen dafür, dass das der 21. März gewesen sein muss. Dann aber können zwischen Caesar und Gregor XIII. nur ca. 13 und nicht 16 Jahrhunderte vergangen sein. (Neben zahlreichen weiteren Publikationen zu diesem Thema empfiehlt sich die Lektüre des eben genannten aktuelles Beitrags von Prof. Frank sowie Illigs hier auf fantomzeit.de veröffentlichten Artikels Zwischen den Kalenderreformen von Cäsar und Gregor XIII. liegen nur 1.330 Jahre.)

Illig entwickelt daraus die Theorie der fehlenden Jahrhunderte. Genau genommen will er als Differenzzeit genau 297 Jahre berechnet haben, es handele sich um den Zeitraum von September 614 bis August 911.

Auch dieser Satz enthält einen Fehler, denn Illig ist mit Sicherheit nicht durch bloße Berechnung auf die Differenzzeit von 297 Jahren gekommen. Bloßes Rechnen führt auf eine Zeitspanne von 345 ± 64 Jahren (siehe zum Beispiel den eben genannten Illig-Aufsatz). Erst weitere Überlegungen bewegten Illig zur Annahme einer Phantomzeit von 297 Jahren (siehe dazu Frage 12 der FAQ zur Phantomzeitthese).

Geschichtsschreiber sollen sich alle Ereignisse dieser Jahrhunderte später praktisch aus den Fingern gesogen haben, etwa Leben und Wirken Karls des Großen. Alles erfunden?

Die rhetorische Frage suggeriert, dass Illig pauschal behaupten würde, sämtliche Ereignisse der fiktiven Jahrhunderte seien selbst ebenfalls erfunden. So einfach liegen die Dinge aber gewiss nicht. Vielfach haben so genannte Karolingisierungen stattgefunden, das heißt nachträgliches Hineindatieren von früheren und späteren Ereignissen, Schriftquellen, Bauten und anderen materiellen Überresten in die Phantomzeit (am Beispiel Münzen beeindruckend aufgezeigt durch Gunnar Heinsohn).

Die Geschichtswissenschaft betrachtet die These des erfundenen Mittelalters als absurd. Sie ist einfach zu leicht zu widerlegen.

Die These wäre also leicht zu widerlegen. Sie ist wohl so leicht zu widerlegen, dass Mediävisten es bis heute nicht für nötig gehalten haben, es dann auch tatsächlich zu tun. Denn mehr als einige wenig hilfreiche Diskussionsbeiträge, für die das Wort “Widerlegung” nun wirklich zu viel der Ehre wäre, ist von Seiten der Mediävistik bislang nicht gekommen. Die bisherigen Beiträge schwanken zwischen tiefster Verwirrung und Empörung auf der einen Seite bis hin zum arroganten, von einer völligen Fehleinschätzung des Illigschen Ansatzes ausgehenden Abkanzeln andererseits. Und ja: dann ist da noch Prof. Johannes Fried. Er hat sich neuerlich dazu durchgerungen, die Nichtexistenz des Benedikt von Nursia öffentlich zu erklären. Damit “widerlegt” er allerdings nicht Illig, sondern wiederholt im Gegenteil eine These von Illig selbst – und zwar ohne Illig zu erwähnen. Das ist ein unfreundlicher Akt und verstößt gegen wissenschaftliche Gepflogenheiten.

Zwar gab es bei den kalendarischen Reformen manche Rechenfehler und Ungenauigkeiten, doch hat sich die Abweichung von der Einführung des julianischen Kalenders 46 v. Chr. bis 1582 auf 12,48 Tage summiert, und nicht auf 297 Jahre.

Bei diesem hanebüchenen Unsinn schaudert es jeden auch nur halbwegs informierten Leser. Die gregorianische Kalenderreform mit “Rechenfehlern und Ungenauigkeiten”? Welche sollen denn das um Himmels willen gewesen sein? Das Jahrhundertwerk war eine in jeder Hinsicht perfekte Leistung (siehe oben). Man erkennt den Abgrund an Ahnungslosigkeit, die sich im Wissenschaftsteil der Neuen Osnabrücker Zeitung als Wissenschaft präsentieren darf. Fast noch schlimmer ist der Hauptsatz, nach dem sich die “Abweichung von der Einführung des julianischen Kalenders bis 1582 auf 12,48 Tage und nicht auf 297 Jahre summiert” habe. Hier werden Äpfel nicht einmal mit Birnen, sondern mit Birnbäumen verglichen. Der Autor hat ganz offensichtlich nicht nur Illig nicht verstanden, er hat auch keine Vorstellung vom Anliegen der gregorianischen Kalenderreform.

Es führt hier zu weit, die zugegebenermaßen komplizierte Sachlage genauer darzulegen. Sie lässt sich aber in jedem Lexikon nachlesen. Hier sei nur Folgendes erläutert: Circa alle 130 Jahre entfernte sich der julianische Kalender um einen Tag vom wirklichen Sonnenjahr, sie maß die Zeit im Vergleich zum wirklichen Sonnenjahr zu langsam. Nach 10 x 130 Jahren = 1300 Jahren ging sie folglich um 10 Tage nach. Das war der Zustand im 16. Jahrhundert der gregorianischen Reform. Folglich musste 13oo Jahre früher, also im 3. Jahrhundert, der Kalender noch mit dem Sonnenjahr im Einklang gewesen sein. So behauptet es auch die päpstliche Bulle. Das Problem: der Kalender lief mit aller Wahrscheinlichkeit zur Zeit der Einführung des julianischen Kalenders, also nochmal drei Jahrhunderte früher, ebenfalls mit dem Sonnenjahr parallel. Beides zusammen geht aber nicht, und es ist zu klären, was wirklich der Fall war. Um diese Frage geht es in der Debatte, die längst nicht abgeschlossen ist – was nicht zuletzt daran liegt, dass sie von Illig-Gegnern häufig verzerrt dargestellt wird. Der Physiker Werner Frank hat jüngst eine alte Handschrift des römischen Autors Columella (eines Zeitgenossen des Kaisers Augustus) entdeckt, die Illig bestätigt. Eine Antwort von Seiten der an Hochschulen lehrenden Historiker steht noch aus. Wer – wie unser NOZ-Autor – mitten in einer laufenden Debatte das große Wort “Widerlegung” in den Mund nimmt, muss sich nun eigentlich fragen lassen, ob nicht vielmehr die traditionelle Mittelalterchronologie widerlegt worden ist.

Auch gibt es Tausende Dokumente aus jener Zeit, die es angeblich gar nicht gegeben hat.

Der Autor berührt hier mit einem einzigen Satz das fast unüberschaubare Problem des exzessiven mittelalterlichen Fälschens, das Historikern bekannt, aber bislang nicht verständlich ist. “Tausende Dokumente” bilden nur einen sehr kleinen Prozentsatz dessen, was tatsächlich gefälscht und pseudepigraphiert wurde. (Man vergleiche dazu etwa die Literatur auf der Homepage der Universität Passau, die hier zusammengestellte gewiss sehr lückenhafte Liste sowie Frage 30 der FAQ zur Phantomzeitthese.) Die Illig-These könnte gerade dazu beitragen, den Umfang und die Motive des mittelalterlichen Fälschens besser zu verstehen. Im übrigen war es der 1986-er Kongress der Monumenta Germaniae Historica über Fälschungen im Mittelalter, der zum Auslöser für die Entwicklung der Phantomzeitthese wurde. (Siehe zu diesem Zusammenhang meinen Beitrag de.wikipedia.org: Erfundenes Mittelalter.)

Und schließlich die Frage nach dem Motiv: Wer würde von diesem 300-Jahre-Betrug profitieren? So wird die Theorie denn auch als Verschwörungstheorie behandelt.

Über das Motiv ist viel geschrieben worden. Der NOZ-Anonymus stellt zwar die Frage, kennt aber offenbar nicht mal entfernt die Antworten, die bereits versucht wurden. (Siehe für einen – unvollständigen – Überblick die FAQ zur Phantomzeitthese, Frage 21 und Frage 22.) Statt dessen ist für ihn von vorneherein klar, dass jede denkbare Antwort die Phantomzeitthese zwingend zu einer Verschwörungstheorie macht. Das liegt schon in der Formulierung der Frage beschlossen, denn unser Autor kann sich nur Profitgier als Motiv des Betruges vorstellen. Dass es – zumal im Mittelalter – Menschen gab und gibt, die ihr Leben höheren, etwa politischen oder religiösen Zielen widmen und gleichwohl den Betrug als Mittel nicht grundsätzlich ablehnen, passt nicht in sein Weltbild. Der jedem Mediävisten geläufige Begriff der pia fraus ist ihm ein Fremdwort.  Und so muss ihm unverständlich bleiben, dass ein Otto III. als servus Jesu Christi in ein neues Millennium führen wollte (Illig, <>) oder dass ein Konstantin VII. mit Hilfe eines fingierten historischen und chronologischen Konstrukts die Feier des Osterfestes reichseinheitlich zu regeln suchte (Beaufort, <>).

Im Text folgt nun der oben zitierte abschließende Absatz, der die Phantomzeitthese zur Verschwörungstheorie und damit zur engen Verwandten des Verfolgungswahns stempelt.  Wir haben gesehen, wie dieses Fehlurteil zum einen auf ein komplettes, geradezu grandioses Missverstehen des Illig’schen Anliegens und zum andern auf das